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Wie Eltern besser werden

Die häufigsten Erziehungsfehler und ihre Lösungen

Bearbeitet von

Rudolf Dreikurs, Erik Blumenthal, Yvonne Schürer

1. Auflage 2010. Taschenbuch. 382 S. Paperback ISBN 978 3 608 94600 0

Gewicht: 460 g

Weitere Fachgebiete > Pädagogik, Schulbuch, Sozialarbeit > Pädagogik Allgemein >

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Leseprobe

Das Werk, das die Grundlage dieses Buches bildet, erschien bereits 1948: »The Challenge of Parenthood«. Der Verfasser war Rudolf Dreikurs, ein Psychiater, dem Erziehungsberatung ein hohes Anliegen war, weil es ihm vor allem darum ging, Kindern die Möglichkeit zu geben, zu gesunden Menschen heranzuwachsen. Dreikurs war 1937 von Wien in die USA emigriert und eroberte dort die amerikanischen Eltern im Sturm. Niemals wären seine Bücher zu Bestsellern geworden, wenn er den verzweifelten Müttern nicht geholfen hätte, ihre eigene Rolle in der täglichen Auseinandersetzung mit den Kindern in einem neuen Licht zu sehen und dank dieser Einsicht eine neue Haltung einzunehmen.

Er sah, dass Eltern genug hatten von all den Erziehungsbüchern, in denen steht, sie sollen ihre Kinder nicht schlagen, sondern mehr lieben. Wie kann man ein Kind lieben, das einem von früh bis spät auf die Nerven geht? Dreikurs rollt die Sache vom andern Ende her auf. Er zeigt den Müttern, dass ihr Kind, wenn es sich unangemessen verhält, ihnen den Kampf ansagt. Denn Kinder sind, nach Dreikurs, keine kleinen Engel, sondern eigenwillige Individuen, welche um ihren Platz in der Gesellschaft kämpfen, genauso wie die Erwachsenen.

Damit brach Dreikurs ein großes Tabu - mit befreienden Folgen: Er erlaubt den Müttern, zu ihren negativen Gefühlen zu stehen, zu ihrem Ärger, ihrer Wut, ihrer Verzweiflung. Er lehrt sie, diese Gefühle nüchtern zu betrachten und als wichtige Indikatoren zu verstehen, die ihnen zeigen, welches Ziel ihr Kind durch sein Verhalten unbewusst verfolgt. Natürlich wusste Dreikurs, dass auch die Mütter keine Engel sind. Irritierte Mütter - und Väter - können ganz perfide Strafen verhängen; und sie rechtfertigen sich dafür, indem sie sich einreden, es handle sich um

notwendige, pädagogisch wertvolle Maßnahmen. Auf dem Umweg über das Kind bringt Dreikurs die Eltern dazu, auch ihr eigenes Verhalten genauer unter die Lupe zu nehmen und sich

einzugestehen, dass es ihnen beim Erziehen häufig darum geht, den Kampf mit dem Kind zu gewinnen.

Der Psychologe Erik Blumenthal war der Erste, der Dreikurs' pragmatische Pädagogik nach Deutschland brachte. Er schrieb nach Chicago: Weshalb gibt es Ihre Bücher nicht auf Deutsch?

und erhielt umgehend ein Telegramm mit der Aufforderung: Go ahead! Dies war der Anfang einer fruchtbaren Zusammenarbeit und einer tiefen Freundschaft. Blumenthal wurde der Übersetzer und Co-Autor dieses Buches.

Mir war das große Glück beschieden, als junge Mutter von Erik Blumenthal persönlich beraten zu werden. Ich war eine gescheiterte Idealistin, die sich ihren Wunsch, alles besser zu machen als die eigenen Eltern, nicht hatte erfüllen können. Von früh bis spät war ich am Durchgreifen,

Ermahnen und Trösten: Ich war Polizistin und Samariterin in einer Person. Ich fand in Blumenthal einen außergewöhnlichen Lehrer, der eine große Umstellung von mir verlangte, aber viel

Verständnis hatte für alle meine Rückschläge. Er wusste, dass die individualpsychologische

Pädagogik eine bedeutende Herausforderung ist für alle Erzieher. Die Theorie ist wohl geschliffen,

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klar und einleuchtend, doch ich machte die Erfahrung, dass viele Widerstände wach werden, wenn es an die Umsetzung in die Praxis geht. Sagte ich in der Beratung: »Gut, ich probier es mal aus«, konnte Blumenthal das nicht gelten lassen. Ich musste mit meiner ganzen Überzeugung dahinter stehen, im Sinne von: »Ja, das tu ich, und es wird auch zu einem guten Ende führen.«

Es braucht Mut, großen Mut, ein trödelndes Kind nicht zur Eile anzutreiben, wenn es Gefahr läuft, zu spät zur Schule zu kommen. Es braucht vor allem auch Mut, den lieben Verwandten und Nachbarn, die es besser wissen, standzuhalten. Und es braucht die Bereitschaft zum Verzicht auf die edle Rolle der behütenden, verwöhnenden, für alles verantwortlichen Mutter. Denn ein

respektvoller Umgang mit Kindern im Sinne der Gleichwertigkeit ist nur möglich, wenn die Erzieher heruntersteigen von ihrem hohen Ross. Für viele Väter oder Mütter ist das Einführen

»demokratischer Verhaltensweisen« in die Familie ein schmerzhafter Prozess, weil er verbunden ist mit dem Verlust von Macht. Besonders wer sich früher von den Eltern geknechtet fühlte, wird bei den eigenen Kindern ungern auf die Befehlsgewalt verzichten. Manche Erzieher gefallen sich dagegen in der Rolle eines edlen Herrschers, der nur das Beste für seine kleinen Untertanen will.

Aber Dreikurs macht klar, dass bei jeder Form des autokratischen Erziehungsstils die Probleme nicht lange auf sich warten lassen: »Sie können gerne autokratisch erziehen - doch es wird nicht funktionieren.«

Weshalb funktioniert es nicht? Weil Kinder heute nicht mehr bereit sind, sich willenlos einer Autorität zu fügen. Schon zu Dreikurs' Zeiten begann sich eine Rebellion im Kinderzimmer abzuzeichnen, aber niemand hätte sich damals vorstellen können, welche Auswüchse in der heutigen Zeit daraus entstehen würden. Wenn Lehrer sich nicht mehr gegen ihre Schüler wehren können, bleibt ihnen immerhin die Möglichkeit, den Beruf zu wechseln. Dieser Fluchtweg ist Eltern versperrt. Sie müssen Wege finden, wie sie ihre Kinder dafür gewinnen können, wieder mit ihnen zu kooperieren.

Dreikurs betonte stets, dass auch die Demokratie feste Regeln braucht, weil sie sonst in einen Kampf aller gegen alle ausartet.

Das gilt auch für die Familie, die kleinste demokratische Einheit. In diesem Buch werden Eltern zu Führern ausgebildet, welche dafür sorgen, dass es stets mit rechten Dingen zugeht, wenn Kinder und Eltern ihre Probleme miteinander diskutieren, Lösungen finden und Regeln aufstellen, die für alle gelten. Auch in kritischen Situationen, wenn ein Kind eine Arbeit, zu der es sich verpflichtet hat, vernachlässigt, soll ein demokratischer Führer nicht auf den Tisch klopfen, schelten und strafen. Es ist vielmehr seine Aufgabe, dafür zu sorgen, dass dieses neue Problem in der

Familienrunde gemeinsam angegangen wird. Dreikurs sagt dazu: Wenn die Demokratie versagt, muss sie durch noch mehr Demokratie geheilt werden. Wer so erziehen will, muss durch eine hohe Schule gehen. Dafür ist dieses Buch ein unverzichtbarer Lehrgang.

Aus eigener Erfahrung kann ich sagen: Es lohnt sich, diesen Weg zu gehen. Die Erfolge werden

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sich bald einstellen. Das Klima ändert sich schnell. Sobald Kinder merken, dass ihre Meinung angehört wird und dass sie mitentscheiden dürfen, werden sie stolz und freudig zum Wohl der Familie beitragen.

Yvonne Schürer Birmensdorf/Schweiz im Mai 2010 [...]

4. Die wirksamen Erziehungsmethoden: Anwendungen

Wir haben die Erfahrung gemacht, dass Eltern, die mit Hilfe der oben dargestellten Erziehungsprinzipien einen besseren Zugang zu ihren Kindern erreichen und ihre

Erziehungspraxis verbessern möchten, eine Art Gedankenstütze brauchen. Wir empfehlen ihnen insbesondere die folgenden vier Verhaltensregeln:

Beobachten Sie Ihr Kind !

Überlegen Sie genau, was Sie tun !

Stellen Sie sich möglichst gut auf Ihr Kind ein ! Handeln Sie entschieden und konsequent ! Reden kommt in dieser Liste nicht vor!

Wenn wir in den folgenden Kapiteln jene Verhaltensweisen detailliert zu beschreiben versuchen, die aus unserer Sicht geeignet sind, den Umgang zwischen Eltern und Kindern zu verbessern, dann geben wir den Eltern damit zugleich einen Anreiz zur Selbsterziehung. Sie lassen sich auf einen Prozess ein, in dessen Verlauf sie Irrtümer im Umgang mit dem Kind selbst entdecken und nach und nach vermeiden können; und sie lernen, neue Methoden und Verhaltensweisen zu erproben und konsequent anzuwenden. Wir wollen die Eltern also ausdrücklich ermutigen, etwas Neues auszuprobieren.

Dass dazu auch eine Portion Geduld gehört, versteht sich fast von selbst. Das Kind wird seine Feindseligkeit nicht von heute auf morgen aufgeben und ein sofortiger Erfolg ist nicht garantiert.

Es kann sogar sein, dass das Kind in einer ersten Reaktion auf das veränderte Verhalten der Eltern noch mehr Probleme macht. Es rechnet ja nach wie vor damit, dass es mit seinem

Verhalten Konflikte provozieren wird. Wenn wir uns auf das alte Machtspiel nicht mehr einlassen, wird es seine Anstrengungen vielleicht zunächst verdoppeln, um uns in die alte Beziehung

zurückzuzwingen, denn es hat sich mit seinen Verhaltensmanövern auf ganz bestimmte

Reaktionen von unserer Seite eingestellt und diesen angepasst. Wollen wir die Kampfsituation lockern, dann dürfen wir uns durch seine Provokationen nicht aus dem Gleichgewicht bringen lassen und wir dürfen uns vor allem nicht dazu verleiten lassen, unsere alten Fehler zu

wiederholen.

Beobachten Sie Ihr Kind!

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Das Aufgeben unserer alten Methoden und Irrtümer ist das eine.

Wirklich helfen können wir unserem Kind (und uns selbst) aber nur, wenn wir versuchen, es zu verstehen. Der völlige Mangel an Verständnis von Seiten der Eltern ist einer der traurigsten Aspekte in der Beziehung zwischen Eltern und Kindern, wie sie sich uns heute oft darstellt. Die meisten Eltern haben tatsächlich nicht die geringste Ahnung, warum ihr Kind »Schwierigkeiten macht«, warum es sich schlecht benimmt, sich vor ihnen verschließt und jede Mitarbeit verweigert.

Seine Motivationen und Ziele sind ihnen ein Rätsel. Aber genau das müssen Eltern zu verstehen versuchen - welche Ziele das Kind mit seinem Verhalten verfolgt und welcher Plan seinen

Handlungen zugrunde liegt . Diesen Plan gibt es, auch wenn er dem Kind nicht bewusst ist. Erst wenn wir ihn verstehen, können wir die Schwierigkeiten ermessen, die das Kind erlebt. Bisher haben wir wahrscheinlich nur an den Schwierigkeiten, die wir mit dem Kind haben , gelitten. Aber erst wenn wir seine Konflikte begreifen, können wir ihm helfen, sie zu überwinden.

Wir müssen also zunächst einmal lernen, das Kind objektiv zu beobachten. Dies können wir nur, wenn wir sein störendes Verhalten weniger ernst nehmen. Wir müssen aufhören, seine Fehler als Ausdruck seines Charakters zu betrachten. Ein Kind, das sich schlecht aufführt, ist nicht etwa ein schlechtes Kind. Es ist nur unglücklich, irregeleitet und entmutigt und es hat auf die Probleme im Umgang mit den anderen nicht die richtige Antwort gefunden. Jedes störende Verhalten, jeder Ärger, den es uns bereitet, verrät nur, welche Irrwege es eingeschlagen hat in seinem Bemühen, innerhalb der Familie seinen Platz zu finden und den Anforderungen und Zwängen, denen wir es unterwerfen, zu begegnen.

Da Eltern die Sichtweise ihres Kindes nur selten verstehen, werden sie durch die Art und Weise, wie es seine Probleme zu lösen sucht, verwirrt. Oft zählen Mütter verzweifelt und voll moralischer Entrüstung die Fehler, Missetaten und Eskapaden ihres Kindes auf. »Wie konnte er/sie das nur tun?« Auf den ersten Blick gibt es dafür tatsächlich keine vernünftige Erklärung. Der Sinn dieses Verhaltens zeigt sich dann, wenn man weiß, welche Rolle die Eltern oder andere wichtige

Bezugspersonen in seiner Umgebung spielen.

Es geht hier nicht um ein moralisches Problem, sondern um die Beschaffenheit der gegenseitigen Beziehungen. Den moralischen Tonfall nehmen die Eltern nur an, um ihre angeschlagene

Autorität wiederherzustellen - ein generell weit verbreiteter Kunstgriff. Auf diese Weise wird das tatsächliche Problem verschleiert - die gestörte Beziehung zwischen Eltern und Kind - und die Eltern können so tun, als beurteilten sie die Situation objektiv. Aber gerade diese Einstellung macht die Schwierigkeiten zwischen ihnen zu einem unlösbaren Problem.

Alles, was das Kind tut, ist ein Ausdruck seines Bemühens, sich seiner Umgebung anzupassen.

Ein Kind, das sich so verhält, wie die Eltern es von ihm erwarten, hat seinen Weg zur Anerkennung in der Gemeinschaft gefunden, es befindet sich im Einklang mit den in seiner

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Gruppe geltenden Regeln, es spürt, was die Gruppe von ihm erwartet und handelt

dementsprechend. Es ist aktiv, wenn die Situation es erfordert, und passiv, wenn es nötig ist. Es spricht zur rechten Zeit und weiß, wann es still sein soll. Ein vollkommen angepasstes Kind - falls es das überhaupt geben kann -, würde recht wenig Individualität zeigen, es würde lediglich die Erwartungen seiner Umgebung widerspiegeln. Seine individuelle Persönlichkeit zeigt das Kind in den kleinen Abweichungen von der vollkommenen Anpassung und es zeigt sie in der

charakteristischen Haltung, die es für sich gefunden und entwickelt hat.

Anders ausgedrückt bedeutet jedes individuelle Tun eine leichte Abweichung von der Konformität, das heißt, einen gewissen Grad an unvollkommener Anpassung. Dies ist ausgesprochen

wünschenswert, denn auch die Anforderungen durch die Gruppe sind nichts Statisches. Die Gruppe selbst muss wachsen und sich entfalten können und der Einzelne, der die Gruppe mit seiner Persönlichkeit und seinen Ideen prägt, gibt einen Anstoß zu ihrer Entwicklung. Sind seine Ideen und Methoden nützlich und hilfreich für die Gruppe, dann sagen wir, er ist gut angepasst - obwohl er sich nicht völlig konform verhält. Umgekehrt kann völlige Konformität die Entwicklung der Gruppe zu einer echten Gemeinschaft behindern und also ein Zeichen ungenügender sozialer Anpassung sein.

»Schlecht angepasst« ist ein Kind also dann, wenn es sich so verhält, dass es das Funktionieren der Gruppe und ihre Entwicklung stört. Erwachsene behalten grundsätzlich die Einstellung bei, die sie schon als Kinder entwickelt haben. In der Zeit des Heranwachsens lernen sie jedoch, mit ihrer Einstellung hinter dem Berg zu halten, sie lernen, das Muster, das die Gesellschaft vorgibt, zu akzeptieren und den äußeren Schein der Angepasstheit zu wahren. Nicht selten nennen wir das erfolgreiche Maskieren unserer tatsächlichen Absichten und Beweggründe dann »Reife«. Insofern ist das psychologische Kräftespiel, das einer »guten« oder »schlechten« Anpassung bei

Erwachsenen zugrunde liegt, äußerst kompliziert und wir müssen schon genau hinschauen, wenn wir die unbewussten Faktoren, die ihr Verhalten bestimmen, erkennen und entschleiern wollen, was sich hinter der Maske des Erwachsenseins verbirgt.

Das Kind hat diese Stufe der Entwicklung noch nicht erreicht. Obwohl es sich seiner Ziele und Absichten nicht bewusst ist, zeigt es offen seine Einstellung. Die Ziele eines Kindes können wir daher durch bloße Beobachtung seines Verhaltens erkennen. Dabei ist es von großer Bedeutung, dass wir unsere eigene Reaktion auf das Verhalten des Kindes sowie die Reaktion des Kindes auf unser Verhalten bzw. unsere Reaktion genau erkennen. Erst wenn wir die Situation sachlich erkannt, also sowohl ein Verständnis für die Motive und Ziele des Kindes als auch für die Lage, in der wir Eltern uns befinden, gewonnen haben, können wir wirksam handeln.

Die Situation des Kindes

Ein Kind verstehen heißt, die menschliche Natur erkennen. Es ist möglich, dass wir einen Menschen intuitiv erkennen; ein klares, vernünftiges Verstehen seiner Persönlichkeit jedoch

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erreichen wir nur durch ein systematisches, psychologisches Studium der kindlichen Entwicklung.

Der Individualpsychologe Alfred Adler und seine Schüler haben in diesem Sinne viel zum Verständnis der menschlichen Persönlichkeit beigetragen und sie haben ihre Erkenntnisse so dargestellt, dass sie auch von Laien verstanden werden. Unsere Hauptaufgabe als Eltern und Erzieher besteht nach Alfred Adler darin, die ganze Persönlichkeit des Kindes zu erfassen . Sie behält ihre grundlegende Struktur durch alle Lebensalter hindurch. Änderungen im Verhalten eines Kindes sind oft die Antwort auf veränderte Bedingungen und bedeuten in der Regel nicht, dass seine Persönlichkeit sich strukturell gewandelt hätte. Daher trägt das Erkennen der

grundlegenden Vorstellungen, auf denen die Persönlichkeit des Kindes aufgebaut ist, mehr zum Verständnis eines Kindes bei als die eher zufälligen Verhaltensweisen, die in verschiedenen Abschnitten seiner Entwicklung zutage treten mögen. Sie sind lediglich Variationen des einen Grundthemas, das seine Persönlichkeit konstituiert. Wir richten die Aufmerksamkeit deshalb auf die Struktur der Persönlichkeit in ihrer einzigartigen individuellen Ganzheit.

Unsicherheit über den Status in der Gruppe

Das natürliche Bedürfnis des Kindes, sich der Gruppe anzupassen, in die es hineingeboren ist, wird durch mancherlei Hindernisse erschwert. All die Irrtümer, denen Eltern, Lehrer und Erzieher im Laufe ihrer Erziehungspraxis aufsitzen, und all die ständig wechselnden Erziehungsmoden, die so häufig an den Bedürfnissen des Kindes vorbeigehen, stellen solche Hindernisse dar. Viele Eltern sind entweder zu nachsichtig oder zu streng; sie geben dem Kind zu viel Aufmerksamkeit oder sie vernachlässigen es. Aber ob sie dem Kind zu viel »Liebe« geben, ob sie übermäßig streng sind, ob sie das Kind demütigen oder vergöttern - die Wirkung ist immer dieselbe. Statt zur Anpassung erziehen sie das Kind zu Rebellion und Feindseligkeit.

Die Feindseligkeit des Kindes, die - seltsam genug - stets mit Zuneigung vermischt ist, richtet sich in erster Linie gegen die Eltern oder andere Erziehungspersonen. Sie sind in den Augen des Kindes die Vertreter der Gemeinschaft und ihrer Regeln, als deren Vollstrecker sie handeln. Aus diesem Grund richtet sich die Rebellion zuerst gegen die Eltern, Lehrer und Erzieher und weitet sich erst später auf andere Personen und Institutionen aus. Der Kampf gegen Eltern und Erzieher ist immer ein Kampf gegen die Ordnung und deren Regeln. Was ist die tiefere Ursache dieser Revolte, die sich zuerst gegen Eltern und Erzieher und später gegen die Gesellschaft richtet?

Ein Gefühl der Zugehörigkeit entwickelt sich nur dann, wenn man sich akzeptiert, nicht aber, wenn man sich verachtet oder vernachlässigt fühlt. Das Neugeborene mag Lust oder Unlust zuerst nur körperlich empfinden. Aber es ist ja mehr als ein biophysischer Organismus - es ist ein

menschliches Wesen. Und als solches erkennt es sehr bald die sozialen Beziehungen als eine Quelle angenehmer oder unangenehmer Empfindungen. Es versucht deshalb, seine körperlichen Bedürfnisse in Übereinstimmung mit den Regeln der Gruppe zu bringen und ordnet seine

Körperfunktionen den Notwendigkeiten unter, die der soziale Kontakt zu seiner Umgebung erfordert. Schon in einem sehr frühen Stadium ist es die Qualität dieser Kontakte, die sein

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Wohlbehagen hauptsächlich bestimmt. Der heftigste Schmerz und das tiefste Leid in der Kindheit beruhen nicht auf körperlicher Krankheit oder körperlichem Unbehagen. Viel bedrückender ist das Gefühl, zurückgesetzt, vernachlässigt oder ausgeschlossen zu sein. Das Gefühl, nicht dazu zu gehören, Gleichgültigkeit seitens der Bezugspersonen, Missachtung und Vernachlässigung bereiten einem Kind die schmerzhaftesten Erfahrungen.

Das Kind leidet, ohne die Ursache seines Unglücklichseins klar zu erkennen. Und vor allem:

Jedes menschliche Wesen, das sich von seiner Gruppe ausgeschlossen fühlt, hat das Gefühl, in irgendeiner Weise minderwertig zu sein. Dieses Gefühl der Minderwertigkeit wird dem Kind nicht bewusst, es tritt aber in seinen Handlungen zutage. Den Auswirkungen dieses

Minderwertigkeitsgefühls müssen wir - bei Kindern wie bei Erwachsenen - entgegentreten, und zwar durch Maßnahmen, die zur Hebung der Selbstachtung beitragen.

Das kleine Kind ist gegenüber Missachtung besonders empfindlich. Seine Stellung in der Familie gibt ihm ja schon genügend Grund zu glauben, dass es minderwertig und unzulänglich sei: Es ist so viel kleiner, ungeschickter und unfähiger als alle anderen in der Familie und es erhält seinen Status in der Gruppe nur durch andere, die größer und wichtiger sind als es selbst. Seine Rechte müssen oft denjenigen der anderen weichen - und das gilt auch dann, wenn es zuhause verwöhnt wird, oder vielleicht gerade dann. Wie viele Kinder haben das Gefühl, überhaupt nicht beachtet zu werden, gerade weil sie an zu viel Beachtung gewöhnt sind! Die Bemühungen des Kindes, seine soziale Unsicherheit zu überwinden, führen oft zu dem Streben nach Überlegenheit, eine

charakteristische Folge des Minderwertigkeitsgefühls. Wer sich sozial erniedrigt fühlt, sucht sich zu erhöhen, denn jeder Mensch braucht das Gefühl, bedeutungsvoll zu sein.

Die Rebellion des Kindes entspringt also einem Minderwertigkeitsgefühl; dieses aber ist das Haupthindernis für die Entwicklung von Gemeinschaftsgefühl. Ein Kind, das in starkem Maße unter dem Gefühl der Minderwertigkeit leidet, wird sich nicht für die Teilhabe am Leben der Gemeinschaft interessieren; sein Ziel kann es nicht sein, sich für die Belange der Gemeinschaft einzusetzen, es strebt vielmehr nach Überlegenheit , um seine eigene Bedeutung zu erhöhen.

Das Bemühen um Anerkennung wird leicht zu einer Sucht nach Überlegenheit und aus dieser Sucht entwickeln sich die störenden oder auffälligen Verhaltensweisen, die schlechten

Angewohnheiten und Schwächen des Kindes.

Minderwertigkeitsgefühl und Entmutigung

Ein Kind, das sich minderwertig fühlt, wird ständig versuchen, wirkliche oder eingebildete soziale Nachteile und Schwächen auszugleichen. Vergleichbar einem Kind mit einer angeborenen Behinderung hat es zwei Möglichkeiten, sein Handicap zu überwinden: Resignation oder

Überkompensation. Kinder mit Behinderungen versuchen die mangelhafte Funktion entweder zu ignorieren, sie tun so, als ob die Beeinträchtigung gar nicht vorhanden wäre; oder sie fühlen sich ganz im Gegenteil dazu herausgefordert, gerade in dem Bereich, in dem sie eingeschränkt sind,

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außergewöhnliche Leistungen zu erbringen. So werden zum Beispiel einige Kinder mit einer angeborenen Schwäche der Muskelkoordination ihr ganzes Leben lang etwas tolpatschig sein, während andere mit der gleichen ungünstigen Veranlagung es durch ständiges Training sogar zu ungewöhnlicher körperlicher Geschicklichkeit bringen können. Eine angeborene Missbildung kann bei manchen Kindern dazu führen, dass sie sich ins soziale Abseits bringen, bei anderen kann sie zum Antrieb werden, auf irgendeinem Gebiet Hervorragendes zu leisten. Eine angeborene

Augenschwäche kann zu einer ständigen weiteren Verschlechterung der Sehfähigkeit führen, sie kann aber auch eine besonders scharfe Beobachtungsfähigkeit und ein besonderes visuelles, künstlerisches Feingefühl zur Folge haben. Jede Schwierigkeit birgt in sich gegensätzliche

Möglichkeiten zu ihrer Überwindung. Das Kind hat die Wahl, seiner Schwäche nachzugeben oder sie in einem allmählichen Lernprozess zu überwinden. Was aber bestimmt, für welche Möglichkeit es sich entscheidet?

Der entscheidende Faktor ist der Mut, über den ein Kind verfügt (oder nicht verfügt). Solange es nicht entmutigt ist und an seine eigenen Kräfte glaubt, wird es unablässig versuchen, die

Schwierigkeit zu meistern. Und der angeborene Mut eines Kindes ist bemerkenswert groß - falls er ihm nicht durch eine falsche Erziehung abhanden gekommen ist. Aus diesem Grunde werden Schwächen, die das Kind zu einem sehr frühen Zeitpunkt bemerkt, viel wahrscheinlicher zu einer Überkompensation führen als zu Resignation oder völligem Versagen, denn in einem sehr frühen Alter ist der Mut des Kindes gewöhnlich noch unversehrt. Körperliche Behinderungen, die es erst zu einem späteren Zeitpunkt erlebt, führen dagegen viel eher zu einer dauerhaften

Beeinträchtigung.

Kinder können Leistungen vollbringen, die für Erwachsene unmöglich wären. Wir schreiben diese bemerkenswerte Fähigkeit der Kinder im Allgemeinen ihrer größeren geistigen Vitalität, ihrer Lernfähigkeit und ihren unverbrauchten Energien zu; aber sehr wahrscheinlich ist es vor allem die Tatsache, dass sie im Vergleich mit den Erwachsenen noch viel mehr Mut haben. Wenn das so ist und Kinder von Natur aus mutig sind, so dass sie Schwierigkeiten und Hindernisse, die ihnen im Wege stehen, ohne Zögern anpacken - warum verlieren sie dann allmählich diesen Mut ? Wir sind der Auffassung, dass wir es hier mit der Auswirkung eines verkehrten Erziehungsverhaltens zu tun haben. Die meisten Eltern und Erzieher, auch die Fachleute, sind sich gar nicht bewusst, welche Rolle der Mut im Leben eines Kindes spielt. Sie missachten deshalb das grundlegende Bedürfnis des Kindes nach Ermutigung. Statt es zu ermutigen, vermindern sie fortwährend sein

Selbstvertrauen. In diesem Punkt treffen sich all die vielen, manchmal grundverschiedenen Erziehungsmethoden.

Man kann ein Kind entmutigen, indem man ihm jedes Hindernis sorgfältig aus dem Weg räumt, so dass es gar keine Möglichkeit hat, seine eigene Kraft zu erproben und seine Fähigkeiten zu

entwickeln. Einen ganz ähnlichen Effekt erzielt man aber auch, wenn man ihm zu große und zu viele Hindernisse in den Weg stellt; seine Kräfte erweisen sich als ungenügend und es verliert das Selbstvertrauen. Eltern entmutigen ihre Kinder oft, ohne es zu wissen, in unzähligen kleinen

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Dingen. Die Folge dieser ständigen Entmutigungen ist ein wachsendes Gefühl der

Minderwertigkeit. Dieses Minderwertigkeitsgefühl steht natürlich in keinem Zusammenhang mit seinen tatsächlichen Fähigkeiten.

Die Beurteilung unserer Situation hängt nicht so sehr von unseren tatsächlichen Fähigkeiten oder Mängeln ab, sondern von unserer Deutung der Stellung, die wir in der Gruppe einnehmen, von unserer subjektiven Einschätzung unserer Stärke und unserer Fähigkeiten, davon, wie wir unsere eigenen Handlungen beurteilen - als Erfolg oder Versagen - und ob wir uns zutrauen, unsere Probleme (die meistens mit unseren zwischenmenschlichen Beziehungen zu tun haben) ausreichend zu meistern oder nicht. Mut ist die Vorbedingung für ein erfolgreiches Leben - Entmutigung und Minderwertigkeitsgefühle führen zu Versagen und mangelnder Anpassung.

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