Wolff,
^.Die Bedeutung des
ästhetischen Kultur für die
Humanität
Die Bßdeiilung der äslheliscIieD Kulliir
liir
iliEiiiiiiaBitäU
Inaugural- Dissertation
der
pliilosophiscilen ^P'akultät
der
Universität
Jena
Erlangung'
derDoktorw^de
/[\pbn q
,W
'^'vorgelegt von \^ ''^
960
yj
aus Düsseldorf.
JENA
1905Universitätsbuchdi'uckerei G. Neuenhahii
Genehmigt von der philosophischen Fakultät der Univer- sität Jena auf Antrag des Unterzeichneten.
Jena,
den 17. Dezember 1904.Professor Dr. Eiicken,
(1. Zt. Dekan.
Einleitung.
Gegenüber der häufig einseitigen Ueberschätzung der in- tellektuellen Kultur, die in unserem Zeitalter der Naturwissen- schaft und Technik leicht erklärlich ist, fehlt es nicht an Ver- suchen, die den zersetzenden Einfiuss dieser Ueberschätzung zu
hemmen
und aufzuheben suchen.Während
auf der einen Seite die Reaktion einer religiösen Kultur sich besonders für die konservative Haltung der Volksmasse heilsam erweisen soll,sucht
man dem
Uebel in den gebildeten Ständen, die der Religion enthoben zu sein glauben, durch eifrige Pflege ästhe- tischer Kultur zu steuern.Da
diese jedoch in der letztenZeit unterdem
Einfiuss einer oft wenig ästhetischen Kunstund
Literatur die Ehre ihresNamens,
geschweige ihres Wirkens, wenig zu. wahren weiss, vielmehr den zersetzenden Einfiuss der überspannten intellektuellen Kultur eher fördert alshemmt,
so legt uns das ,Quousque tandem?', das heutzutage aus den verschiedensten Lagen ertönt, die Frage nahe, ob der Einfiuss der vielgepriesenen ästhetischen Kultur wirklich von ent- sprechender Bedeutung ist. Mit
welchem
Masstab aber sollen wir diese Bedeutung messen in einer Zeit, deren Wort- führer die ,,Umwertung
aller Werte"^) verkündet?Immer-
hin bliebe diese
Umwertung
an die Tatsacheund
das Gesetz der menschlichen Natur gebunden, das nie lange ungestraft verletzt bleibt, und somuss
ein durch die Zeitmeinungen un- beirrter Blick vor allem die Bedeutung der ästhetischenKultur1) Vgl. Nietzsche, Jenseits von Gut und Böse; Genealogie der Moral etc. Der Wille zurMacht. Versuch ciuei'Umwertung allerWerte.
1*
—
4—
innerhalb der Grenzen der menschlichen Natur, kurz ihre Be- deutung für die Humanität zu erspähen suchen^).
Dass der Massstab der Humanität durch die Weite und Fülle des Begrififes vor
dem
sonst allein beliebten oder ver- worfenen Prüfstein der Moral den Vorzug verdient, leuchtet ohne weiteres ein; wir müssenjedoch,wenn
wir denHumanitäts-begriflf für den der Moral einsetzen wollen, seine Tauglichkeit durch kurze Darstellung seiner Tradition zu erproben suchen.
Vom
lexikalischen Gesichtspunkt bezeichnet humanitas ausser ,,Menschenfreundlichkeit" (mit den mannigfachen An-wendungen
dieser Gemütsrichtung) den Sinn für geistige In- teresssen, wie er einem rechtenMenschen
nach seinem aus- zeichnenden Gattungscharakterzukommt,
und die aus derBewährung
dieses Sinnes hervorgehende Bildung2). Diese beiden Richtungen der Humanität, die im Ausgang des klassi- schen Altertums (nachSchneidewin
besonders beiCicero) zum
ersten Mal im vollenUmfang
ihrer Tragweite hervortreten, finden im weiteren Verlauf der Geschichte zunächst eine ein- seitige nach gegenseitiger Ablösung drängende Ausgestaltung.Während
die soziale Seite der „Menschenfreundlichkeit"in der mittelalterlichen Kulturentwicklung in einseitiger Weise zur Entfaltung
kommt,
tritt im Zeitalter der Renaissance das Interesse allumfassender Bildung in den Vordergrund.Nach
langer Pause in den humanistischen Interessen blieb es dann den Geistesheroen unsererklassischen Literaturperiode vorbehalten, die „schöne Menschlichkeit"und
somit die uns vor allem interessierende ästhetische Kultur zu voller Geltung zu bringen.Herder und Schiller
sind ihre Hauptvertreter;
1) Vgl.
Schneidewin,
Die antike Humanität, 1897, S. 492. „Die Gesinnung, dass die immerf'ortige Veränderung, das unabsehbaren Fort- schreiten die einzige Pointe des Menschenlebens sei, vergisst, dass das ganze Treiben des höchsten Geschöpfes unseres Planeten ein für alleMal von ein und demselben Rahmen umspannt sein muss, den Grenzen der menschlichenNatur,mögen sich diese auch, da die menschliche Natur nur langsam ihre Tiefen ausmisst, elastisch weit hinausdehnen".2) Vgl.
Sehn
eidewill, a. a. O. S. 31, 37.Zum
gesclüchtlichen Ueberbück, S. 409 f.das Verständnis und die richtige
Würdigung
sowohlHerder's
wie
Schi
11er's ist jedoch nur unter BerücksichtigungKan
t's, ihres beiderseitigen Lehrers, möglich.In der folgendenUntersuchung sollen uns nun statt eigener psychologischer Experimente Kant's,
Herder's
und Schiller's Ansichten über unserThema
beschäftigen, weil in ihnen die Frage nach der Bedeutung der ästhetischen Kultur für die Humanität eingehendste Beantwortung findet.Ohne
uns vorher auf einen geschichtlichenRückbHck
über die Behandlung unseres Problems (im griechischen Altertum, im christlichen Mittelalter, während der Renaissancezeit etc.) i) einzulassen, wollen wir einleitungsweise nur bei den direkten Vorgängern vonKant, Herder
undSchiller
in Kürze ver- weilen.Im
18. Jahrhundert traten nämlich zunächst in Eng- landShaftesbury, Hutcheson
undHome
als Vorkämpfer der ästhetischenKulturauf,während
derEinfluss derselben in Frank- reich vondem
kulturfeindlichenRousseau
2) kritisch geschätzt wurde.Da
übrigensin den,Elementsofcriticism' (1762)vonHome
zugleich die wichtigsten Ideen seines Lehrers
Shaftesbury und
seines VorgängersHutcheson
in ähnlicher oder wenig modifizierter Weise vorliegen3), so können wir unsum
so ehermit einer Skizzierung der für die deutschen Aesthetiker wichtigen Stellungnahme
Home's
begnügen, als dadurch der auf Vermittlung drängende Gegensatz vonHome
undRousseau um
so deutlicher hervortritt. Dass aber dieser Gegensatz nicht eine müssige Konstruktion ist, sondern schon den Zeit- genossen bewusst war,mag
im voraus folgende Stelle ausdem
Vorbericht der ersten deutschen Uebersetzung von
Home
be-1)
Eucken,
Geistige Strömungen der Gegenwart. 1904, S. 320 bis 323.2) Vgl.
ßenrubi,
J. J.Rousseau's ethisches Ideal bes. II. Stellung zur Kunst; über dasHumanitätsprinzip als denAusgangspunktRousseau's vgl. Abschn. V. Langensalza.3)
Neumann,
Die Bedeutimg Home's für die Aesthetik und seinEinfluss auf die deutschen Aesthetiker. Diss. Halle 1894.
—
6—
weisen : ,,Ini Laufe dieser Untersuchungen sieht
man
beständig eine reizende Verbindung der Kritik(=
Aesthetik) mit der Moral,—
die bisher sehr oft wiederholt worden, aber die noch nie so viel Lichtbekommen
hatte, als der eigensinnige und beredteRousseau dem
entgegengesetzten paradoxen Irrtume gegeben."Bei einer kurzen Charakteristik
Home's
in seiner Stellung zu unserer Frage lassen wir ihn selbst sprecheni): „Die Wissenschaft der Kritik zielt nicht weniger auf die Besserung des Herzens als auf die Besserung des Verstandes. Ein richtigerGeschmack
in den schönen Künstenmacht
dasTem-
perament sanfterund
harmonischer, und wird dadurch ein mächtiges Gegenmittel wider dieGährung
der Leidenschaftenund
die Heftigkeit der Bestrebungen. Ich behaupte mit einer völligenUeberzeugung, dass keineBeschäftigung einen Menschenmehr
an seine Pflichten bindet als die Kultur desGeschmacks
in den schönen Künsten. Ein richtiger
Geschmack
von dem- jenigen, was in Schriften oderGemälden
, in der Architektur oder im Gartenbau schön, richtigund
zierlich ist,was
wirklich verschönert, ist eine vortrefflicheVorbereitung,um
unterscheiden zu lernen, was in Charakternund
Handlungen schön, ange- messen, zierlichund
grossmütig ist . . ."Wenn
wirum
eineBegründung
dieserL'eberzeugung,wonach
die ästhetische Kultur sowohl eine grundlegende wie ausgestaltende Bedeutung für die Humanität hat, verlegen sind, so verweist unsHome
—
übrigens mit ähnlicherMethode
wieShaftesbury und Hutcheson^) —
auf die Tatsachen der menschlichen Natur, vor allem auf dieAehnlichkeitenund
Gegensätze in den ,emotions' und ,passions', deren eingehende Erörterung einen Hauptteil seines analytischen W^erkes bildet. „DerGeschmack
in den schönen Künsten geht der moralischen Empfindung zur Seite, der er in der Tat nahe verwandt ist. Sie haben ihre Wurzelin der menschlichen Natur
und
werden durch Grundsätze be-1)
Home,
Grundsätze der Kritik. 1763, 3 Bde., I, 7/8, 12. 14.2) Vgl. Shaftesbury, Ueber Verdienst und Tugend (übers, v.
Diderot), 1780.
Hutcheson,
Abhandlung üljor die Natur und Be- herrschung der Leidenschaften. . . 1760.—
7—
stininit, lue allen Menschen geraein sind"'
—
also gibt unsHome
eine psychologisclie Grundlegung besagter Ueb(;rzeugung, auf die er auch noch in seinem Schlusskapitel„Von
der Regel desGeschmacks"(Standard oftaste)zurückkommt
(vgl. III,427f.).Und
wie verhält sich nunRousseau,
dessen Emile übrigens in demselben Jahre 1762 wieHome's
,Elements of criticism' erschien, in seinen Urteilen über denWert
der ästhetischen Kultur? Indem
Abschnitt „Bildung desGeschmacks
als Grund- lage des ästhetischen und sittlichen Urteils" spricht er zwar ziemlich massvoll über denWert
der Kunsti): „Ich führe ihn (Emile) zu den Schauspielen, nichtum
die Sitten, sondernum
den
Geschmack
zu studieren; denn dazeigt er sich denMenschen, die nachzudenken wissen, ganz besonders. Lebensregelnund
Moral musst du nicht beachten, sage ich zu ihm; denn dasmuss man wo
irgend anders lernen." Jedoch erscheint uns diese pädagogische Maxime, d. h. die Trennung des ästhetischen und sittlichen Urteils, als einAusfluss vonRousseau
's Skepsis gegenüber der zeitgenössischen Moral, die auch sonst im Emile reichlicheVerwendung
findet. Ein weniger missverständlichesWort
über den gleichen Gegenstand findet sich in einem BriefRousseau'
s and'Alembert:
„Das Theater, das zur Ver- besserung der Sitten nichts vermag,vermag
viel zur Schädigung derselben.—
Die fortwährende Aufregung, in die es uns versetzt, entnervtund
schwächt uns undnimmt
uns die Fähigkeit, unseren Leidenschaften zu widerstehen; das unfruchbare Interesse, dasman
an derTugend
nimmt, schmeichelt nur unserer Eigenliebe, ohne uns zu zwingen, dieTugend
zu üben."Den Höhepunkt
und die Verallgemeinerung dieser fürRousseau
bezeichnenden schroffen Stellungnahme zur ästhe- tischen Kultur finden wir indem
preisgekrönten 1. discours sur les sciences et les arts (1750)2), ausdem
ich vorläufig nur1) Vgl.
Rousseau,
Emile IV, § 450f Uebers. v. Sallwürk, S.469.2) Vgl. das Urteil von
Höffding,
Rousseau, Klassiker der Philos.IV, S. 10: „DieAbhandlungistschwachinderBegründungund rhetorisch
in derForm. Sie hat aber eine grosseWirkung geübt durch die
Wärme
und Begeisterung, mit der sie geschrieben ist."die Stelle ,Le goiit du faste ne s'associe guere dans les
memes ames
avec celui de l'honnete^) anführe. So sehen wir, dassRousseau
zu dieser Frage nach der Bedeutung der ästhe- tischen Kultur eine durchaus negative Stellung einnimmt^j.Nach
dieser—
zur geschichtlichen Einführung in unser Problem genügenden—
Charakteristik vonHome
undRous- seau
empfiehlt es sich zunächst, den Einfluss beider ebenso anregenden wie bahnbrechenden Naturen aufKant, Herder
und
Schiller
inkurzem
Ueberblick anzudeuten; einzelne Parallelen gedenken wir den betreffenden Abschnitten in der Darstellungund
Beurteilung unserei deutschenGewährsmänner
vorzubehalten.Auf
Kant
habenHome
wieRousseau
sowohl in der vorkritischen wie in der kritischen Periodeeingewirkt.Während
in der vorkritischen Periode die Einwirkung
Home's
auf eine Fülle loser „Beobachtungen" hinausläuft, undRousseau'
s Ein- flussnur vereinzelt hervortritt,habenwirinderkritischenPeriodeKant's
die Verwertung bestimmter analystischer ErgebnisseHome's
(Subjektivität, Interesselosigkeitund
Allgemeingültig- keit des Geschmacksurteils (vergl.Home
a. a. 0. I, 58. 305.317) zu verzeichnen,
während Rousseau
sowohl auf den Ent- wicklungsgang derKant'
sehen Ethik3) wie auf die Stilistikvon
Kant's
Aesthetik gewirkt zu haben scheint.1) euvres deJ. J.Rousseau,Amsterdam1769, T. I,28
—
übrigens eine Grundüberzeugung, die durch die reponses auf verschiedene refu- tations manche Variation erfuhr. Vgl. auchHoff
ding, S. 14.2) D. h. soweit diese durch den
Kampf
gegen die verderbten Zu- stände seiner Zeit bedingt ist. Vgl. dazu Benrubi, a. a. 0. VI, S. 129.„Nicht die Kunst überhaupt bekämpft er, sondern nur diejenige, die im Widerspruch mit der N;;tur steht. . . . Trägt sie dagegen zur Stärkung des ganzen Menschen bei, sonennt Rousseau eine solcheKunst natürlich und arbeitet nach Kräften, eine solche zustande zu bringen".
3) Vgl.
Hoff
ding, a. a. 0. 2 A., 1902, S. 114—116, Anm.: „Es müssen zwei Zeitpunkte statuiert werden, in denen Kant von Rousseau beeinflusst worden ist, der ersteum
1762, als der Emile erschien, der zweiteum
1783(bes. der eontratsocial etc.)". Vgl.auchBenrubi,
Ueber Rousseau's Stellung zum Eudämonismus, a. a. 0. S. 133 f.—
9—
„Was Herder
anlangt, so ist ja dessen jianzesLeben
eine Verwirklichung der
Home'schen
Forderung, den Schön- heitssinn in den Dienst der Humanität zu stellen, er erwähnt ihn sogar gelegentlich in der Streitschrift „Kalligone gegenKant —
"^); daneben istHerder's
Berührung mitRousseau
so offenkundig, dass wir uns die später zu er- örternden ästhetischen PreisschriftenHerder's
gar nicht ohneRousseau
zu denken vermögen."Und
endlichSchiller?
Die ,Elements ofcriticism' scheint erstim Verlaufseiner „kantischen Periode"^) eines eingehenden Studiums gewürdigt zu haben—
wofür besonders in derAb-
handlung „UeberAnmut und Würde"
beredte Zeugnisse vor- liegen; dagegen istRousseau's
Einfiuss schon in Schiller's vorkantischen Periode in den Abhandlungen über das Theater deutlich sichtbar, wie uns auch noch inder kantischen Periode(z. B. in den geschichtlichen Reflexionen aus den Briefen „über die ästhetische Erziehung" etc.) viele Anklänge an
Rousseau
vernehmbar erscheinen.
Indem
wirnunmehr
zu nähererWürdigung
unserer deutschenGewährsmänner
übergehen, müssen wir beiKant,
wie schon angedeutet, seine vorkritischeund
seine kritische Periode unter- scheiden, wobei wir uns für unsernZweck
damit begnügen können, aufKant's Hauptwerk
„Kritik der reinen Vernunft"(1781) als die Grenzscheide dieser beiden Perioden hinzuweisen.
Am
Schluss der aus der vorkritischen Zeitstammenden
ästhe- tischen Schrift „Beobachtungen über das Gefühl des Schönenund
Erhabenen" (1764)^) fasstKant
nach einem— mehr
originalen als eingehenden
—
Ueberblick über die Geschichte des Geschmacks, der höchstens in der Charakteristik der römi- schen Kaiserzeit mit ihrer Entartung anRousseau
erinnert,die Bedeutung der ästhetischen Kultur für die Humanitätdahin
1) Vgl.
N
eum
a nn, a. a. 0. S. 33.2) Vgl. Brief Schiller's an Körner vom 11. Jan. 1793.
3) Die nach ihrem Titel auf die Schrift des Engländers
Barke
(Philosophical inquiry into the origin of our ideas of the Sublime and Beautiful 1757) hinweist; die deutsche Uebersetzung dieser Schrift von 1773 wird von
Kant
auch in der „Kritik der Urteilskraft" § 29 citiert.^
10—
zusammen
: „So sehen wir in unseren Tagen den richtigen Ge-schmack
des Schönenund
Edlen sowohl in den Künsten und Wissenschaften als in Ansehung des Sittlichen aufblühen, undes ist nichts
mehr
zu wünschen, als dass der falsche Schimmer, der so leichtiich täuscht, uns nicht unvermerkt von der edlen Fjnfalt entferne— —
, damitnichtalle Feinheit auf das blosseund
flüchtige Vergnügen hinauslaufe, dasjenige, was ausser uns vorg3ht, mitmehr
oder wenigerGeschmack
zu beurteilen"i)."Während hier die optimistische Betrachtung
Home's
und die pessimistischeRousseau
's (vgl. 1. discours) in eigenartiger Mischung erscheinen, überwiegt im ganzen der EinfiussHome's,
besonders an einer Stelle,wo Kant
das ästhetische Gefühl geradezu zurBegründung
der Moral bzw. Humanität benutzt:„Die Grundsätze (aufwelche allein die
Tugend
gepfropft werden kann) sind nicht spekulative Regeln—
dieum
somehr
in der kritischen Periode zur Geltungkommen —
sondern das Be- wusstsein eines Gefühls, das in jedem menschlichen Busen lebt— — —
des Gefühls von der Schönheitund Würde
der menschlichen Natur"2). BeiHome
lautet die betreffende Stelle:„Ein lebhaftes Gefühl von
Würde und
höherer Vortrefflichkeit ist ein überaus wirksamer Reiz zurAusübung
edlerund
gross- mütigerHandlungen"3), DieserKant
mitHome
gemeinsame Standpunkt, der eineBegründung
der Humanität durch ästhe- tiüche Kultur für möglich hält, lässt sich ja entschieden an- greifen, schon durch Hinweis auf die vonRousseau
betonten Gefahren dieser Kultur, die sie als wenig genügendes Funda-ment
der Humanität erscheinen lassen; daKant
jedoch diesen Standpunkt, wie wir sehen werden, in seiner kritischen Periode verlässt,um
zu einer weniger optimistischen Betrachtungsweise fortzuschreiten, so können wir von einerweiterenKritik absehen.Uebrigens führt die vorübergehende Ueberzeugung von der Zulänglichkeit einer ästhetischen
Begründung
der MoralKant
zu der reizvollen Untersuchung, die Empfindungen des Schönen
1) Vgl. Ausg. von
Rosenkranz
u.Schubert,
SW. IV, 462/463.2) Vgl.
Kaut,
a. a. 0. S. 412.3) Vgl.
Home,
a. a. 0. I, 82.—
11—
und Erhabenen in verschiedenen Abschnitten an den Tempera- menten, in
dem
Gegenverhältnis beider Geschlechter und an den wichtigstenNationalcharakteren nachzuweisen^).Wie
er be- züglich derTemperamente dem
Sanguiniker grössereEmpfäng-
lichkeit für das Schöne,
dem
Melancholiker stärkeres Gefühl für dasErhabene desMenschenlebens zuschreibt, sobetont er für das auch vonHome
häufig gestreifte ,,Gegenverhältnis beider Geschlechter"Rousseau
's Ideal der natürlichen Erziehung, das auchEerder und Schiller
begeisterte. „AlleBemühung
niuss die sittliche Vollkommenheit des einen oder des anderen Geschlechtes befördern,
wo man
nicht den reizenden Unterschied unkenntlichmachen
will, den die Naturzwischen zwei Menschen- gattungen hat treffen wollen."Nacb
ähnlicherMaxime
müsse endlich die ästhetische Nationalerziehung erfahren, die mit den natürlichen Vorzügenund
Eehlern des einzelnen Volkes zu rechnen habe.Kaut's
„Beobachtungen überdas Gefühl des Schönenund
Erhabenen", die vonSchiller
als anthropologische Unter- suchung hochgeschätztwurden
2), Avaren auch die Lieblingsschrift seines SchülersHerder. Im
Hinblick auf sie istihm Kant
..ganz ein gesellschaftlicher Beobachter, ganz ein gebildeter Philosoph, ein Philosoph der
Humanität und
in dieser mensch- lichen Philosophie einSbaftesbury
Deutschlands"'^).Neben
der hier angedeuteten Begeisterung fürSbaftesbury,
die auch an anderen Stellen vonHerder
bezeugt wird,kommt
für das Verständnis seiner Anschauungen in
hohem
Masse die Einwirkung vonRousseau
in Betracht. Ereilich, „wir sind allmählich wieder von H.Hettner's
Uebertreibung des Ein- flusses vonRousseau
aufHerder
zurückgekommen, wir wissen, dass viel tiefgreifenderund
dauernder der Einfluss vonKant und Hamann
war'^), vgl.Haym,
a. a. 0.: „Irren wir1) Dieser
—
die Humanität ausgestaltende—
Wert der ästhetischen Kultur dürfte weniger anfechtbar sein.2) Vgl. Briefwechsel zwischen Goethe und Schiller. Coli. Spe-
m
ann I, 52.3) Vgl.
Haym,
Herder I, 36; auch S. 49, 51.4) Vgl.
B
aum
garten, J.G.Herder (Art. in Hein,Encykl.Handb.d. Päd.). Bd. III, S. 664.
—
12—
nicht, so ist das zu weit gehende dieser Behauptung auf die Verwechslung zurückzuführen, dass auch dasjenige als bildender Einfluss in Anspruch
genommen
wird, was nur ursprüngliche Verwandtschaft, nur Aehnlichkeit der Empfindungs-, Denk- und Wirkungsweise beiderMänner
ist oder gar nurdem
genius epideraicus der ganzen Zeit angehört."Demgemäss
können wir die für das Verhältnis zuKant
gebräuchliche Scheidung vonHer der
'S Anschauungen in die der vorpolemischenund
polemi- schen Periode beibehalten, zumal dadurch die anfänglicheUeber- einstimmung unddie erstnachdem
kritischenUmschwung
Kant'simmer mehr
hervortretende Entgegensetzung der Ansichtenam
besten gekennzeichnet wird, vgl.
Kronenberg
^): „Die philo- sophische EntwicklungH
erder
's beginnt unter der Einwirkungund
der stärksten Anhänhigkeit vonKant,
derihm
später gegen dasEnde
seines Lebens als der grössteGegner erscheinensollte.
Die Grundlage nun für
Herd
er's Ansichten über unser Problem in seinervorpolemischen Periode bildet sein ,,Grundriss der Aesthetik", wie es im vierten ,,kritischen Wäldchen"vom
Jahre 1769 vorliegt.Durch
die hier—
im GeisteShaftesbury's —
versuchte psygologischeBegründung
der Aesthetik gewinnt auch erst die ästhetische Erziehung ein sicheres Feld ihrer Tätigkeit, wie diesHerder
zu gunsten einer „Seele voll griechischen Gefühlsund
griechischer Philosophie"am Ende
des zweiten Teiles ausführt2).Diese .,griechische Philosophie" verkündete
Herder
übrigens schon 1765 in seiner ersten Kigaer Schulrede„Von
der Grazie in der Schule3), indem er nachweist, dass nur die ästhetische Erziehung „Liebe zu den Wissenschaften, zurTugend und
Grundsätze zu leben einÜösst".1) Vgl.
Kronenberg,
Herder's Philosophie 1889, S. 13, auch S. 21/22.2) Vgl.
Kühnemann,
Herder's Persönlichkeitins. Weltanschauung 1893, S. 19 f.3) Vgl. SW. von
Suphan, XXX;
neuerdings Ausg. der „Schul- reden" bei ßeclam, S. 6.—
13—
Diese Schulrede enthält auch einen Hinweis auf
Shaftes- bury,
auf „<lonReiz, den derselbe seinen N'irtuosen der Weisheit, derTugend
und desGeschmacks
zueignet"—
wie denn über- hauptShaftesbury's
Bedeutung, besonders in ästhetischer Hinsicht,vonHerder am
trefflichstengekennzeichnetwordenist^j.Aus
der vorpolemischen Periodekommen
für unserThema
ausserdem folgende drei ästhetische Preisschriften in Betracht:1) Ursachen des gesunkenen
Geschmacks
bei den ver- schiedenen Völkern, da er geblühet, 1773;2) Ueber die
Wirkung
der Dichtkunst auf die Sitten der Völker, 1778;3) Ueber den Einfiuss der schönen in die höheren Wissen- schaften, 1781.
Während Herder
in den beiden ersten Schriften unter starkem Einfiuss vonRousseau's
ersten discours unserThema
historisch beleuchtet, zieht er in der letzten Schrift aus einer psygologischen Betrachtung die pädagogischen Konse(|uenzen.
Dem
historischen Ueberblick über die Ursachen des ge- sunkenenGeschmacks
schicktHerder
in der ersten Preisschrift zwei für seine Uebereinstimmung mitRousseau
bezeichnete Thesen voraus:
1)
Geschmack
undTugend
ist nicht einerlei;2)
Geschmack
sollte das Bildund
Kleid derTugend
sein;wo
sie gar nicht ist, da ist auch ihr Bildund
Kleid nichtmehr
kenntlich.Dieletzte These erinnert direkt an
Rousseau's
elegischen Ausruf: Qu'il seroit douxde vivre parmi nous, si la contenance exterieure etoit toujours l'image des dispositions du coeur;die erste an ,1a vertu ne
marche
gueres en si grande pompe'^).Auch
der diesenVorbemerkungen
folgende Ueberblick über die Blütezeiten desGeschmacks
hatinRousseau's
Expecto- rationen sein Vorbild; nur behandeltH
e rder
teilweise andereEpochen
und berücksichtigt ausserdem
griechischenund
römi- schenGeschmack
noch die Zeitalter der Mediciund Ludwig
XIV;1) Vgl.Spicker, Die Philosophie des Grafen vonShaftesbury 1872.
2) Vgl. eures I, 11.
—
14—
in ersterem habe das Bedürfnis an gutem
Geschmack
gefehlt, in letzterem habe der Gesellschafts-und
Hofgeschmack den Ruin herbeigeführt.—
Selbst dieser und der folgenden histo- rischen Abhandlung fehlen die pädagogischen Konsequenzennicht, worüber
Haymi)
die summarischeBemerkung
macht:„Es fehlt keiner der
Herder
'sehen Schriften anpädagogischen Reflexionen; sie schliessen sich bei ihm, der von früh auf ein lehrendLernender gewesenwar,ungezwungen an seineGeschichts- ansichten, seine theologischen, seine ästhetischen Ueberzeug- ungen."Für
unserInteressebesonders wichtig ist die Folgerung:,,Wie schwer die Bildung des
Geschmacks
in einem verderbten Zeitalter werde, ist unsäglich. DerGeschmack
wird uns alsoimmer
eine subordinierte Sache bleiben müssen, die höherer Ursachenwegen
aufgeopfert werden muss."Dass
Herder
somit der ästhetischen Kultur keine grund- legendeBedeutung für dieHumanitäteinräumt, wird nochklarer aus seinerweiteren Schlussfolgerung:„Da
Freiheitund Menschen- gefühl doch allein der Himmelsäther sind, indem
alles Schöneund
Gute keimt, ohne den es hin ist: so lasst unsmehr
nach diesen Quellen desGeschmacks
als nach ihm selber streben".DieErgänzung zu diesem negativen Ergebnis bietet
Herder
in der folgenden Preisschrift „Ueber die
Wirkung
der Dicht- kunst auf die Sitten derVölker2),wonach
die ästhetischeKultur wenigstens für die Ausgestaltung der Humanität geeignet er- scheint3).—
In dieser Hinsicht betontHerder: „Dann
ist die Dichtkunstam
wirksamsten,wenn
sie wahre Sitten, lebendige Natur darstellt; sind die Sitten gut, stellet sie die lebendige Natur zu gutenZwecken
dar, so kann sie auch gute Sitten wirkenund
lange erhalten"^).Im
Uebrigen werden in dieser Preisschrift die einseitigen AnsichtenRousseau's
über griechische und römische Kunst1) Vgl.
Haym,
Herder I, 660/61.2) Die Preisschriften s. bei
Suphan
SW., Bd. 8 u. 9; auch in der Ausgabe von Reclam.3) Vgl. H. Vesterling, Herder's Huraanitätsprinzip, 1890, S. 17.
4) Ueberdieeigentümliche,pädagogischeStilartHerder'svgl.V>aiim- garten, a. a. 0. S. 607.
—
15—
ergänzt und ausserdem günstige Urteile über die
Wirkung
der hebräischen und christhchen Poesie ausgesprochen.In vorwiegend psychologischer Weise wird endlich unser
Thema
inHerder's
dritter Preisschrift „Ueber den Einfiuss der schönen in die höheren Wissenschaften" behandelt.Während
in den geschichtlichen Abhandlungen der negative bzw.positiveWert
der ästhetischen Kultur getrennt zurGeltung kam, werden hier beide Werte vor dasForum
der Humanität gezogen.Im
GeisteShaftesbury's
beginntHerder:
„Die höchste Wissenschaft ist ohne Zweifel die Kunst zu leben";aber er fährt dann fort: „wie
manchen
haben seine schönen Wissenschaftenum
diese einzige, die göttliche Kunst gebracht."Nach
eindringlicher Schilderung dieses bedauernwerten Missbrauches der schönen Wissenschaften, die auch wieder im GeisteRousseau
's gehalten ist, betontHerder
denwahren Wert
der schönen Wissenschaften i), die als ,Humaniora' das Gefühl der Menschlichkeit in uns bilden sollen. Hierzu bemerktKühnemann
2):„Was Herder
als Erzieher denMenschen
zu sagen hat, kann er unter seinem Begriff der Menschlichkeit zusammenfassen. Nirgends wird die Kunst rein in sich be- trachtet, sondern überall in ihren Beziehungen zu anderen Kulturelementen".—
Anders, wie wir sehen werden,Kant.
Bevor wir jedoch zu
Kant's
ästhetischen Ansichten in seiner kritischen Periode übergehen, beschäftigen uns nochSchiller
's Anschauungen über dieBedeutung der ästhetischen Kultur aus seiner vorkantischen Periode.Wenn
wir auch ihn hier hauptsächlich unterdem
Eintiuss der Engländerund Rousseau'
s finden, so werden wir doch schon inbezug auf diese ZeitKuno Fischer^)
Recht geben müssen: „Ein wahlverwandterZug
hatSchiller
unter den Einfiuss derKant'schen
Philosophie geführt. Erwar
in dieser neuenund
ungewöhnlichen Vorstellungsweise schnell einheimisch, weil er aus eignerund
selbstgebildeter Ueber-1) Uebrigens ein Lieblingsthema Herder's, das er später noch in zwei Weimarer Schiüreden (1782 u. 1788, vgl. a. a. ü.) behandelte.
2) Vgl. a. a. O. S. 97.
3) Vgl.
Kuno
Fischer, Schiller als Philosoph 1858, S. 15.—
16—
Zeugung mitihr verwandt
war
und sie eigentlich schon inkognito kannte . . .Das
moralische Ideal lebte auch inSchi
11er's Seele, schon bevor er die Formel des Philosophen kannte."Neben
dieser Wahlverwandtschaft zwischenKant
und Schiller besteht allerdings auch von vornherein eine Grund- verschiedenheit der Interessenund
Methoden.Wurde Kant,
wie wir später sehen werden, durch ein rein wissenschaftliches, syste- matisches Interesse zu eingehender Beschäftigung mit ästheti- schen Fragen geführt, so tratSchiller,
wie wir aus seinem philosophischen Gedicht „Die Künstler"i) ersehen, mitdem
menschlich-persönlichen Interesse an die ästhetische Forschung heran, die Aufgabe des Künstlers in der sittlichen Welt zu er- gründen, wofür auch schon seine beiden Jugendabhandlungen über die moralischeWirksamkeit des Theaters beredtesZeugnis ablegen.
— Während
ferner bezüglich derMethode Kant
wie in seinerübrigen kritischenPhilosophie so auchin der Aesthetik dietranscendentaleMethode
anwendet,dieinlogischerDeduktion'^) die allgemeinen Bedingungen der ästhetischen Erfahrung unter- sucht, sehen wirSchiller
unterdem
Einfluss der Engländer der anthropologischen Methode huldigen, die denGrund und Zweck
des Schönen aus der Menschennatur ableitet.Diese anthropologische Methode
Schiller's,
die wir in seiner Kant'schen Periode durch verschiedene Stadien der Ent- wicklung (in„Anmut und
Würde", „Ueber die ästhetische Er- ziehung des Menschen", „Uober naiveund
sentimentalische Dichtung") verfolgen werden, hat in der vorkantischen Periode schon gleichsam ihren Vorläufer in der Diss. „Ueber den Zu-sammenhang
der tierischen Natur des Menschen mit seiner geistigen" (1780). Hierbei finden wirSchiller
nach eignerAngabe
in Abhängigkeit vonFerguson
's Moralphilosophie^)und hiermitindirekt unter
dem
EinflussShaftesbury's,
dessen1) Vgl. bes. die Stelle:
Der Menschheit Würde ist in eure Hand gegeben, Bewahret sie!
Sie sinkt mit euch! mit euch wird sie sich heben
!
2) Vgl. Kritik der Urteilskraft, § 30 f,
3)
Ferguson,
Grundsätzed.Moralphilosophie,übers,v.öarve,1772,—
17—
Verhältnis zu
Ferguson
als das eines vorwiegend origi- nalen Denkers zurci minder selbständigen Systematiker -zu be- trachten ist^).Obwohl
nun in besagter Dissertation das Aesthetische nur durch vereinzelteBemerkungen
(„Schönheit undHarmonie
veredeln Sitten undGeschmack
und die Kunst geleitet zu"Wissenschaft und
Tugend
hinüber"; „die Physiognomik mit ihrem Gesetz, dass jeder edle und wohlwollende Affekt den Körper verschönert") gelegentlich gestreift wird, so wollen wir doch auch diesesStadiumwegen
seinerweittragenden Bedeutung nichtübergehen.Nachdem
Schiller zweiGesetzeüberdiegegen- seitigeWechselwirkung vonKörper undGeist aufgestellthat, fasst er seineAnthropologie in folgenden treffendenVergleich mitdem
„Gesetz der Resonanz"
zusammen: „Man
kann in diesen ver- schiedenen Rücksichten Seeleund
Körper nicht gar unrecht zweien gleichgestimmten Saiteninstrumenten vergleichen, die neben einander gestellt sind.Wenn man
eine Saite aufdem
einen rührt, so wird auf
dem
andern ebendiese Saite freiwillig anschlagenund
eben diesenTon
nur etwas schwächer angeben."Ueber die entwicklungsgeschichthche Bedeutung dieser ersten anthropologischen Untersuchung
Schiller's
für seine ästhetischen Anschauungen urteilen wir mitUe
berw
eg2):
„Die gleiche Ansicht über den Fortschritt der Sinnlichkeit zur Geistigkeit, die
Schiller
in dieser Dissertation bekundet, hat er auch später stets bewahrt. Die Anerkennung eines relativen Rechtes derSinnlichkeit, die sich in derDissertation bekundet,ist gleichfalls ein bleibendes Element des
Schiller'
sehen Denkens geworden; sie ist es, die er späterdem Kant'
sehen Rigorismus siegreich entgegenstellt."Dass nun
—
abgesehen von der anthropologischen Methode, auf die wir späterzurückkommen
werden— Schiller
als geborener Dramatikerhauptsächlich im Hinblick auf dasTheater1) Vgl.
Ueber
weg, Schiller als Historiker und Philosoph, 1884, S. 29, 34. Vgl. auch Berger, Die Entwickelung vonSchiller's Aestiietk 1894. 1. Die Zeit der „Karlsakademie", S. 22, 24.2)
U
eberw
eg, a. a. U. S. 67.2
—
18—
unsere Frage nach der Bedeutung der ästhetischen Kultur erwog und erörterte, bedarf keiner weiteren Erklärung.
Auch
seine Ansichten über die moralische Wirksamkeit derBühne
können wir in verschiedenen Stadien der Entwick- lung verfolgen, deren Schlussergebnis erst in der Abhandlung„lieber naive und sentimentalische Dichtung" vorliegt.
In den beiden ersten Abhandlungen aus der vorkantischen Periode, die uns vorläufig interessiert, nämlich „lieber das gegenwärtige deutsche Theater" (1782) und „Die
Schaubühne
als moralische Anstalt betrachtet" (1784) untersucht Schiller
in verschiedener Tonart die moralische Wirksamkeit der Bühne.
Während
in der erstenAbhandlung
der kritische EinflussRousseau's
vorwiegt,kommt
in der zweiten—
gleichsamals Reaktion
—
der jugendliche Enthusiast inSchiller
zu Worte, derdie vonRousseau
gerügtenMängel der Kulturdurch eine Reorganisation des Theatersüberwinden zu können glaubt.In der ersten Abhandlung findet
Schiller
die Schuld, weshalb das gegenwärtige Theater seiner hochgespannten Er- wartung nicht entspricht, nicht etwa in seiner überschwäng- lichen Begeisterung, sondern bei Schauspieler, Publikumund
Dichter, deren verschiedenartige Gebrechen er in ironischerund
witziger Weise zu schildern weiss,um
mitdem
elegischen Schluss zu endigen: „Das Theater tröste sich mit seinen würdigeren Schwestern, der Moralund —
furchtsamwage
ich die Vergleichung—
der Religion, die, ob sie schon im heiligen Kleidekommen,
über die Befleckung des blödenund
schmutzigen Haufens nicht erhaben sind. Verdienst genug,wenn
hie und da ein Freund der Wahrheitund
gesunden Natur hier seine Welt wiederfindet, sein eigen Schicksal infremdem
Schicksal verträumt, seinenMut
an Szenen des Leidens erhärtetund
seine Empfindung an Situationen des Unglücks übet."
In der zweiten
Abhandlung
tritt dieBühne
als „weltliche Kirche", die Moralund
Gesetze überflüssig mache, ins hellste Licht.Auch
die Schäden der Erziehung, dieRousseau
in seinem discours grell beleuchtet^), glaubtSchiller
durch die moralische Wirksamkeit derBühne
überwinden zu können.1) Vgl.
Oeuvres
I, S. 34.— lo-
hn Hinblick aufGrieclienlaiul foiert endlich
Schi
11or die Nationalerziehung durch das Theater.Dem
hierauf wahr- scheinlich anspielenden Urteil Ed. v.Hartmann's
^): „Tat- sächlich haben noch alle Versuche Fiasko gemacht, die Kunstals positives ethisches Erziehungsmittel des Publikums zu ver- werten", können wir mit
Ue her weg
entgegenhalten: „Das einzige unmittelbare Ziel der Kunst ist die Schönheit des Kunstwerkes selbst. Aber es ist doch wahr, dass,wenn
sie nur hiernach trachtet, eine ungesuchteWirkung
im Sinne der Förderung desWahren und
Guten nicht ausbleiben kann."Diesen doppelartigen Standpunkt, der zwar nicht die Be- gründung, wohl aber die Ausgestaltung der Humanität durch die ästhetische Kultur für möglich hält, hat auch
Schiller
selbst in seiner
Kant'schen
Periodeeingenommen
und seitdem nicht wieder verlassen.Wenn
wirnunmehr
den fürSchiller
wieHerder
be- deutungsvollenUmschwung
ermessen wollen, der sich inKant's
Stellungnahme zu unserem Problemwährend
seiner kritischen Periode vollzog, so können wir zunächst das allgemeine Ergebnis der kritischen Aesthetik mitKühnemann
2) dahinzusammen-
fassen:
„Kant war
nüchternund
methodisch auf nichts ge- richtet, als das spezifisch Eigene des Aesthetischen im Unter- schiedvom
Erkennen und sittlichen Handeln zu entdecken."Dieses Urteil finden wir durch einen Blick aufdie Entstehungs- geschichte von
Kant's
Aesthetik bestätigt.Die älteste
Urkunde
hierüber dürfte wohl, abgesehen von blossen Andeutungen, der erste BriefKant's
anReinhold
'^)(8.
Dezember
1787) enthalten, dessen „Briefe" bekanntlich die ,,Kritikderreinen Vernunft"ebenso zur herrschenden Philosophie machten, wio die ästhetischen SchriftenSchiUer's
die „Kritikder Urteilskraft" zur tonangebenden Aesthetik erhoben. In
1) Vgl. Aesthetik II, S. 456.
2) Vgl. a. a. O. S. 71. Berger, a. a. 0. S. 25 f. 2. Der Stürmer und Dränger.
3) Vgl.
Kühnemann,
Kant's und Scbiller's Begründung der Aesthetik, 1895.4) Vgl. Ausgal)e von
Ivirchmann,
Bd. VIII.2*
—
20—
dem
besagten Briefe finden wir nun folgende systematische Begi'üudung der Aesthetik: „Ich beschäftige mich jetzt mit der Kritik des Geschmacks, bei welcher Gelegenheit eine andere Art von Prinzipien a priori entdekt wird als die bisherigen.Denn
dieVermögen
desGemüts
sind drei: Erkenntnisvermögen, Gefühl der Lust und Unlust und Begehrungsvermögen. Für das erste habe ich in der Kritik der reinen (theoretischen), für das dritte in der Kritik der praktischen Vernunft Prinzipien a priori gefunden. Ich suchte sie auch für das zweite,und
ob ich es sonst zwar für unmöglich hielt,, dergleichen zu finden, so brachte das Systematische, das die Zergliederung der vorher betrachtetenVermögen
mich im menschlichenGemüte
hatte entdecken lassen—
, mich doch auf diesenWeg,
so dass ich jetzt drei Teile der Philosophie erkenne, theoretische Philo- sophie, Teleologieund
praktischePhilosophie, von denen freilich die mittlere als die ärmste an Bestimmungsgründen a priori befunden wird." Die hier angedeutete systematische Grund- legung der Aesthetik fand ihre nähere Ausführung in der Ein- leitung zur „Kritik der Urteilskraft". Hiernach umfasst die Philosophie zwei den Prinzipien nach verschiedene Teile:
1) Die theoretische oder Naturphilosophie, die sich auf die Prinzipien derNatur oder reinen Verstandsbegriffe gründet;
2) die praktische oder Moralphilosophie, die auf den Prinzipien der Freiheitsbegriff'e beruht. Die Vermittlung dieser Freiheitsbegrifife vollzieht sich nun durch die Urteilskraft, deren apriorisches Prinzip die Zweckmässigkeit und deren Er- fahrungsgebiet
—
abgesehen von der teleogischen Natur- betrachtung, die im zweiten Teil der ,,Kritik der Urteilskraft'' behandelt wird—
die Kunst ist. In der Kunst werden die scheinbaren Gegensätze von Natur und Freiheit ausgeglichen;die Kunst erscheint als
Werk
der bewussten Freiheit, ohne den Schein der Natur zu zerstören. Vgl. den Ueberblick bei Ed. V.Hartmanni):
„Die theoretische und die praktische Vernunft, Verstandund
Wille, Naturgesetzmässigkeit und sitt- liche Freiheit, Sinnlichkeitund Moralität sind fürKant
Gegen-^o*^1) Aesthetik 1886, [, 9/10.
—
21—
pjitze, für flio or eine Vermittlung sucht -
—
; dieses Hinrle- glied findet er imGeschmack,
beziehungsweise im Gefühls- verraögen in der formalen oder inhaltlichen Teleologie, wiesie von der ästhetischen und teleologischen Urteilskraft be- stimmt wird, in der Kunst und derteleologischen Naturbetrach- tung (vgl. Ausgabe von
Rosenkranz und Schubert SW.
IV, 16, 38, 40, 232/33, 233/34)."Nach
dieser systematischen Orientierung, die alsFundament
vonKant's
ästhetischen Anschauungen in seiner kritischen Periode nicht übergangen werden durfte, konzentrieren wir unser Interesse auf Kant's Stellung zu unserer Frage nach der Bedeutung der ästhetischen Kultur für dieBegründung und
Ausgestaltung der Humanität.Im
Voraus bemerkt, wird unsere Untersuchung einem Kreise gleichen, der die Gebiete der Ethik und Aesthetik in organischer Weise verbindet. Diesen Kreislauf beginnen wiram
besten mitdem
Schlusssatz vonKant's
kritischer Aesthetik:„Da
derGeschmack
imGrunde
ein Beurteilungsvermögen der Versinn- lichung sittlicher Ideen ist, so leuchtet ein, dass die wahre Propädeutik zurGründung
desGeschmacks
die Entwicklungsittlicher Ideen und die Kultur des moralischen Gefühls sei;
da, nur
wenn
mit diesem die Sinnlichkeit in Einstimmung ge- bracht wird, der echteGeschmack
eine bestimmte unveränder- licheForm annehmen
kann".Hiermit werden wir auf die Ethik als die Grundlage der ästhetischen Kultur verwiesen, während wir in dervorkritischen Periode die umgekehrte Position kennen lernten.
„Kant
ging an die Aesthetik vondem
festenGedanken
aus, dass die Be- gründung der Ethik durchaus selbständigund
von der Aesthetik zugleich unabhängig sei. Aber er hätte zu der Aesthetik, die er geschaffen hat, nicht fortschreiten können,wenn
seine Ethik selbst, so fest er sie auf ihrem eigenenGrunde
eingerichtetund
gesichert hatte, nicht von der Art gewesen wäre, dass sie eine Aesthetik als Folge forderte"i).
1) Vgl.
Cohen,
Kant's Begründung der Aesthetik, 1889, S. 127.—
22—
Im
Interesse unseres Problems müssen wir zunächst die Unzulänglichkeit der ästhetischenBegründung
der Ethik näherins
Auge
fassen.Dieser
Umschwung Kant's im
Vergleich zu seiner vor- kritischen Periode vollzog sich in der „Kritik der praktischen Vernunft" (1788), die uns in einem heissenKampf
gegen das—
ästhetisch motivierte—
Glückseligkeitsprinzip verwickelt:
„Das gerade Widerspiel der Sittlichkeit ist,
wenn
die eigene Glückseligkeitzum
Bestimmungsgrunde des Willens gemacht wird.— — Dem
kategorischen Gebote der SittlichkeitGenüge
leisten, ist in Jedes Gewalt zu aller Zeit; der empirisch be- dingten Vorschrift der Glückseligkeit nur selten und bei weitem nicht auch nur in
Absehung
einer einzelnen Absicht für Jeder-mann
möglich." Dieser ethische Rigorismus wird besonders im dritten Hauptstück der „Analytik der praktischen Vernunft" be- fürwortet, welches „von den Triebfedern der reinen praktischen Vernunft" handelt. Hier erklärtKant
die „Achtung für's moralische Gesetz", dieim
Gegensatz zu der aufdem
Gefühl der Lust beruhenden „Neigung" stehe, als „die einzigeund
zugleich unbezweifelte moralische Triebfeder"
und
schliesst mitdem
erhabenen und strengen Satze, der auch beiSchiller
nachzuwirken scheint: „Die Ehrwürdigkeit derPflicht hatnichts mit Lebensgenuss zu schaffen, undwenn man
auch beide noch so sehr zusammenschütteln wollte,um
sie vermischt, gleichsam als Arzneimittel der kranken Seele zuzureichen, so scheiden sie sich doch alsbald von selbst, und, tun sie es nicht, so wirkt das erste gar nicht,wenn
aber auch das physische Leben hierbei einige Kraft gewönne, sowürde
doch das moralische ohne Rettung dahin schwinden." Hieraus ergibt sich für die inFrage stehende
Begründung
der Humanität durch die ästhetische Kultur: „Das sittliche Handeln verschmäht die Unterstützung durch die ästhetischen Gefühle, es beruht einzig auf seinem eigenen unbedingten Gesetz^).Dieser scharfen Scheidung des Moralprinzips
vom
Glück- seligkeitsprinzip, wie sieKant's
Moralphilosophie aufweist,1) Vgl.
Kühnem
arm, a. a. 0. S. 6.—
23—
entspricht nun in seiner Aesthotik die reinliche Sonderung des Schönen und Guten i), gegen die
Herder
in seiner Streittchrift„Kaligone" mit geringem Verständnis für seinen Gegner polemi- sierte, und für die wir
Schiller
Partei ergreifen sehen werden.Die Unterscheidung des Schönen und Guten, die sich durch die ganze „Analytik des Schönen" verfolgen lässt,
und
aus der sich die Interesse-, Zweck-und
Begrifflosigkeit als dreifaches Charakteristikum des Geschraacksurteils ergibt, bewährt sich auch bei der für unsere Frage wichtigen Verschiedenheit der ästhetischenund
ethischen Lebensführung, wie sie zunächst in§ 5 als Verstärkung des
Momentes
der „Interesselosigkeit" des Schönen gestreift wird: „Es gibt Sitten (Conduite) ohne Tugend, Höflichkeit ohne Wohlwollen, Anständigkeit ohne Ehrbarkeitu, s. w. . . . und
Geschmack
in der Ausführung (des sittlichen Gesetzes) zeigen, ist etwas ganz anderes als seine moralische Denkungsart äussern."Noch
schärfer klingt der anRousseau
erinnernde Hinweis auf die Gefahren der ästhetischen Lebens- führung(vgl. § 42), obwohl derselbe durch eine feineIronisierung (vielleicht der englischen Moralphilosophen) eingeleitet wird.
Kant
beruft sich auf die Erfahrung, „dass Virtuosen des Ge- schmacks nicht allein öfters, sondern wohl gar gewöhnlich eitel, eigensinnig und verderblichen Leidenschaften ergeben, vielleichtnoch weniger wie andere auf den Vorzug der Anhänglichkeit an sittltche Grundsätze Anspruch
machen
könnten". Die hieraus gezogene Scblussfolgerung: „und so scheint es, dass dasGefühl für das Schöne nicht alleinvom
moralischen Gefühl spezifisch unterschieden, sondern auch das Interesse, wasman
damit ver- binden kann, mitdem
moralischen schwer, keineswegs aber durch innere Affinität vereinbar sei"2), lässt die ästhetische Kultur zur Begründung der Humanitätum
so weniger tauglich erscheinen, als sie derselben ofthemmend
entgegenwirkt.1) Vgl. V.
Hart mann,
a. a. O. I, 5:„Kant
's Kampf gegen die realen Reize und Interessen auf ästhetischem Gebiet bildet die Parallele zu seinem Kampfgegen den sinnlichen und geistigen Eudämonismus auf moralischem Gebiete".2) Vgl. auch dieWirkungen des „Affekt von der schmelzenden Art"
in § 29, Anmerkung (Reclam, S. 131).
—
24—
Jedoch tiiidet in Kant's' kiitisclier Aestlietik nicht nur die Sonderung des Schönen und Guten, sondern auch die in der Totalität der Menschennatur begründete Verbindung des Aesthetischen und Moralischenihre Rechnung.
Auch
diese Ver- bindung hat schon ihrVorbildin Kant's „Kritikder praktischen Vernunft."So lebenswahr
und
eindringlich dort, wie wir sahen, derKampf
gegen das Glückseligkeitsprinzip geführt wird, so sieht sich dochKant
zu verschiedenen Konzessioneni) an die empi- rische Beschaffenheit der Menschennatur gezwungen. Zunächst:„Glücklich zu sein, ist notwendig das Verlangen jedes vernünf- tigen aber endlichen Wesens,
und
also ein unvermeidlicher Be- stimmungsgrund seines Begehrungsvermögens." Dieser ,,An-merkung"
(vgl. Recl. S. 29) entspricht indem
Abschnitt „von den Triebfedern der reinen praktischen Vernunft" die weitere KonzessionK
ant's (übrigensunmittelbar vor der früherzitierten Stelle, vgl. Recl. S. 107).„Nun
lassen sich mit dieser Trieb- feder (der „Achtung fürs moralische Gesetz") gar wohl so viele Reize verbinden, dass auchum
dieser willen, allein schon die klügsteWahl
eines vernünftigenund
über das grössteWohl
des Lebens nachdenkenden Epikuräers sich für das sittliche Wohl- verhalten erklären würde, und es kann auch ratsam sein, diese Aussicht auf einen fröhlichen Genuss des Lebens mit jener obersten und schon für sich allein hinlänglich bestimmenden Bewegursache zu verbinden." Die aus derartigen Konzessionen erwachsende,,Antinomie der praktischen Vernunft" (vgl. R. 137):„Es muss also entweder die Begierde nach Glückseligkeit die Bewegursache zu
Maximen
der Tugend, oder dieMaxime
derTugend
muss die wirkende Ursache der Glückseligkeit sein", findet in der „Dialektik" die ,,kritische Aufhebung" (S. 143), dass die Glückseligkeit nur die „moralisch bedingte, doch not-1) Vgl. über derartige Konzessionen v.
Hartmann,
a. a. 0. I, 23:„Selbst da, wo Kant sich prinzipiell bloss verwerfend verhält, fanden wir ihn ehrlich und hochherzig genug, in der näheren Ausführung den be- kämpften Standpunkten weitgehende Zugeständnisse zu machen, unbe- kümmert