BHAIRAVA
VON H. V. Stietencbon, Heidelberg
Der Gott Bhairava, dessen Name zwar eigentlich von sanskrit bhiru =
furchtsam abzuleiten wäre, aber nach Auffassung der Inder etwa der Fürch¬
terliche, Gräßhche, Grausige bedeuten solP, ist nach der Tradition eine der
schreckenerregenden Formen des großen Gottes Siva. In der Praxis der
Bildhauerschulen orientierte man sich für die Darstellungen des Bhairava
an dem Mythos dieses Gottes und stellte ihn, den verschiedenen Phasen der
Erzählung entsprechend, am häufigsten in folgenden drei Formen dar : als
BrahmaSiraSchedakamürti, als Bhiksätanamürti und als Kankälamürti.
Von diesen drei Formen eignet sich die mittlere, Bhik.satanamürti, d. h. die
Gestalt, in der Siva um Almosen bettelnd einher wandert, am ehesten zu
einer Milderung der grauenhaften Elemente in der Gestalt des Gottes. Die
beiden anderen Formen aber zeigen Bhairava in seiner vollen Wildheit.
Siva als Brahmasirasehedaka hält in seiner linken Hand ein abgeschla¬
genes Haupt am Haarschopf gepackt. Aus dem Halsstummel tropft nooh
Blut, das begierig von einem Hund aufgeleckt wird, der den Gott begleitet.
Als Kankälamürti ist Bhairava gerade dabei, einen Mann aufzuspießen,
oder er schleppt bereits auf der Schulter den verstümmelten Leichnam bzw.
dessen Gerippe mit sich, während er mit ausgestreckter Bettelschale durch
die Lande zieht. In beiden Fällen ist der Gott entweder nackt oder mit
einem Tigerfell bzw. einer Elefantenhaut bekleidet. Eine mächtige Girlande
aus Menschenschädeln bildet seinen wichtigsten Schmuck. Bisweilen ver¬
treten sich ringelnde Schlangen die Ornamente an Hals oder Armen. Die
Hautfarbe des Gottes ist dunkel. Er hat runde, rollende Augen von gelber
oder roter Farbe, weit geblähte Nasenfiügel, und aus seinem Mund ragen
zwei hauerartige Fangzähne heraus. Grauenerregend ist die Schilderung in
den Texten, grauenerregend sioher auch der Eindruck, den der Anblick
des Bhairava auf den einfachen Gläubigen machte. Es gibt allerdings auch
1 bhairavam = bhayänakam (schrecklich), Amarakosa 1,7,20
= träsakrt (Entsetzen bereitend), Sabdakalpadruma.
bhairavah = bhimarüpa (furohtgestaltig), Väyu P. 55,30
= bhisana (entsetzlich), Siva P.
= bhiravah (bhi-ravah) = bhayamkaro ravo yasya, Etymologie nach Sabdakalpadruma s. v. bhairavah.
Darstellungen, denen der Künstler trotz aller schrecklichen Details einen
Ausdruck von Serenität, von innerer Ruhe verliehen hat*.
Den drei genannten Formen des Siva-Bhairava liegt ein einziger Mythos
zugrunde, der allerdings in den Puränen verschiedenartig erzählt wird und
der in verschiedene Teile zerfällt. Der Gott Rudra-Siva, so heißt es im Va¬
räha Puräna*, sei von seinem Vater Brahmä mit dem Namen Kapälin,
Sehädelträger, benannt worden. Der Name mißfiel dem cholerischen Rudra
und im Zorn schlug er mit seinem linken Daumennagel eines der fünf Häup¬
ter seines Vaters ab, so daß dieser seither nm- noch vier Köpfe besitzt.
Ärgerlicherweise blieb dieser Kopf aber an Rudras Hand kleben. Er konnte
ihn nicht loswerden, so sehr er es auch versuchte, und mußte Brahmä um
Verzeihung bitten. Um von dem lästigen Kopf befreit zu werden, mußte er
zwölf Jahre lang das Leben eines Kapälin führen, eines Bettlers, dessen
Bettelsehalo aus einem menschlichen Schädel gemacht ist. Am Ende dieser
zwölf Jahre gelangte Rudra nach Benares, wo er von dem Haupte seines
Vaters befreit wurde. Benares blieb bis in die Gegenwart die heilige Stadt
des Bhairava.
Während es nach diesem Bericht ausschließhch um einen Streit zwischen
Brahmä und Siva geht, verbindet eine andere Version, die sich in der Vi-
dyeSvarasamhitä des Siva Puräna findet*, die Untat des Bhairava mit der
als Lingodbhavamürti häufig dargestellten und aus mehreren Puränen
bekannten Demonstration von Sivas Überlegenheit über Brahmä und Visnu.
Als diese beiden Gottheiten einst darüber stritten, wer von ihnen der Höch¬
ste sei, sahen sie vor sich ein flammendes Lingam aufragen, von dem sie
weder das obere noch das untere Ende zu sehen vermochten. Sie beschlos¬
sen nachzusehen, wem es gehöre und wo es beginne. Brahmä flog an dem
Lingam aufwärts, Visnu tauchte hinunter. Doch keiner von ihnen konnte
Anfang oder Ende erreichen, soweit sie auch eilten. Erschöpft kamen sie
schließlich wieder an ihren Ausgangspunkt zmück, wo Visnu seinen Mi߬
erfolg zugab. Brahmä aber, der nicht gestehen wollte, daß auch er vor der
überlegenen Mächtigkeit des erstaunlichen Phänomens versagt hatte, log
und behauptete, er habe die Spitze des Lingam und den Kopf des Mahädeva
erreicht und zum Beweise zeigte er eine Ketaki-Blüte, die er unterwegs auf¬
gegriffen hatte. Da öffnete sich das Lingam. Siva trat hervor. Und nun
kommt die Neuerung des Siva Pmäna gegenüber den sonst durchweg fried¬
lichen Versionen dieses Berichtes in anderen Puränen : Äus der Stelle zwi¬
schen den Äugenbrauen erzeugte Siva den Bhairava, der dem unehrlichen
2 Z. B. die DarsteUung des Bhairava in Talkäd oder die Bhiksätanamürti in
Cidambaram, Ostgopuram, Ostseite.
* Varäha P. 97,4-25; Rao, Elements of Hindu Iconography II, 1,174.
* Siva P. I. (VidyeSvarasarnhitä), 7,1 bis 8,5; Meinhard, Beiträge zur Kennt¬
nis des Sivaismus naoh den Puränas (Diss. Bonn 1928) S. 40 f.
Bhairava 865
Brahmä das fünfte lügende Haupt abschlug und auch die anderen vier
Köpfe noch vernichtet hätto, wenn ihm der Gott nicht reumütig zu Füßen
gefallen wäre. Doch zur Strafe wurde dom hochmütigen Brahmä verheißen,
daß er auf der Erde nicht mehr verehrt werden solle, während Siva dem
Visnu zum Lohn für seine Wahrheitsliebe eine große Zahl von Verehrern
zusprach*.
An dieser Darstellung fällt auf, daß Visnu zwar einbezogen ist, aber eine
ziemlich unbedeutende Rolle spielt, während die eigentliche Auseinander¬
setzung auch hier zwischen Siva und Brahmä verläuft. Deutlich ist dies
auch in einer Version, die im Kürma Puräna* und an einer anderen Stelle
des Siva Pmäna' zu finden ist. Brahmä, so heißt es da, habe sich den Rsis
gegenüber als höchster Gott aufgespielt, doch Visnu habe Einspruch er¬
hoben. Die vier Veden aber gaben keinem von beiden recht, sondern priesen
Siva als höchstes Prinzip. Diesen Schiedsspruch hinzunehmen, war Brahmä
aber keineswegs bereit. Statt dessen fordert er den nunmehr in Lichtglanz
erscheinenden Siva hochnäsig auf, cr solle doch bei ihm, Brahmä, seine Zu¬
flucht suchen. Erzürnt bringt Siva nun den Kälabhairava hervor, der den
Kopf des Brahmä abschlägti, worairf dieser die Überlegenheit Sivas erkennt.
Schließlich enthält die bengalische Rezension des Siva Pmäna noch eine
Version, die Visnu ganz wegläßt, so daß die Auseinandersetzung wieder nur
zwischen Siva und Brahmä verläuft, wobei letzterer sich nach Verlust des
Kopfes unterwirft*. Ort dieser Handlung ist Brahmaloka, wohin Siva mit
Devi zur Wohnstätte des Brahmä gekommen ist. Doch nur vier Münder des
Brahmä preisen den illustren Gast. Der fünfte Mund flucht ihm, was Siva
nicht dulden kann und ihn veranlaßt, den unfreundlichen Kopf abzuschnei¬
den.
Bei allen diesen Legenden, die ausgesprochen sektarischen Charakter
tragen, geht es um das Kräfteverhältnis Siva-Brahmä. Dabei ist es nm
natürlich, daß von beiden Sekten verschiedene Antworten gegeben werden
und jede ihren Gott als den Mächtigeren darstellt. In einem Falle wird der
unbeherrschte Rudra gezüchtigt und muß zwölf Jahre lang ein elendes
Bettler leben führen, im anderen Falle wird Brahmä als erbärmhcher Lüg¬
ner denunziert. Diese ganze Auseinandersetzung wurde aber wohl erst von
5 Dieses Ergebnis entspricbt wieder den üblichen unblutigen Versionen der
Lingodbhava-Legende. Vgl. z. B. Skanda P. 3,1,14,25 ff. mit der Verheißung
der Kultlosigkeit Brahmäs, jedoch ohne Auftreten Bhairavas. Brahmä ist von
vornherein viergesichtig = caturänanah. Die unblutigen Versionen liegen auch
allen bildlichen Darstellungen der Lingodbhavamürti zugrunde. Bhairava tritt
in ihnen nicht in Erscheinung.
« Kürma P. II, Kap. 31.
' Siva P. III (Satarudrasamliitä), Kap. 8-9.
* Siva P., bengalische Rezension I (Jnänasarnhitä), 49,64 ff; Meinhard, Bei¬
träge zur Kenntnis des Sivaismus nach den Puränas (Diss. Bonn 1928) S. 41 f.
den Visnuiten provoziert. In visnuitischen Texten nämhch findet sich zu¬
erst die Behauptung, Siva sei der Sohn des Brahmä, aus seiner Stirn ent¬
sprungen oder von ihm gezeugt*. Damit war Siva der Platz des Jüngeren,
Abhängigen, Sekundären zugewiesen, wogegen sich die Sivaiten verständ¬
licherweise zu wehren suchten.
Es läßt sich also mit einiger Bestimmtheit sagen, daß die Bralimaäirasche-
daka-Legenden relativ spät entstanden. Sivas Beiname wurde dabei in
wörthcher Übersetzung aufgefaßt als ,, Derjenige, der den Kopf des Brahmä
abschlägt", wie aus der Legende in ihren verschiedenen Formen hervorgeht.
Es gibt aber meines Wissens keine einzige frühe Quelle, die von einem fünf¬
köpfigen Brahmä spricht*". Seit er überhaupt mehrköpfig auftritt**, er¬
scheint er als vierköpfiger Gott. Der fünfte Kopf mußte erst für die sektari¬
sche Ausdeutung des Bhairava-Namens Brahmasirasehedaka hinzugefügt
werden, um auf diese Weise einen überfiüssigen Kopf zum Abschlagen zur
Verfügung zu haben.
Der Name des Bhairava läßt sich jedoch auch übersetzen als ,, Derjenige,
welcher den Kopf eines Brahmanen abschlägt". Die Brahmanenfeindlich-
keit des Siva ist ja ein alter Zug**. Ihm geweihte Tempel durften zuerst nur
außerhalb der Ortschaften gebaut werden. Der wilde Gott mit seinen Scha¬
ren, deren Tummelplatz die Leichenverbrennungsstätte war, wurde mög¬
lichst nicht in die Stadt hineingelassen.
° Mahäbhärata (Mbh) 12,349,67: Siva-Srikantha verkündet seine PäSupatha-
Religion als Sohn des Brahmä. - Mbh. 12,351,11: Siva als Sohn Brahmäs aus
dessen Stirn entstanden. - Mbh. 12,352,20; 166,16; Harivamsa 43; Hopkins
Epic Mythology § 138: Brahmä zeugt Siva. - Märkandeya P. 50,4 ff; Vi.?nu P.
I, 7,4 ff: Brahmä erschafft Rudra, der halb männlicher und halb weiblicher Ge¬
stalt ist, und fordert ihn auf, sich zu teilen. - Väyu P. I, 9,61 ff.; Kürma P. I, II, 1 ff.; Linga P. I, 41,11: dasselbe, aber Sivaitisch überarbeitet.
Sivaitische Gegenstellen :
Mbh. 13,14,4: Siva erschafft Brahmä. - Väyu P. 34,41; Gonda, Die Religionen
Indiens II, p. 197: Siva läßt durch sein Yoga den Lotos entstehen, aus dem
Brahmä hervorkommt. - Liiiga P. I, 20,73: Brahmä in Vi?nus Schoß aus Sivas
Samen entstanden. - Linga P. I, 41,11; Gonda op. cit. p. 207: Siva geht als
Mannweib aus Brahmäs Stirn hervor, verbrennt Brahmä, verbindet sich mit
seiner weibhchen Hälfte und bringt Götter, darunter auch einen neuen Brahmä
hervor.
*» Erst im Liiiga P. I, 85,11; 85,13ff; 96,40: tan (bzw.: tvan) näbhipankajäj jätah paficavaktrah pitämahah.
** Caturmukha, caturänana: mehrfach in Mahäbhärata und Rämäyana. In
bildliohen Darstellungen seit der Kushäna Zeit.
*2 Der Schädel, den die Käpälikas tragen, ist ein Brahmanensohädel (brahma-
kapäla). Vgl. Prabodhacandrodaya dos Kr§namiSra, Wintebnitz, engl. Ed.,
III, 1, p. 287. - Vedäri = Name Sivas bzw. einer Emanation Sivas. (Bei den
Virasaivas ist Vedäri der Ursprung von einer der Priesterkasten. Vgl. Bhandab¬
kab, Vaisnavism, Saivism and Minor Religious Systems Colleted Works of R. G.
Bhandarkar IV p. 196).
Bhairava 867
Daß Siva-Bhairava als Brahmanenmörder betrachtet wird, zeigt auch
seine Strafe. Das zwölfjährige Herumirren als Bettler, der als deutliches
Merkmal für seine Untat einen menschlichen Schädel mit sich zu führen hat,
entspricht genau den Strafvorschriften der DharmaSästra Literatur für
dieses Vergehen**. Die Rechtsliteratur sieht ebenfalls vor, daß ein Brah¬
manenmörder außerhalb der Ortschaften** und zwar speziell auf Leichen¬
verbrennungsstätten zu wohnen hat**, was für Bhairava und seine Anhänger
zutrifft. Es sei hier noch auf die bekannte Legende hingewiesen, nach der
Siva, während er als Bettler einherzieht, im Däru-Wald bei den Hütten der
sieben Rsis um Almosen bittet. Er verführt dann die Frauen der Rsis und
es folgt die für die sivaitische Tradition und den Lihgakult wichtige Aus¬
einandersetzung der Rsis mit Siva. Auch diese Episode steht in Zusammen¬
hang mit den Rechtsvorschriften für einen Brahmanenmörder, da dieser
nach Baudhäyana nur in sieben Häusern betteln darf**.
Bhairava trägt also die Zeichen und führt das Leben eines für seine Tat
sühnenden Mörders. Der Gott Brahmä andererseits ist Brahmane par ex¬
cellence. Doch nicht weil Siva einen gar nicht vorhandenen fünften Kopf
dieses Gottes abgeschlagen hätte, ist er mit Schuld behaftet, sondern weil
er einen Brahmanen getötet hat, hat er sich damit zugleich am Gotte Brah¬
mä vergangen. Die Tötung eines Brahmanen aber führt uns unmittelbar zum
zweiten Teil des Bhairava-Mythos, dem der andere Beiname des Gottes ent¬
stammt : Kankäla-Bhairava. Dieser Name bezeichnet Siva, der das Gerippe
eines Erschlagenen mit sich herumträgt, und zwar eines erschlagenen Brah¬
manen. Der Erschlagene ist Visnus Torhüter Visvaksena, der dem TriSüla
des wilden Bhairava zum Opfer fiel. Es scheint mir wahrscheinlich, daß beide
Beinamen und Formen des Siva-Bhairava, die BrahmaSiraSchedaka- und
Kankälamürti, ursprünglich von dieser einen Tat, der Ermordung des
Brahmänen und Torhüters Visvaksena abgeleitet worden sind. Trifft diese
Vermutung zu, so haben wir es mit zwei verschiedenen Namen für die glei¬
che Handlung zu tun. Die beiden Namen führten jedoch später auch zur
Aufspaltung des Mythos in zwei Teile, die z. B. im Kürma Puräna*' hinter¬
einander erzählt werden. Der zweite Teil hat, kurz gefaßt, etwa folgenden
Inhalt :
Mit schwerer Schuld behaftet, da er das Haupt des Brahmä abgeschlagen
hatte, irrte Bhairava mit der Schädelschale als Bettlergefäß umher. Einzig
durch die Hilfe des Gottes Visnu konnte er hoffen, erlöst zu werden und so
** Manu 11,73; Visnusmrti 50,1-C; 50,15; Baudhäyana II, 1, 1,2-3; Gautama
XXII, 4; etc.
** Manu 11,73 u. 79; Visnusmrti 50,1; Baudhäyana II, 1,1,3; Gautama XXII, 4.
*^ Baudhäyana II, 1, 1, 3: smaSäne . . . kutim kärayet.
*8 Baudhäyana II, 1, 1, 3: saptägäräni bhaiksam caran svakarmäcaksänas
tena pränän dhärayet / alabdhvopaväsah //
*' Kürma P. II, 31,64 ff; Rao, Elements of Hindu Iconography II, 1, 296.
begab er sich denn auf den weiten Weg zu diesem. Seine Sünde aber, die
Brahmahatyä, nahm die Gestalt eines Weibes an und folgte ihm überall
hin. Und wo immer er anklopfte, verliebten sich alle Frauen in üin und folg¬
ten ihm viele Wegstunden durch die Wälder nach. - Dieser Teil der Legende
ist in der Bhiksätanamürti des Siva-Bhairava besonders häufig dargestellt
worden. - Bhairava zog mit diesen Scharen durch Berge und Täler und ge¬
langte schheßlich zur Wohnstätte des Visnu. Dort stand am Tore der Wäch¬
ter Visvaksena und versperrte den Zugang. Doch der wilde Gott ließ sich
nicht aufhalten. Ungestüm drang er auf den Wächter ein und tötete ihn
nach kurzem Kampf. Den Leichnam spießte er triumphierend auf seinen
Dreizack, hob ihn auf die Schulter und drang in die Wohnung des Visnu
ein. So trat er mit ausgestreckter Bettelschale vor den Gott Visnu. Dieser
ölFnete eine Ader in seiner Stirn und bot dem Gast das daraus hervorquel¬
lende Blut als einzig angemessene Gabe an**. Die Fortsetzung der Legende
entspricht dem, was wir bereits kennen: auf Visnus Rat hin begibt sich
Bhairava bettelnd nach Benares, wo sein Bußgang endet und die Sünde des
Brahmanenmordes von ihm genommen wird.
Dieser Mythos in seinen beiden Teilen, der ja blutrünstig und eindrucks¬
voll genug ist, hat die Basis für alle bildlichen Darstellungen des Gottes
Bhairava geliefert. Und wir könnten uns damit begnügen, daß hier oben
einem grausigen Gott sein Tribut gezollt wird, halb aus Furcht und um ihn
zu besänftigen, halb in perverser Überhöhung des Widerwärtigen und Bruta¬
len, die uns in Indien ja aueh sonst begegnet. Doch der Name Bhairava tritt
uns nicht nur in diesem M3rthos entgegen, sondern er spielt auch eine bedeu¬
tende Rolle in der Sivaitischen Philosophie, und zwar sowohl im erkenntnis¬
theoretischen als auch im ontologischen Bereich. Er taucht zunächst in den
Jfiänakharidas der Ägama-Literatur auf und kommt dann in der Philosophie
des kaSmirischen Sivaimus und im Saivasiddhänta voll zur Geltung. Vom
9. Jahrhundert an läßt sich die Entwicklung der kaämirischen Schule ver¬
folgen. Eine breitere Wirkung aber bekam die Sivaitische Philosophie im
Norden durch die großen Kommentatoren und Systematiker Abhinavagupta
und Ksemaräja im 11. Jahrhundert, im Süden durch Nilakantha, Meykan-
dar, Umäpati etc. im 12.-14. Jahrhundert. Aus dem gleichen Zeitraum, vom
9. bis 14. Jahrhundert, stammen die vorher von mir angeführten Textstellen
aus Kürma-, Varäha- und Siva-Puräna*'. Daß sich dieses Thema vor allem
vom 12. Jahrhundert an großer Behebtheit erfreute, geht aus den zahlrei-
*' Diese Stelle wurde bisher anders interpretiert. Vgl. Rao, op. cit. II, 1, 296:
,, Vishnu cut open an artery on the forehead of Bhairava and told him that the blood that flowed from it, was the fittest food for him." Doch der Text (Kürma P. II, 31, 84-87) rechtfertigt diese Deutung nicht.
*° Zur Datierung vgl. Hazba, Puranic Records on Hindu Rites and Customs,
Dacca 1940. Zitiert werden diese Textgruppen erstmals im 12. Jahrhundert.
Kürma P. II, 31 ist wohl sehr spät. Es wird von den Nibandhokäras nicnt zitiert.
Bhairava 869
chen Zitaten in Nibandha-Texten deutlich hervor. Und in dieser selben Pe¬
riode, nämlich vor allem im 12. bis 15. Jahrhundert, setzen sich auch bild¬
liche Darstellungen des Bhairava, die zuvor nur vereinzelt aufgetreten waren,
in manchen Gebieten allgemein durch.
Der ira 11. und 12. Jahrhundert so deutlich hervortretende Durchbruch
der Bhairava Vorstellung auf verschiedenen Gebieten besagt allerdings nichts
über die Entstehungszeit dieser Konzeption, die noch nicht genau bestiramt
worden ist. Sie ist jedenfalls spätestens im 7. Jahrhundert zu suchen und
wahrscheinlich im Kreise der Käpälikas entstanden. Es handelt sich aber
bei dem Auftreten Bhairavas um eine Erscheinung, die in Kunst, Philoso¬
phie und Legende etwa gleichzeitig populär wird, und die daher auch als
Ganzes gesehen werden muß. Dabei ist die philosophische Seite von beson¬
derer Bedeutung, weil sie unseren Mythos in gänzlich andcrera Licht er¬
scheinen läßt und vielleicht hilft, üm von seinen sektarischen Verzerrungen befreit zu sehen.
Bhairava ist in dieser Philosophie ein Narae für das undifferenzierte
universelle Bewußtsein in dem Zustand, in dem es mit dera Kosraos in sei¬
nem Werden, Bestehen und Vergehen eine völlig unstrukturierte Einheit
bildet. Dies ist die erste von drei Ebenen möglicher Erfahrung. Auf ihr
gibt es noch keine Differenzierung in Essenz und Energie, in Siva und Sakti,
in Dasein und Erkenntnis. Der Zustand absoluter Einheit ist aber zugleich
Quellgrund aller Schöpfung. In üim ist alles gleichzeitig und andauernd
manifest, ohne Aufspaltung, Ordnung und Form, die für die nächste Phase
des Bestehens oder Bewahrens charakteristisch sind. Wer Bhairava in dieser
alles enthaltenden Fülle realisiert, der hat die Erfahrung des absoluten
Selbst. Diese erste der drei fundamentalen Ebenen aller Erfahrung heißt
Bhairavätraatä, die Selbsthaftigkeit des Bhairava.
Die zweite Ebene ist die ViSvarüpatä oder Vielgestaltigkeit des Absoluten.
In ihr tritt eine Trennung von Sein und Bewußtsein auf. Beide sind in ihrer
Unendhchkeit koextensiv, doch spiegelt sich das eine im anderen. Das Spiel
zwischen Siva und Sakti, Essenz und Energie, prakäSa und vimaräa, reiner
Bewußtheit und Selbstbewußtsein beginnt. Es resultieren die Vielheit, die
Form und alles, was die Welt in ihrem Bestehen charakterisiert.
Die dritte Ebene schließlich ist die der Resorption, der Wiederauflösung
der Welt in der Gottheit. Auf ihr steht derjenige, in dessen Bewußtsein
das ganze Universum in seiner Vielgestaltigkeit und Zeitlichkeit schlag¬
artig verbrannt wird durch die Flamrae der großen Erleuchtung (raahä-
bodha), und der seine Ruhe findet in der Erfahrung der pürnähantä, der
Fülle des Selbst, in die er eintaucht. Kosmisch-bildhaft gesprochen ist dies
der Moment, in dem der Gott das aus sich selbst herausgespielte Universum
wieder in sich zurücknimmt, bzw. verschlingt*".
2" Abhinavagupta, Tanträloka III, 268-285.
Die drei eben geschilderten Modahtäten des Absoluten sind aber nicht so
sehr Phasen kosmischer EntAvicklung, die zeitlich aufeinander folgten, son¬
dern verschiedene Ebenen geistiger Erfahrung. Für unsere Betrachtung ist
dabei interessant, daß Bhairava die Ebene der ungeteilten Realität reprä¬
sentiert. Entsprechend wird Bhairava im Bereich der menschlichen Er¬
kenntnis von Ksemaräja** definiert als das Aufblitzen (udyama) der höch¬
sten Erleuchtung, in der sich die Verschmelzung von individuellem und ab¬
solutem Bewußtsein vollzieht.
In oder durch Bhairava wird somit die Trennung des Menschen von der
Gottheit überwunden, die Dualität aufgelöst, eben weil Bhairava die ab¬
solute Einheit, die ungeteilte Realität repräsentiert, die keinen Abstand, kein Auseinanderrücken der Teile erlaubt.
Wenden wir uns nun, mit dem Hintergrund dieser philosophischen Inter¬
pretation, wieder dem Bhairava-Mythos zu. Seine sektarisch geprägte Form
verhüllt ja zunächst mehr, als sie offenbart. Reduzieren wir sie auf ihren
wesenthchen Kern, so ist Bhairava derjenige, der von liebeshungrigen
Frauen - das ist ein behebtes Bild für das Verhältnis der Seelen der Bhaktas
zu Siva - begleitet, sich nicht von seinem Ziele abbringen läßt, sondern den
Wächter erschlägt, welcher ihm den Zugang zur Gottheit verwehren will.
Dieser Wächter ist uns nicht ganz unbekannt. Man denke an Märchen, in
denen die Pforte von reißenden Hunden, Löwen oder Drachen bewacht
wird, oder, deutlicher, an die Schilderungen des mystischen Aufstiegs der
Seele bei Swedenborg und anderen, wobei ihr der Hüter der Schwelle ent¬
gegentritt. Seine Aufgabe ist es nach Aussage der Mystiker, den Unreifen
abzuschrecken, ihn als armseliges, ungeläutertes Subjekt auf sein Ich zurück¬
zuwerfen und vor der Macht und Reinheit des Absoluten in die Schranken
zu weisen. Doch der Wächter kann und muß überwunden werden, wenn die
innere Reife dazu vorhanden ist. Nur so wird die trennende Grenze zwischen
dem in ein enges Ich gefaßten Individuum und den umfassenden Sphären
des Absoluten durchbrochen.
Im indischen Mjrthos ist es Bhairava, der den Torhüter des Gottes er¬
schlägt, der die letzte Barriere einreißt, der die Trennung zwischen Subjekt
und Gottheit endgültig aufhebt. Wir sahen, daß sich für den Philosophen
in Bhairava eine der Grundmodahtäten des Seins offenbart, nämlich die der
ungeteilten Reahtät, und daß diese im Bereich der menschlichen Erkenntnis
bei der Verschmelzung des individuellen mit dem absoluten Bewußtsein
wirksam wird. Dieser Aspekt ist os, den der Mythos auf seine Weise und in
seiaer Sprache beschreibt. Der Gott selbst öffnet seine Stirn - wohl an der
Stelle des äjfiä-cakra über der Nasenwurzel - und das Blut, das hervor-
** SiväsütravimarSini I, 5. Vgl. auch Abhinavagupta, Tanträloka III, 285;
Silburn, Le Vijnäna Bhairava, Paris 1961, p. 13 und 49 f.; Bhandabkab,
Vaisnavism, Saivism and Minor Rehgious Systems p. 186, Anmerkung 2.
Bhairava 871
dringt, Essenz reiner Erkenntnis, bildet fortan die Speise des Bhairava.
Subjekt und Objekt, Ich und All, Mensch und Gott fallen nicht mehr aus¬
einander. Für Bhairava - und für die ihn begleitenden Scharen - ist die
Unio Mystica erreicht.
Es mag schwer sein, ein Symbol des Einen, Ungeteilten, Unbewegten auch
in der grausig blutrünstigen Bhairava-Gestalt an indischen Tempeln wieder¬
zuerkennen. Doch die Diskrepanz besagt wenig, sie ist vielleicht sogar be¬
absichtigt. Die Götter lieben bekanntlich das Verhüllte, wie es verschiedent¬
lich in den Upanisaden heißt**. Wer nicht fähig ist, den Schleier zu lüften, der
darf eben die Gottheit nicht in ihrer wahren Gestalt schauen. So heißt es
ausdrücklich in der Satarudrasamhitä**, daß Bhairava die Voll-Gestalt
(pürnarüpa) des Samkara sei. Aber die Toren wissen es nicht, weil sie durch
seine Mäyä verwirrt sind.
22 Ait. Up. 1, 3, 14; Brh. Ä. Up. 4, 2, 2: paroksapriyä iva hi deväh pratyak-
§advisah /
22 Siva P. III (Satarudrasarnhitä) 8,2:
bhairavah pürnarüpo hi äarnkarasya parätmanah /
müdhäs te vai na jänanti mohitäh iivamäyayä jj
Variante zu pürnarüpo: pürvarüpo. Siva in diesem Aspekt der Fülle wird auoh
Mahäbhairava oder Änandabhairava genannt.
59 Or.-Tg.
Von Franz Bernhard, Hamburg
über den Titel des Dhammapada ist schon viel geschrieben und für seinen
Titel sind schon manche Übersetzungen vorgeschlagen worden. Wir wissen
jetzt dank der besseren Kenntnis zentralasiatischer buddhistischer Missions¬
literaturen - in diesem Falle insbesondere des Tocharischen - welche Über¬
setzung sicher die richtige ist, oder wenigstens, wie dieser Titel in Zentral¬
asien einst verstanden worden war.
Die Übersetzung des Titels des sogenannten „Udänavarga" ist m.W. aber
noch nie diskutiert worden, und das hat seinen Grund. Es liegt ein Problem
in der Übersetzung des zweiten Kompositionsgliedes, in der Übersetzung
von -varga. Alle 33 Kapitel dieses Textes heißen ja varga, so wie auch die
Kapitel des Päli Dhammapada vagga genannt sind. Das ist ganz normal,
varga in der Bedeutung: Kapitel, Abschnitt über ein bestimmtes Thema,
wie es im Vorderglied gegeben ist. Also z. B. : aivavarga ,, Kapitel (mit dem Stichwort) 'Pferd'", hrähtnariavarga ,, Kapitel 'Brahmane'" usf.
Wie soll nun aber -varga in der Überschrift des ganzen Werkes verstanden
werden, zumal hier das Vorderglied udäna- kein Thema bezeichnet, sondern
eine literarische Gattung 1
Die Interpretation dieses Titels ist hier in ganz besonderer Weise abhängig
von der Geschichte des Bekanntwerdens dieses Textes. Wie ist nun dieser
Titel entstanden, wie ist dieser Titel zu verstehen, und welchem Text
kommt dieser Titel überhaupt zu ?
Es war Anton Schiefner*, dem wir die erste wirkliche Kenntnis vom
Inhalt eines Werkes verdanken, das tibetisch Ched-du brjod-pahi dhoms
heißt und im Titel wie im Kolophon immer als die Übersetzung eines
Sanskritoriginals namens Udänavarga ausgegeben wird. Schiefner starb,
bevor er die Übersetzung dieses Werkes vollenden konnte.
Im Jahre 1892 erschien dann eine Übersetzung dieses Textes von
' Nanjio = Bunyiu Nanjio : A Catalogue of the Chinese Translation of the
Buddhist Tripitaka. Oxford 1883.
S = Shukuzatsu-zokyo. Tokyo 1880-1885.
T = Taisho-issaikyo. Tokyo 1924-1934.
2 Melanges Asiatiques. Tome VIII p. 559 sqq. - Der erste Hinweis auf den
Text stammt von Csoma Köbösi in seiner Analysis des Kanjur. Asiatic Rese¬
arches. Calcutta (1836) Vol. 20 Part I p. 41-93, 393-552.