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»Stochern im Nebel«Sozialpsychologische»Erklärungen«der Familienaufstellung nach Hellinger 1

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Klaus Weber

»Stochern im Nebel« –

Sozialpsychologische »Erklärungen« der Familienaufstellung nach Hellinger

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»Nicht eins mit sich sein, sich in Krisen drängen, kleine Änderungen in große verwandeln usw., das alles kann man nicht nur beobachten, sondern auch machen« (Brecht 1982, 500f).

Einleitung

In Adalbert Stifters GeschichteDer beschriebene Tännlingverliebt sich der Waldar- beiter Hanns in die keusche und gläubige Hanna. Bei einem Zusammensein der beiden fragt ihn Hanna, »um was er denn am ersten Beichttage die heilige Jungfrau Maria gebeten habe« (1946, 23). Hanns antwortet ehrlich und einfach: »Ich habe um nichts gebeten, […] du weißt ja, dass ich nicht oft zu ihr in ihr Kirchlein hinaufkomme, weil ich nicht die Zeit habe; aber von ferne und von dem Walde aus, wo er eine Lücke hat, sehe ich das weiße Kirchlein sehr gern, weil von ihm nach abwärts die Wacholderstauden anfangen […] und noch weiter unten das Häuschen ist, in dem du bist.« Hanna drängt: »Du sollst aber doch gebeten haben, […] denn sie ist sehr wundertätig und stark, und was man am ersten Beichttage mit Inbrunst und Andacht verlangt, das muss in Erfüllung gehen, es geschehe auch, was da wolle.«

Hanns, der lebensnahe Pragmatiker, entgegnet: »Das habe ich ja gar nicht gewusst;

es hat mir […] niemand gesagt, und wenn ich es auch gewusst hätte, so hätte ich sie doch um nichts gebeten, weil mir nichts gefehlt hat. – Meinst du denn im Ernste, dass sie etwas tun kann, um was man sie recht bittet?« »Freilich kann sie es tun«,

1 Gekürzter und überarbeiteter Text eines Vortrags bei der Gesellschaft für subjektwissenschaftliche Forschung in Berlin im Februar 2005. Morus Markard lud mich nicht nur zum Vortrag ein, er trug dazu bei, dass der Text besser wurde als der Vortrag.

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antwortet Hanna, »weil sie sehr mächtig ist, und sie tut es auch, weil sie sehr gut ist. […] Um was man sie am ersten Beichttage bittet, das tut sie immer und jedes Mal; aber auch an jedem andern Tage kann man sie bitten, und sie kann die Bitte gewähren, weil ihre Macht außerordentlich ist.« »Aber das ist ja kaum denklich«, erwidert Hanns, »weil sonst alle Leute daherkämen und um die verwirrtesten und verkehrtesten Dinge bäten« (ebd.).

1. Familienaufstellung nach Hellinger und ihre zentralen theoretischen Konzepte

Bei Familienaufstellungen handelt es sich um psychotherapeutische Verfahren, die Familienmitgliedern dabei helfen sollen, die »wesentlichen Elemente des Zusam- menlebens in einer Familie (Selbstwertgefühl der Familienmitglieder, die Kommu- nikation, die Familienregeln und -systeme)« (Bauriedl 2004, 9) zu erforschen – »und zwar mit den realen Familienmitgliedern« (ebd.). Diese Erforschung hat aktuelle Problemlagen einzelner Familienmitglieder zur Grundlage. Bert Hellingers so ge- nannte Familienaufstellungen unterscheiden sich in einigen Punkten sehr deutlich von systemischen Familienaufstellungen, wie sie etwa durch Virginia Satir theoreti- siert wurden.

Die jeweiligen Probleme, mit denen Menschen in Familienaufstellungsveran- staltungen zu Hellinger oder seinen Schülern kommen, sind psychischer (Angstge- fühle, Depressionen, Suizidgedanken etc.) oder körperlicher Art (Tumordiagnose, Multiple Sklerose etc.). Hellinger behauptet, er löse bzw. »entstricke« die diesen Problemen zugrunde liegenden »Verstrickungen« über eine Aufstellung sämtlicher Beteiligter, auch der längst verstorbenen, durch Stellvertreterpersonen. In einer Therapiegruppe (oder in einer Großveranstaltung) werden einzelne Personen ge- beten, die zur Rede stehenden Familienmitglieder des Ratsuchenden – wie in einem Bühnenschauspiel – darzustellen. Sobald diesen Stellvertretern nun durch den Ratsuchenden ihre jeweilige Rolle zugewiesen sei, träten diese in Kontakt zu einem – wie Hellinger es nennt – höheren, wissenden Feld, einer Art Weltenseele. Dieses gebe ihnen einen authentischen Zugang zu den Gedanken und Gefühlen der repräsentierten Personen. Der Mitspieler, der die Rolle etwa des verstorbenen Großvaters übernimmt, bekomme dadurch, dass er auf eine bestimmte Position gestellt werde, genau die Eindrücke, Empfindungen und Erlebnisse, die der tatsäch- liche Großvater gehabt habe – und als Toter immer noch habe. Und nun kommt der Therapeut ins Spiel: Durch eine von ihm vorgenommene räumliche Umgrup- pierung der in einer »falschen Ordnung« stehenden Stellvertreter, verbunden mit dem Nachsprechen-Lassen ritueller Sätze, beispielsweise: »Du bist groß und ich bin

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klein« oder: »Ich gebe dir die Ehre«, werde die »rechte Ordnung« wiederhergestellt, was zur Heilung des jeweiligen Symptomträgers führe (Radio Lora/Goldner 2005, 14f).2

Über die Beschreibung des technischen Vorgangs einer Aufstellung wird deut- lich, dass diese nur dann funktionieren kann, wenn – wie in der Geschichte von Hanns und Hanna – vorab an die Kraft der heiligen Jungfrau Maria bzw. an das Vorhandensein des wissenden Felds, an die Macht des Therapeuten und an die rechten Ordnungen geglaubtwird. Beim Hellinger-Adepten Franz Ruppert aus München hört sich das so an:

Möglicherweise stehen wir Menschen auch noch im Dienste eines höheren Prinzips und sind eingebunden in etwas wesentlich Größeres. Darüber möchte ich an dieser Stelle jedoch nicht spekulieren. (2002, 37)

Zur Vermeidung eines anthropozentrischen Weltbildes erscheint es mir auch not- wendig, immer mit zu bedenken, dass es jenseits von dem, was wir Menschen als ›das Höchste‹ erkennen können, noch Weiteres gibt, das unseren begrenzten Erfahrungs- und Erkenntnishorizont übersteigt. (49)

An anderer Stelle seines Buchs bezieht sich Ruppert auf Hellingers Begriff der

»großen Seele« (447), welche Familienkonflikte wie von alleine löse, »ohne dass Hellinger noch viel eingreifen« müsse (ebd.). Der unbedingte Glaube an etwas über den Menschen Verfügendes, etwas, das uns »in den Dienst nimmt« – Ruppert zitiert in diesem Zusammenhang eine Kollegin, die von einer »inneren Weisheit« bzw.

einem »Schamanen in uns« (60) spricht –, ist die Voraussetzung für das reibungslose Funktionieren solcher Art Aufstellung.

Hellinger und mit ihm alle esoterischen Bewegungen bauen auf einen Glau- bensbegriff, der auf Obrigkeiten und unhinterfragbare Autoritäten gemünzt ist – und sich insofern nicht von demjenigen der katholischen Kirche unterscheidet.

Zu diesem autoritäts- und herrschaftsfixierten Glauben gehören jedoch noch zwei theoretische Grundannahmen des Hellingerschen Konzepts, die so etwas wie eine universelle Erklärung für jegliche psychische Erkrankung bzw. Störung darstellen sollen.

2 Zur ökonomischen Seite ist anzumerken: Hellinger versammelt(e) an einem Wochenende zum Teil mehr als 200 Hilfesuchende, von denen er jeweils mehrere hundert Euro Eintrittsgeld kassierte. Nicht selten nimmt er so mehr als 20.000 Euro an einem Wochenende ein. Sein Münchner Schüler, Franz Ruppert, Professor an der Katholischen Fachhochschule, benutzte seine privaten Veranstaltungen in den Räumen der FH dazu, Studierenden einen Pflichtschein für seine Seminare machen zu lassen.

Diese mussten zum Erwerb einer Note an Privataufstellungen von Ruppert teilnehmen, bei denen auch zahlungswillige Kunden seiner Psychiatrie-Aufstellungen (ca. 50 bis 70 Personen à 200 Euro für drei Tage) anwesend waren. Die Hochschulleitung hat trotz Protesten gegen den Missbrauch der Studierenden bis heute keine arbeitsrechtlichen Maßnahmen gegen Ruppert eingeleitet.

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Erstens: In Familien gebe es eine Ursprungsordnung. Die Ordnung bilde sich durch die Zeit heraus. Nach Hellinger hat alles, was zuerst in einem System da war, Vorrang vor demjenigen, das später kommt. So habe der Erstgeborene Vorrang vor dem Zweitgeborenen, die Eltern Vorrang vor ihren Kindern, die Lehrer vor ihren Schülern. In Bezug auf die Geschlechterordnung hätten Männer Vorrang vor Frauen. Bei Familiensystemen wird die Regel umgekehrt, erhält die Gegenwartsfa- milie Vorrang vor der Herkunftsfamilie, die Zweitfamilie vor der Erstfamilie etc.

(vgl. Nuber 2003, 10).

Zweitens: Neurosen und andere psychische und psychosomatische Problemati- ken entstünden durch eine unterbrochene Hinbewegung zu den Eltern. Kinder, so Hellinger, wollten ihre Eltern lieben, gleichgültig, was geschehen sei. Wenn diese liebende »Hinbewegung« des Kindes zu den Eltern unterbrochen werde, dann schlage die Liebe in Schmerz um, der so groß sei, dass das Kind nie mehr liebenden Kontakt zu den Eltern aufnehmen wolle. Hellingers Aufstellungen bestünden vor allem darin, diese »unterbrochene Liebe« ans Ziel zu führen, indem er die Kinder dazu bringt, sich vor den Eltern-Stellvertretern zu verbeugen und diesen »Ehre« zu erweisen. Sobald dies gelinge, seien sowohl die Kinder als auch die Eltern gesund.

So behauptet beispielsweise Ruppert für Frauen, die nach einer Vergewaltigung Kinder bekommen haben:

[Die Frau] verachtet den Vater des Kindes aus enttäuschter Liebe. […] Sie reduziert mitunter seine Bedeutung dem Kind gegenüber auf die eines ›biologischen Erzeugers‹.

Sie wertet damit die väterlichen Seelenanteile im Kind ab und schwächt das Kind in seiner seelischen Kraft. Das Kind fühlt sich dann grundsätzlich defizitär. (2002, 73) Hellingerjünger Ruppert empfiehlt deshalb Frauen, die vergewaltigt oder sitzenge- lassen wurden, sie sollten, »den abwesenden Vater des Kindes […] lieben und achten« (ebd.), damit auch die zum Heil des Kindes nötige väterliche Seele in die Seele des Kindes hineinwirke, und die liebende Hinbewegung des Vaters zumindest über diesen Umweg zur Geltung komme.

Neben diesen beiden theoretischen Grundannahmen der hellingerschen Auf- stellung gibt es die Prämisse, dass emotionale Erfahrungen durch Anwendung von Vernunft gestört würden. In einem Leserbrief in der Elbe-Jeetzel-Zeitung vom 14.1.2005, der die Familienaufstellung verteidigen zu müssen glaubt, schreibt eine Hellinger-Anhängerin:

Wer sich mit dem Thema ›Aufstellungen‹ beschäftigt hat und auch selber aufstellt, kann bestätigen, dass die körperliche oder seelische Heilung nicht als Ziel versprochen wird, sondern dass es darum geht, die Kraft für das eigene Leben zu finden und den Platz im Leben einzunehmen, der ›stimmt‹. Das kann man mit Worten nicht erklären;

das muss man gefühlt haben. Durch das Fühlen erhält man die wichtigen Informa- tionen, die die Seele ›weiterbringen‹.

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Diejenigen, die das nicht fühlten, seien eben noch nicht so weit oder gar selbst psychisch krank. Der für Sekten typische totalitäre Zirkelschluss ist in dieser Absage an die Möglichkeiten menschlichen Denkens und Infragestellens vollendet. Kriti- sieren dürfen Familienaufstellungen nur diejenigen, »die sich ›wirklich‹ eingelassen haben« (Pankofer 2005, 41).

Für Ruppert zählen nicht die kritischen Stimmen und die fehlenden empirischen Belege für die Wirksamkeit von Familienaufstellungen, sondern letztlich nur die

»zahlreichen positiven Rückmeldungen« von Patienten und Patientinnen, »welche die heilende Wirkung von […] Aufstellungen allgemein für ihre seelische Gesund- heit an sich selbst erlebten« (2002, 290). Sein Argument folgt dem Muster: Du musst diese Erfahrungen erst machen, von denen ich spreche, und dann wirst du davon überzeugt sein, dass ich recht habe. Diejenigen, die andere Erfahrungen machen, werden nicht nur nicht ernst genommen, sondern als psychisch Kranke diffamiert (vgl. Reuter 2005).

Doch gegen solche Analysen der die Aufstellung und ihre scheinbaren Erfolge strukturierenden Momente wehren sich die Vertreter der hellingerschen Familien- aufstellung. Da Erfahrungen »im Medium gesellschaftlicher Denkformen gemacht werden«, sind sie auch vermittelbar, diskutierbar und bestreitbar und als Erfahrun- gen in bestimmten gesellschaftlichen Situationen und Bezügen lediglich »in theo- retischer Reflexion zu begreifen« (Markard 1999, 8):

Erfahrungen, die nicht auf solche unanschaulichen, gleichwohl strukturierenden Momente hin analysiert werden, werden unvollständig oder ›schief‹ analysiert.

Kritik und Verstand – also diejenigen Fähigkeiten, die den Menschen neben seinen emotionalen Befindlichkeiten und seiner Möglichkeit kennzeichnen, seine Welt handelnd zu verändern – werden von den Gefolgsleuten der hellingerschen Aufstel- lung jedoch nicht nur bei denjenigen verteufelt, die sie ›von außen‹ aufs Korn nehmen, sondern begriffliches Erklären und Erkennen werden auch während einer Aufstellung ausgeschlossen:

»Ich vermeide es daher, so gut es geht«, beschreibt Psychosen-Aufsteller Ruppert, unmittelbar nach therapeutischen Interventionen, welche die Seele erreichen, Erklä- rungen abzugeben. Ob etwas Wesentliches geschehen ist, sieht man deutlich an der Körperhaltung des Patienten, seinem Blick, seiner Mimik und Gestik, der Art, wie er atmet. Verbale Kommentierungen können den seelischen Prozess stören und wieder den kritischen Verstand ins Spiel bringen, der das Problem bisher zwar nicht lösen, aber vermeintlich sehr genau analysieren konnte. Daher immer auch die Bitte an die anderen Teilnehmer in einer Aufstellungsgruppe, den seelischen Prozess eines anderen Menschen nicht durch neugierige Fragen zu stören. Mit einem grundsätzlichen Ausweichen vor Diskussionen über oder auch Kritik an therapeutischen Methoden hat dies nichts zu tun. (2002, 428)

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Wie mit Kritik ›von innen‹ umgegangen wird, zeigt ein Beispiel, das in der Zeitschrift der Hellingerianer abgedruckt wurde: Reinhard Bauß, ein Hellinger- Schüler, kritisierte diesen, weil er auf dem Internationalen Hellingerkongress in Würzburg im April 2003 einer jungen Frau, die aus Eritrea in Bürgerkriegszeiten geflohen war und deren einer Elternteil nun dorthin zurückgegangen sei, eingeredet habe, sie müsse zurück in ihre Heimat. Hellinger erwiderte diese Kritik, indem er sich und seiner Schule die Deutungshoheit über die Körperhaltung, Mimik und Gestik der Klientin einräumt: Sein Kollege Peter Levine, der in der ersten Reihe in Würzburg gesessen habe, habe ihm mitgeteilt, dass

in dem Moment, in dem ich das sagte, sah, wie bei der Frau in ihrem Becken Energie frei wurde und ihr Rückgrat sich bewegen konnte. Für ihn war, was ich sagte, eine erfolgreiche Traumabehandlung. (zit. n. Kierspe-Goldner 2005, 147f)

2. Faszination der hellingerschen Familienaufstellung:

Sozialpsychologische Erklärungsversuche von Bauriedl und Keupp

In Bezug auf die große Popularität Hellingers, zu dessen Veranstaltungen – auch in Kleinstädten – kaum weniger als 500 Leute kommen, wäre sozialpsychologisches Denken aufgefordert, die gesellschaftlichen Bedingungen und damit Voraussetzun- gen für seinen Erfolg zusammenzudenken mit den darin angebotenen Praxisformen und Menschenbildern. Gleichzeitig aber müssen sowohl die Beweggründe für die Teilnahme als auch die reale Praxis der Familienaufstellung aus der Sicht der teilnehmenden Menschen nachvollzogen werden können, wobei deren Begründun- gen für die Teilnahme und den anschließenden »Erfolg« in eine theoretische Aufschlüsselung einzubeziehen sind. Im Folgenden werden zwei sozialpsychologi- sche Theorieansätze dargestellt, die explizit betonen, dass sie sich kritisch mit gesellschaftlichen Entwicklungen und insbesondere der Familienaufstellung von Hellinger beschäftigten: die Beziehungsanalyse Thea Bauriedls und die reflexive SozialpsychologieHeiner Keupps.

Bauriedl, Münchner Psychoanalytikerin, stellt vor allem die Psychodynamik bei den Familienaufstellungen nach Hellinger in den Vordergrund ihrer Theoriearbeit:

Um das kulturell wirksame Faszinosum ›Bert Hellinger‹ zu verstehen, müssen wir uns wohl allgemein mit den Heils- und Heilungsphantasien in unserer Gesellschaft befassen. […] Interessant wird [Hellinger] erst, wenn man das, was er predigt und tut, als ein Symptom unserer Gesellschaft versteht. […] Wenn das Gefühl zunimmt, desorientiert und bedroht zu sein, [wird] die Suche nach ›Ordnung‹ und Sinn im eigenen Leben […] umso dringlicher […]. Gegenwärtig erleben wir in unserer Gesellschaft und in vielen anderen Ländern eine große Verunsicherung über die zukünftigen Lebenschancen jedes Einzelnen und der Menschheit insgesamt. In

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solchen Zeiten tendieren unsichere Menschen dazu, sich einem Führer unterzuord- nen, der ihnen die Erlösung von allem Übel, den Sieg über das Böse, insbesondere über die ›bösen Feinde‹ verspricht (2003, 39f).

Der Begriff von Gesellschaft, den Bauriedl nutzt, findet sich in vielen psychoana- lytischen und sozialpsychologischen Konzepten: Einmal meint sie schlicht die je individuelle »Lebenswelt«, wenn sie von »unserer Gesellschaft« spricht, ein ander- mal meint sie mit Gesellschaft ein Gebilde, dessen Symptom die Hellingerbegeiste- rung sei; ein weiteres Mal meint sie die bundesdeutsche Nation in Abgrenzung von

»vielen anderen Ländern«. Irgendwie istGesellschaftvorhanden, mal außerhalb und mal innerhalb der Subjekte, mal sie beeinflussend, mal sie prägend: Eine klare Definition ist nicht erkennbar, obwohl doch die Psychologie eine wissenschaftliche Disziplin ist, die sich insbesondere mit der Frage des Zusammenhangs von Subjekt und Gesellschaft bzw. mit dem Individuum-Welt-Verhältnis beschäftigen sollte.

Zu erahnen ist, dass Bauriedl die Idee einer postmodernen Gesellschaft bzw.

einer reflexiven Moderne (Beck, Giddens, Keupp) übernimmt. Diese wird nach den Chancen bestimmt, die Lebensführung individuell frei zu entwickeln, was gleichzeitig mit dem Risiko behaftet ist, jederzeit individuell scheitern zu können.

Die Attraktivität der hellingerschen Familienaufstellungen erklärt Bauriedl mit drei

»Heils- und Heilungsvorstellungen unserer Gesellschaft«: erstens würden »in der allgemeinen Verunsicherung […] Führer gesucht, die wissen, was gut und böse ist und ihren Anhängern Geborgenheit in der Gemeinschaft bieten – Unterordnung vorausgesetzt« (2004, 6); zweitens geschehe diese »Bindung über diese Führer […]

über starke Gefühle, die den Führer und das, was er tut, als ›richtig‹ bestätigen«

(ebd.); drittens würden Menschen »in der Gefahr […] spontan nach Einigkeit und Versöhnung untereinander« (7) suchen, was dann möglich sei, wenn das Falsche vom Richtigen eindeutig geschieden werde. Diese Heilungsvorstellungen seien aber – und das ist der Schlüssel für Bauriedls Konzept – nur deshalb wirksam, weil sie etwas in den aktuellen Beziehungen der leidenden und mit Problemen ringenden Subjekte ansprächen, was seit deren Kindheitserfahrungen auf eine »Lösung« warte.

Familienkonflikte erklärt Bauriedl damit, dass wir alle die »schon in der Kindheit von den Eltern übernommenen Strategien, mit Konflikten umzugehen« (2), über- nommen hätten:

Die Szenen bringen wir alle mehr oder weniger und in unterschiedlicher Ausprägung aus den Erlebnissen unserer Kindheit mit. Mit unseren früheren Bezugspersonen haben wir solche Szenen erlebt, das hat unsere innere Welt geprägt und so prägen diese Szenen auch alle unsere weiteren Beziehungen im Leben (3).

Hellinger sei derjenige, der mit diesen unreflektierten Kindheitsszenen nun wie auf einer Klaviatur spiele: Er re-inszeniere die Kindheitserfahrung von uns allen, dass die Bedürfnisse von Vater und Mutter immer wichtiger gewesen seien als unsere

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eigenen als Kinder; er re-inszeniere die Kindheitssituation, in der wir uns in einen

»glücklichen Zustand« dadurch versetzen wollten, indem wir uns »dem ›Vater‹

vollständig ausliefern« (8); und Hellinger bewirke mit seiner Aufstellung folgende Retraumatisierung: Die feststehende Überzeugung von Kindern, dass sie selbst schuld seien an ihrem Unglück und die Eltern »groß und richtig«, werde durch die Familienaufstellung erneut »eingeprägt«.3

Bauriedls Kritik stimmt in großen Teilen den Hellingerschen Ideologemen zu.

So geht sie, die Psychoanalytikerin, von einer frühkindlichenPrägung durch die Eltern aus, die alles weitere in unserem Leben bestimme; und Bauriedl akzeptiert die Idee einer »ungesellschaftlichen« Familie, deren Rollen (mächtiger Vater) dargestellt werden ohne einen klärenden Bezug zu den historischen und ökonomi- schen Verhältnissen, in denen diese ihre Bedeutung gewinnen.

In Bauriedls Beschreibung der Hellinger-Klientel findet sich das gleiche Argu- mentationsmuster wieder, das Klaus Holzkamp 1995 an psychoanalytischen Interpretationen der Entstehung von Rassismus kritisiert: rassistisches Handeln werde demnach durchweg als »Angelegenheit defizitärer, infantilisierter Individu- en« (1997a, 314) dargestellt. So stellt auch Bauriedl dieDefizitederjenigen, die bei Hellinger Heilung suchen, in den Mittelpunkt ihrer Analyse, gepaart mit der Behauptung ihrerfrühkindlichen Traumatisierung, die durch eine Familienaufstel- lung nach Hellinger aktualisiert würde. Insofern bestätigt Bauriedl den hellinger- schen Ansatz, spekuliert gar selbst über Menschen, von denen sie nichts weiß.

Übrig von ihrer Kritik bleibt alleine die Behauptung, die Psychoanalyse würde

»besser« mit Klienten/Klientinnen und deren Erinnerungsmaterial umgehen.

Dabei steht in beiden Denksystemen die Thematisierung von Kindheitserfah- rungen als determinierenden Faktoren aktueller individueller Problematiken und damit der Verzicht auf ihre Bedingungen überwindende, befreiende Handlungs- möglichkeiten im Mittelpunkt. Wie bei Bauriedl findet sich auch bei zahlreichen anderen Psychoanalytikern, das ergibt eine Auswertung zahlreicher Hefte der sich als gesellschaftskritisch verstehenden psychoanalytischen Zeitschriftpsychosozial, kein struktureller Unterschied zur hellingerschen Ideologie. So hat beispielsweise Hartmut Radebold keine Bedenken, in Zusammenhang mit Familienproblemati- ken Handlungen, Denkinhalte und Erinnertes von Klientel wie Nicht-Klientel

3 Nicht nur Bauriedl, auch viele, die systemisch-therapeutisch arbeiten, betonen zum Thema hellin- gersche Familienaufstellung, dass es neben dieser »schlechten« und »bösen« Variante auch die »gute«

Aufstellungspraxis der Virginia Satir gebe. Diese Spaltung verdeckt allerdings, dass auch Satirs Theorie-Welt fast ausschließlich aus Familie besteht, in der z. B. Schule (der Kinder) und Arbeits- stätten (der Männer) kaum vorkommen. Frauen erscheinen bei Satir in der Regel als Hausfrauen und zuständig für die familiäre Reproduktion (zur Kritik vgl. Friele 2005 u. 2007).

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einfach als »transgenerationelle Weitergabe« bzw. »familiäre Delegation« (2003, 14) zu bestimen, ohne die Beschränkung auf innerfamiliäre Gegebenheiten wissen- schaftlich ausweisen zu können. Zu solchen Denkfiguren schreibt kritisch Holz- kamp:

Die Neustrukturierung meiner Vergangenheit aus der Perspektive meiner je gegenwär- tigen Lebenslage gelingt demnach keineswegs durch ein immer ›tieferes‹ Hinabsteigen in meine individuellen Kindheitserfahrungen, sondern im Gegenteil durch die reflexive Überwindung der Vorstellung des Eingesperrtseins in den Käfig meiner Kindheit, durch die alles, was ich jetzt bin und leide, determiniert sein soll. (1997b, 95f)

Die Verdoppelung der Ohnmachtserfahrung durch die theoretische Fixierung auf einePrägungüber Kindheitserlebnisse (wie Bauriedl dies tut), hält die Hilfesuchen- den – im Gegensatz zum Helfer – in der Opferposition. Die Frage danach, welchen tätigen Anteil diese daran haben, sich in der Opferposition aufzuhalten (psycho- analytisch: den sekundären Krankheitsgewinn erkennen), würde zwar die Möglich- keit eröffnen, Handlungsschritte für zukünftig problematische Situationen zu erkunden; gleichzeitig würde aber der Therapeut die »Reinheit« des Opfers und die eigene moralische Macht durch die Identifikation mit ihm in Frage stellen müssen.

Mit anderen Worten:

Mit der Nähe zu den Opfern bekommen die Helfer in der Arbeit mit Traumatisierten etwas von der Besonderheit ab, die auf das Opfer fällt, etwas von dessen moralischer Autorität geht durch die Arbeit auf sie über. […] Dabei wird der Zwang zur identifikatorischen Lektüre der Opfergeschichten durch den gemeinsamen Feind verstärkt. […] Doch diese Identifikation fordert als Tribut die strikte Zweiteilung der Welt in Opfer und Täter, in Freund und Feind. Je klarer und eindeutiger, je dichotomer die Welt wird, desto rigider wird der Loyalitätsdruck. (Lamott 2003, 57) Als Vertreter einer reflexiven Sozialpsychologie hat Heiner Keupp aktiven Anteil an der wissenschaftlichen Kritik von Familienaufstellungen nach Hellinger. Doch nicht nur das: Keupp hat in seiner Funktion als wissenschaftlicher Beirat der Münchener Volkshochschule dafür gesorgt, dass alle Veranstaltungen, die mit Hellingers Methode arbeiten, von der Agenda der VHS München gestrichen werden mussten. Im Folgenden werden seine Argumente dazu geprüft, warum Familienaufstellungen nach Hellinger von einer enorm großen Anzahl Menschen besucht werden: »Wie [konnte] es Hellinger gelingen, eine so große Anhängerschaft zu rekrutieren?« (2005, 20) Antworten sucht Keupp über den Rekurs auf das Gebrauchswertversprechen(W. F. Haug) der Veranstaltungen.

Erstens: Hellinger verspreche den »Tausenden von Psychofachleuten« einen Zuwachs an»›Pastoralmacht‹, wie der Philosoph Michel Foucault die hegemoniale Kontrolle über die Seelen von Menschen nennt«; die real erlebte Ohnmacht vieler

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Menschen in Helferberufen werde bei Hellinger durch ein »Schnellverfahren mit punktgenauen Lösungen« (21) kontrastiert, was verführerisch sei.

Zweitens: Hellinger biete eine faszinierende Erzählung an: Es sei die »von uner- schütterlicher Gewissheit getragene Erzählung von der unverrückbaren Ordnung der Dinge« (ebd.), von der Wahrheit und dem Richtigen im menschlichen Leben.

Wieso aber – so Keupps Frage – ist gerade heute eine solche Ideologie wirksam?

»Welche gesellschaftlichen Grunderfahrungen können dieses Angebot überhaupt attraktiv machen?« (26) Hier kommen die alten Formeln der reflexiven Sozialpsy- chologie zum Tragen: Die Lebensformen der Menschen seien heutegeprägtdurch eine »tief greifende Individualisierung und […] explosive Pluralisierung« (ebd.); ein

»Wertewandel« habe zentrale Bereiche unseres Lebens verändert, das sei vor allem an den Themen »Familie und Identität« zu erkennen. Zudem würden die »biogra- fischen Ordnungsmuster eine reale Dekonstruktion erfahren« (29); Richard Sen- netts BuchDer flexible Mensch, in dem er am Beispiel von »Job«-Biografien die Umbrüche der kapitalistischen Arbeitswelt ebenso darstellt wie die damit verbun- denen Lebensentwürfe und deren riskante Seiten – wird als Zeugnis für die veränderte US-amerikanische (und damit implizit der veränderten europäischen) Produktionssphäre aufgerufen; der zusammenfassende Absatz über die veränderten gesellschaftlichen Verhältnisse – als Prämissen der Wirksamkeit hellingerscher Gebrauchswertversprechen – endet mit der banalen Formulierung:

Die beschriebenen gesellschaftlichen Veränderungen greifen in unser Leben ein, und sie verändern auch unsere Vorstellungen von Normalität und das darauf bezogene psychosoziale Handeln. (31)

Keupps Ansatz, das Versprechen der Familienaufstellung (wie es vor allem durch Mundpropaganda und durch das Internet weitergereicht wird) nach seinem von den Subjekten erhofften Gebrauchswert aufzuschlüsseln, wäre außerordentlich hilfreich. Und notwendig ist auch die Klärung der Frage, welche aktuellen gesellschaftlichen Entwicklungen ein solches Gebrauchswertversprechen bei den Subjekten massenhaft wirksam werden lassen können. Allerdings wären dazu eine konsistente Subjekttheorie sowie eine Theorie gesellschaftlicher Verhältnisse nötig, in denen die ökonomischen, sozialen, politischen und kulturellen Verän- derungen in Bezug auf die Subjekte begriffen werden können.

DasSubjektals gesellschaftliches Individuum, als bedingtes und zugleich seine Bedingungen veränderndes gesellschaftliches Wesen, wie es in derKritischen Psy- chologiein Anschluss an die marxschen »Thesen über Feuerbach« gefasst ist, kommt bei Keupp nicht vor. Sein Begriff vom Subjekt ist weder gesellschaftlich bestimmt – das Subjekt sei ein »Individuum, das sein Leben autonom zu bestimmen bemüht ist« (25) –, noch einer, der subjektives Handeln (also das, was Keupp erklären will:

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den Weg zu einer Halle zu gehen, in der Hellinger auftritt, dort an der Kasse Eintritt zu bezahlen und sich unter hunderte von anderen »Erwartungsvollen« zu setzen) praktisch ins Verhältnis zu Vorgängen im gesellschaftlichen Maßstab setzen kann.

Handeln kommt in der reflexiven Sozialpsychologie Keupps lediglich aufs Indivi- duum bezogen vor und dann in der Form der Mainstreampsychologie: als »zielge- richtetes und aktives Einwirken auf die soziale Umwelt« (ebd.). Zudem habe sich das Individuum »in eine immer schon gegebene und machtstrukturierte Welt einzugliedern« (ebd.) und erlebe dies notwendigerweise als Einschränkung seiner Selbstwirksamkeit.

Gesellschaft bzw. die aktuellen gesellschaftlichen Grundtatsachen werden von Keupp mit den Begriffen Netzwerk-Gesellschaft, neuer Kapitalismus, globalisierter Kapitalismus oder Turbokapitalismus etikettiert, ohne dass deutlich würde, was denn die materielle Grundlage für all diese neuen Dinge sein könnte – mit Ausnahme der Behauptung, die »aktuellen gesellschaftlichen Umbrüche gingen ans

›Eingemachte‹« (28), was ich lediglich als materielles Ergebnis meiner Mutter Gartenarbeit kenne. Veränderungen innerhalb der kapitalistischen Produktions- weise werden in Keupps Erklärungsansatz noch nicht einmal gestreift. Was die Veränderungen »in den privaten Haushalten« (27) mit der neuen Produktivkraft Mikrochip zu tun haben, was scheinbar neue Werte mit den Umbrüchen in der Arbeitswelt und damit in den subjektiven Lebenswelten zu tun haben, und warum Hellingers Aufstellungen als Lösung für irgendwelche Probleme erscheinen können – auch darauf hat Keupp keine Antwort. Fast reflexhaft wird auf die Identitätsarbeit des Einzelnen und deren Prekarität verwiesen, ohne dass deutlich würde, wieso diese

»Arbeit« gerade heutzutage und nicht schon vor 150 Jahren zentral gewesen sei (wobei sich auch immer die Frage stellt, was getan wird beim »Identitätsarbeiten«?).

Es zeigt sich also, dass diereflexive SozialpsychologieHellingers Aufstellung und ihre

»Attraktivität« aus zweierlei Gründen nicht erklären kann:

1. Ihr Subjektbegriff ist theoretisch nicht in der Lage zu erfassen, wieso Menschen sich autoritären und vereinfachenden Lösungsansätzen für soziale und/oder individuelle Probleme zuwenden. Das deshalb nicht, weil sie subjektives Han- deln nur in der Form des autonomen Handelns innerhalb sozial geprägter Umwelt (zugespitzt: als Identitätsarbeit, die sich lediglich innerhalb des Subjekts abspielt) und nicht in der Form individuellen und/oder gemeinschaftlichen Handelns in den Verhältnissen zur Veränderung eben dieser denken kann.

Insofern trägt die reflexive Sozialpsychologie indirekt zur Attraktivität eines Angebots bei, das entfremdete Vergesellschaftung gegen die Tendenz von Indi- vidualisierung und Selbstwirksamkeit ermöglicht, weil sie selbst in ihrer Sub- jekttheorie keinen Platz hat für ein »attraktives« Angebot im Sinne eines gesell- schaftlich vernünftigen Handelns in kapitalistischen Verhältnissen.

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2. Ihr Begriff von Gesellschaft ist so wenig klar und strukturiert, dass die reflexive Sozialpsychologie nicht in der Lage ist, subjektive Wünsche und Bedürfnisse auf tatsächlich neue Anforderungen und damit zusammenhängende propagierte Werte und ideologische Formen einer neuen Produktionsweise innerhalb kapi- talistischer Verhältnisse zu beziehen. »Stochern im Nebel« statt »Klarheit der Analyse« trägt aber genau zu dem Phänomen bei, das Keupp bei Hellinger-An- hängern feststellt: dem Wunsch nach (theoretischer) Ordnung und dem Bedürf- nis danach, dass Wissenschaftler mutig genug sind, bei aller Reflexivität einen richtigen, weil begründeten Standpunkt einzunehmen.

3. Autorität und Autonomie: Hellingers Familienaufstellung in neoliberalen Verhältnissen

Hellingers Subjekt-Konzeption, die er in seiner Aufstellungspraxis Realität werden lässt, spielt individuelle »Freiheit« in Bezug auf Vergangenheits- und Zukunftsent- würfe vor unter Ausklammerung konkreter Analysen konkreter Lebenssituationen (und damit auch der sozialen und ökonomischen Bedingungen); gleichzeitig ist die Akzeptanz einer vorgegebenen neuen Ordnung erfordert, welche von Hellinger selbst repräsentiert wird. Damit ist eine Reihe neoliberaler Anrufungen an heute lebende Subjekte in Hellingers Aufstellungspraxis konterkariert. Bedenkt man die Versprechen und Anpreisungen des Neoliberalismus zu autonom zu nutzenden, freien individuellen Entfaltungsmöglichkeiten, frei wählbaren Lebensstilen, zur Bedeutung lebenslangen Lernens für die persönliche Entwicklung und der Mög- lichkeit, jede Krise und jede Problematik als Herausforderung (challenge) zu betrachten, die gemeistert werden könne, ergibt sich das Paradox, dass als einzige Sicherheit der beständige Wandel versprochen wird (was als Prämisse einer perma- nenten Verunsicherung der Subjekte weiter theoretisiert werden müsste). Hellin- gers autoritäres Angebot steht dieser Seite der neoliberalen Entwicklung entgegen – und zugleich auch nicht: Indem es lediglich die hierarchisch abgesicherte Einord- nung in vorgegebene imaginäre Ordnungen (wie Staaten, Volksgemeinschaften, Sippen etc.) als Orientierung vorgibt, kann die Familienaufstellung vielen Men- schen entgegen ihrem Verunsicherungsgefühl einen Halt versprechen – ob dieses Versprechen wirklich und langfristig Sicherheit bieten kann, um in neoliberalen Verhältnissen überleben zu können, darf bezweifelt werden. Insoweit dürften auch für die Hellingersche Familienaufstellung die Tage auf dem Markt der Psycho-Sze- ne gezählt sein.4

4 Seit Bekanntwerden der Tatsache, dass Hellinger in den Räumen Adolf Hitlers in Berchtesgaden wohnt, hat sich ein erklecklicher Teil seiner SchülerInnen von ihm abgewendet. Dahinter steht

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Schluss

In Adalbert Stifters eingangs zitierter GeschichteDer beschriebene Tännlingantwor- tet Hanna auf Hannsens Einwand, dass die heilige Jungfrau Maria doch nicht alle Wünsche der an sie Betenden erfüllen könne, weil doch darunter auch verwirrteste und verkehrteste Dinge zu finden seien, im Sinne des totalitären Zirkelschlusses, der auch Hellingers Familienaufstellung zugrunde liegt:

Wenn [die Menschen, kw] um verwirrte und verkehrte Dinge bitten, […] so lässt sie diese nicht in Erfüllung gehen; aber bitten muss man sie immer, weil man nicht wissen kann, welches Ding verwirrt oder verkehrt ist, und weil sie allein die Entscheidung hat, was in Erfüllung gehen soll und was nicht.

Literatur

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jedoch auch deren Erfahrung, dass die autoritäre Grundstruktur des Hellingerangebots auf Dauer zu wenig in die eigenen Kassen spült. Die Absetzbewegung von Hellinger ging vor allem vom »Papst der Systemiker« Arist von Schlippe aus, dem es jahrelang nichts ausmachte, zur Gefolgschaft gerechnet zu werden.

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Referenzen

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