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NURCULUK - EINE MODERNE ISLAMISCHE BEWEGUNG

Von Ursula Spuler, Marburg/Lahn - Bonn

Die wachsende wirtschaftliche Potenz mehrerer vorderasiatischer und nord¬

afrikanischer Staaten bewirkt gegenwärtig eine ungeahnte Aktivierung der tra¬

ditionellen Werte der dortigen Kultur. Der Islam wird nicht mehr als Stigma

der gegenüber Europa und Nordamerika notorisch Rückständigen empfunden,

sondern als Born der neuen Kraft und als starkes Band der Eihheit.

In diesem Wsindlungsprozeß gewinnen religiöse Minderheitengruppen rasch

zunehmenden Einfluß, Gruppen mitunter, deren Vorhandensein der Historiker

noch vor wenigen Jahren kaum zur Kenntnis zu nehmen brauchte, die Jetzt

aber rapide an Einfluß gewinnen und das politische Leben mitbestimmen. Las¬

sen Sie mich eine Gruppe dieser Art knapp charakterisieren, eine islamische

Bewegung in der heutigen Türkei, die Nurculuk .

Mit Unterstützung der Deutschen Forschungsgemeinschsift konnte ich mich

im Frühjahr 1975 mehrere Wochen hindurch in Istanbul aufhalten. Erstmails

ergaben sich hier für mich engere persönliche Kontakte zu Repräsentanten

der Nurculuk. Mit den Fragen der Geschichte und der Bedeutimg dieser Be¬

wegung befasse ich mich seit einiger Zeit im Rahmen des Forschungsprojek¬

tes "Die historischen Grundlagen für Situation und Probleme der religiösen

Minderheiten in den islamischen Ländern des Nahen Osten". Dieses Projekt

besteht an der Universität Bonn und wird seit einigen Jahren von der Deutschen

Forschungsgemeinschaft gefördert. Die Nurculuk interessiert uns dabei als

eine mitgliederstarke und in mannigfacher Hinsicht aktive islamische Reform¬

bewegung in einem nach Verfassung und Tendenz säkularen Staat.

Die Organe des türkischen Staates stehen der Nurculuk-Bewegung mit er¬

heblichem Mißtrauen gegenüber . Sie tolerieren sie zwar in mancherlei Hin¬

sicht, greifen aber auch immer wieder in ihren Bestand ein. Damit zwingen

sie die Bewegung letztlich zu einem Untergrunddasein, aus dem sie aber dann

doch wieder in frappierender Weise partiell heraustreten darf. Zwei Beispiele

mögen dies verdeutlichen.

So kann gegenwärtig Jeder Buchhändler unbehelligt Bücher über die Nurcu¬

luk anbieten, sogar umfängliche Biographien des Gründers dieser Bewegung,

Said Nursi, mit langen Passagen aus dessen Werken (l), wie sie im übrigen

auch Jede Tageszeitung ungestraft abdrucken darf (2). Gleichzeitig aber sind

Druck und Verkauf der Werke Said Nursis selbst seit dem Jahre 1965 - wieder

- verboten (3)j sogar ihr Besitz wird geahndet, wo immer dies als opportun

erscheint.

Ein anderes Beispiel: Die Nurculuk-Bewegung entfaltet einen starken mis¬

sionarischen Elan. In diesem Zusammenhang werden gern Feriencamps für

Jugendliche veranstaltet, wo man sie im Sinne der Nurculuk unterweist. Diese

Camps werden staatlicherseits sofort aufgelöst, wenn man von ihnen erfährt (4).

Zugleich aber sind die veranstaltenden Organisationszentren der Bewegung den

staatlichen Organen durchaus bekannt, bleiben aber unbehelligt.

(2)

Diese Diskrepanz zwischen einer gewissen staatlichen Toleranz einerseits

und ständigen Eingriffen andererseits verleiht der Nurculuk-Bewegung ihre

Zwielichtigkeit und erschwert dem Außenstehenden den Zugang. Dennoch las¬

sen sich mit einigem Aufwand die wesentlichen Daten über die Nurculuk-Be¬

wegung erkunden, und allenfalls bleibt dem Forscher das Dilemma, ihm ver¬

traulich Mitgeteiltes nicht ungeschützt weitergeben zu können, wenn er seine

Quellen nicht versiegen lassen will. So dient denn als Hauptgrundlage der

folgenden Darstellung die türkische Literatur über die Nurculuk, über Said

Nursi sowie eigene Werke, die ich mir im Laufe einiger Jahre fast vollständig

verschafft habe (5).

I.

Entstanden ist die Nurculuk-Bewegung vor rund 50 Jahren. Im Jahre 1923

wandte sich ihr Gründer, der damals etwa 50jährige kurdisch-türki sehe Is¬

lamgelehrte und Politiker Said Nursi, von Kemal Atatürk ab und begann, ein

Gegengewicht gegen dessen als islamfeindlich betrachtete Reformpolitik zu

schaffen. Das Gegenunternehmen setzte ein mit einer reichen literarischen

Produktion ohne vordergründige politische Ambitionen, vielmehr rein religi¬

öser Prägung. Während einer 30jährigen Schaffensperiode entstanden rund

150 Werke. Ihr Kern besteht darin, die Wiederbelebung des Islam von innen

heraus zu propagieren. Zugleich wird versucht, den Geist des Koran und die

traditionelle islamische Frömmigkeit mit den Gegebenheiten der modernen

Welt zu vermitteln. Aus der Tradition des Osmanischen Reiches heraus und

gespeist aus den reichen Quellen der Hadithe wie auch anderer islamischer

und gelegentlich europäischer Literatur wird die Scheriat als das beste aller

Systeme der Rechtsverfassung gepriesen und ein panislamisches Reich an¬

gestrebt, in dessen Zentrum Mekka und Medina liegen sollen und das nach der

Vereinigung aller Muslime auch die ganze übrige Welt in sich aufnehmen soll.

Diese utopistische Zielsetzung wird von der heutigen Nurculuk-Bewegung

voll aufrechterhalten und verleiht ihr ein enormes Selbstbewußtsein. Allein

aber hätte sie nie dazu ausgereicht, eine heute schon mehr als eine Million

Mitglieder zählende und weit über die Türkei hinaus aktive Bewegung Zustande¬

kommen zu lassen. Dafür waren über das literarische Werk Said Nursis hin¬

aus zwei weitere Komponenten entscheidend.

Zum einen entstand durch die Atatürk' sehe Reformpolitik in der nunmehr

laizistischen Türkei ein immer größer werdendes Reservoir von Leuten, denen

dieser Staat die Antworten auf ihre bislang von der Religion beantworteten

Fragen schuldig bleiben mußte. Gleichzeitig aber waren sie schon zu "modern"

geworden, als daß ihnen die verbliebenen, im wesentlichen rituellen Möglich¬

keiten islamischer Religionspraxis einen hinreichenden Ausgleich hätten bie¬

ten können. Solche mit dem Laizismus Unzufriedenen aus allen sozialen Schich¬

ten fühlten sich vielfach von den Idealen des Said Nursi angesprochen und wur¬

den zu Propagandisten seiner Werke. Ihrerseits bauten sie die entstehende

Bewegung aus zu einem Freiraum für jene oft auch einfachen Gläubigen, die

überwiegend an der Beibehaltung der überkommenen Religionspraxis inter¬

essiert waren. Generell läßt sich feststellen, daß das staatspolitisch verur¬

sachte religiöse Vakuum jenen Sog schuf, der dem Einfluß Said Nursis seine

große Breitenwirkung ermöglichte. Zugleich freilich begründete dieser An¬

satz den bis heute fortwirkenden Gegensatz zwischen Säkularstaat und Nur¬

culuk (6).

(3)

Zum anderen ist auf die straffe Organisation der Nurculuk-Bewegung zu

verweisen. Sie hat nicht nur von Anfang an den inneren Zusammenhalt der

Bewegung gewährleistet und deren Fortbestand über den Tod Said Nursis im

Jahre 1960 hinaus gesichert; sondern dank ihres propagandistischen Grund¬

konzepts bewirkt diese Organisation eine ständige Ausbreitung der Bewegung.

Dies mag verwundern angesichts der Tatsache, daß die Nurculuk von außen

her betrachtet zunächst einen durchaus esoterischen Charakter zeigt. Sie

stellt sich als ein Geheimbund dar (7), der sich sogar dem Beitrittswilligen

nur zögernd und stufenweise erschließt. Doch zeigt sich bei näherem Augen¬

schein, wie er sich sowohl aus den Werken Said Nursis und seiner Anhänger

wie auch durch persönliche Kontakte gewinnen läßt, daß dieser Eindruck des

Esoterischen im wesentlichen äußere Gründe hat. Zum einen ist hier auf die

Sorge vor staatlicher Repression zu verweisen, zum anderen auf die Zurück¬

haltung gegenüber dem als neugierig empfundenen, nicht selbst von der Sache

überzeugten europäischen Forscher. Innerislamisch betrachtet tritt die Nur¬

culuk zwar mit einem besonderen Anspruch und Elitebewußtsein auf, ist aber

ansonsten offen in jeder Richtung (8) getreu ihrer panislamischen Grundten¬

denz.

Maßgeblich für die Wirksamkeit der Nurculuk-Organisation ist vielmehr

ihre enge Verbindung mit den Werken Said Nursis. Für deren Adaption und

Verbreitung wurde sie geschaffen, und deren Studium steht im Zentrum der

religiösen Betätigung. Dafür sind historische Gründe mitverantwortlich. Als

Said Nursi nämlich in den Jahren ab 1925 jene Werke schuf, die in den 4

Hauptbänden Sözler, Mektubat, Lem'alar und §ualar der Risale-i Nur Kül¬

liyati zusammengefaßt worden sind, lebte er, der gebürtige Kurde, teils an

Verbannungsorten, teils in wechselnden Gefängnissen der Westtürkei. Weder

verfügte er über eigene finanzielle Mittel noch bestand die Möglichkeit, daJJ

seine den staatlichen Interessen nicht entsprechenden Schriften irgendwo hät¬

ten gedruckt werden können. Hinzukommt, daß er sich auch bei Abfassung

seiner türkischsprachigen Werke stets der arabischen Schrift bediente, wäh¬

rend staatlicherseits nur noch die Lateinschrift zugelassen war. So war Said

Nursi für die Vervielfältigung seiner Werke von vornherein angewiesen auf

anderweitige Abschriften. Im Interesse unverfälschter Wiedergabe pflegte

er diese Kopien persönlich durchzusehen und zu autorisieren, ein Verfahren,

das nur durch wohlorganisierte Kontakte mit seiner Anhängerschaft funktio¬

nieren konnte. Nicht nur die Lektüre, sondern gerade auch das Abschreiben

seiner Werke stellte er dabei als hohes religiöses Verdienst neben die Koran-

Lektüre; und dieses als "Nur Postacilar'" bezeichnete Unternehmen ist der

Grundstock der gesamten Nurculuk-Organisation.

Uberspitzt könnte man die Nurculuk-Bewegung bis heute als eine Vereini¬

gung zur Lektüre und Verbreitung der Schriften Said Nursis bezeichnen. Zwar

ist inzwischen weitgehend der Buchdruck an die Stelle der früheren Handschrif¬

ten getreten, und die Organisation dient über die Literaturverbreitung hinaus

längst weiteren Interessen. Festzuhalten ist aber, daß dank dieser sachlich

wie historisch primär an der Verbreitung der Schriften Said Nursis orientier¬

ten straffen Organisation die Nurculuk zu einer festum rissenen Gemeinschaft

mit qualifizierter Mitgliedschaft geworden ist. Eine Bewegung ist sie also

nicht im Sinne einer allgemeinen Zeitströmung oder besonderen geistigen

Orientierung, sondern im Sinne einer Mitgliedsgemeinschaft mit expansiver

Tendenz.

(4)

II.

Auf die innere Struktur der Nurculuk-Bewegung möchte ich nur andeutend

und relativ allgemein eingehen.

Der islamischen Tradition entsprechend ist es ein reiner Männerbund. Die

Frauen werden auf die häusliche Rolle verwiesen und können nicht eigenstän¬

dige Mitglieder der Religionsgemeinschaft sein (9). Sich selbst kennzeichnet

die Nurculuk als "Bruderschaft" oder auch als "ekol", "Schule". Diese ist

hierarchisch strukturiert, wahrscheinlich in vier Stufen. An der Spitze steht

ein Leitungsgremium, das sich gegenwärtig aus 6 alten Mitstreitern Said Nur¬

sis zusammensetzt, den sog. "värisler", "Erben". Die unterste Stufe bilden

die einfachen Mitglieder. Dabei ist zwar die Frage nach einem festen Aufnah¬

meritus offen, doch dürfte feststehen, daß die Mitgliedschaft in irgendeiner of¬

fiziellen Weise zustandekommt. Der Aufstieg in die höheren Stufen setzt sowohl

bestimmte mehrjährige Fristen der Zugehörigkeit zur Nurculuk voraus als auch

besondere Qualifikationen im Lebenswandel wie im Wissen. Das geforderte

Wissen besteht einerseits im Erwerb traditioneller islamischer Bildung ein¬

schließlich des Arabischen und der Koran-Lektüre, andererseits in der Kennt¬

nis der Werke Said Nursis. Den verschiedenen Stufen der Mitgliedschaft ent¬

sprechen zudem verschiedenartige Funktionen, die ich hier nicht näher er¬

läutern möchte.

Mit den Werken Said Nursis beschäftigt man sich in kleinen Gruppen, die

in Privathäusern, in manchen Moscheen, an Universitäten oder auch in Zelt¬

lagern zusammenkommen. Besonderes Gewicht liegt auf der Schulung Jugend¬

licher. Eine gewisse Wirkungsmöglichkeit in dieser Hinsicht stellen die in

letzter Zeit zahlenmäßig stark vermehrten "Imam-Hatip-Schulen" dar, die

seitens der Nurculuk unterwandert werden.

Der Anfängerunterweisung liegen solche Schriften Said Nursis zugrunde,

die rein religiöser Art sind, mitunter selbst diese nur in "bereinigter" Fas¬

sung. Schriften mit politischen Implikationen, besonders auch die Frühwerke

Said Nursis aus seiner ersten Schaffensperiode vor dem Bruch mit Atatürk,

werden erst in weiteren Ausbildungsstadien zugänglich gemacht. Zunächst

strebt man eine gewisse Festigung in den Grundlehren der Bewegung an.

Wo immer dies möglich ist, vor allem im Osten der Türkei, werden von

der Nurculuk eigene Medresen unterhalten. Die Schulbildung der Zöglinge be¬

steht hier ausschließlich in Koranunterricht und in der Unterweisung in den

Werken Said Nursis. Nach Überzeugung seiner Anhänger hat dieser alle an¬

deren Wissenschaften in sich aufgenommen und seinem Werk eingearbeitet,

so daß es als absoluter Höhepunkt aller Wissenschaften gelten kann. Die Pro¬

bleme, die aus einer Ausbreitung solcher Schulen für die Zukunft einer nach

westlichen Maßstäben modernen Türkei resultieren, dürften deutlich sein.

Die Tatsache, daß die organisatorischen Interessen der Nurculuk-Bewegung

ihr Zentrum im Bereich der religiösen Bildung haben, hat noch weitergehende

historische Gründe. In dieser Weise kommt der alte, über wiederholte An¬

sätze nie hinausgediehene Plan Said Nursis zur Geltung, eine eigene, der al-

Azhar zu Kairo vergleichbare "Islam-Universität" zu errichten, die "Medre-

set-üz-Zehra". Als deren Standort hatte er bereits zu Beginn seiner Lehr¬

tätigkeit im letzten Jahrzehnt des 19. Jahrhunderts seine engere kurdische

Heimat ausersehen, das Gebiet am Van-See. Islam und kurdisches National¬

bewußtsein fanden sich hier in einem Bildungsinteresse zusammen, das zu

(5)

der gleichzeitigen panislamischen Orientierung Said Nursis durchaus in Span¬

nung steht. Bis heute gibt es deshalb eine besondere Affinität gerade der Kur¬

den in der Türkei zum Werk Said Nursis, eine nationalistische Komponente

innerhalb der Nurculuk-Bewegung, die sich auch in deren innerer Organisa¬

tionsstruktur abzuzeichnen scheint.

III.

Wie stellt sich nun die Nurculuk in der heutigen Türkei dar, und welche Aus¬

sichten hat sie, ihre panislamischen Ziele zu verwirklichen?

Um mit letzterem Aspekt zu beginnen, so wird man auch ohne prophetische

Gaben konstatieren können, daß das höchste Gut dieser Bewegung zugleich ihr

größtes Handicap ist: Die Bedeutung nämlich, die sie dem Werk Said Nursis

und seiner Person zuerkennt.

In propagandistischer Hinsicht kann die Nurculuk zunächst enorme Erfolge

verbuchen. Täglich verliest im saudiarabischen Rundfunk Bekir Berk, der

einstige Staranwalt der Nurculuk in hunderten von Prozessen vor-türkischen

Gerichten, Passagen aus dem Risale-i Nur in türkischer Sprache. Saudiara¬

bische Gelder dürften manchen Aufwand dieser Bewegung ermöglichen. Ver¬

mutlich wird sie seitens der 1962 von König Feisal gegründeten "Rabitat al-

cälam al-isIämi" massiv gefördert (lO). In Pakistan hat sie seit langem feste

Zentren. In Libanon wurden zahlreiche Werke in arabischer Sprache gedruckt.

Im Maghreb faßt sie mehr und mehr Fuß. Unter den türkischen Gastarbeitern

in Westeuropa, besonders in der Bundesrepublik Deutschland, hat sie eine

breite Anhängerschaft. Gegenwärtig gründet sie in Westberlin ein aus Gast¬

arbeiterspenden von fast 1 Million DM finanziertes Verlagshaus für den Druck

und Vertrieb der Werke Said Nursis, da Entsprechendes in der Türkei gegen¬

wärtig nicht möglich ist. In den USA und in der Bundesrepublik erscheinen

periodisch kleine Broschüren in der Landessprache mit Auszügen aus Said

Nursis Schriften und Hinweisen auf lokale Zentren der Bewegung (ll). Äußer¬

lich betrachtet ist diese also auf dem besten Wege, ihr Ziel einer allgemeinen

Ausbreitung im islamischen Bereich und gar der Missionierung Andersgläu¬

biger zu erreichen. Doch zeichnet sich die Grenze dieser Expansion ebenso

deutlich ab: Die Anerkennung, wie gesagt, der überragenden Bedeutung Said

Nursis.

Dieser selbst hatte sein Werk zunächst als den für seine eigene Zeit ma߬

geblichen, göttlich autorisierten Kommentar zum Koran dargestellt. Im Laufe

seiner langen Wirksamkeit stellte er dann sein Werk mehr und mehr gleich¬

rangig neben den Koran. Für seine Anhängerschaft, die sein Andenken wie das

eines Heiligen pflegt, wird die religiöse Praxis inzwischen fast stärker von

Said Nursi und vom Risale-i Nur bestimmt als von Muhammad und vom Koran,

deren Vorrang freilich festgehalten wird. Dieser Umstand dürfte eine größere

Ausbreitung der Nurculuk im außertürkischen Islam erheblich erschweren.

Auch macht er es den Anhängern der Nurculuk unmöglich, sich organisatorisch

mit islamischen Gruppen oder Richtungen zusammenzuschließen, die eine sol¬

che Bedeutung Said Nursis und seines Werkes nicht akzeptieren können.

Aber auch im inner türki schen Islam wird die Nurculuk aus diesen Gründen

immer nur eine Gruppe neben anderen bleiben können. Immerhin hat sie hier

ein festes Potential vor allem bei den Kurden, daneben bemerkenswerterweise

in jenen Kreisen der jüngeren Intelligenz, die panislamisch orientiert und zu-

(6)

gleich dem Sozialismus gegenüber skeptisch eingestellt ist. Für das weitere

Wachstum maßgeblich ist nach Lage der Dinge vor allem der allgemeine Auf¬

schwung des Islam in der Welt und die künftige außenpolitische Orientierung

der Türkei. Doch erscheint es als schwer vorstellbar, daß dieser Staat eines

Tages seine Gesetzgebung den Forderungen der Scheriat anpassen oder gar ein

theokratisches System errichten könnte, wie es den Wunschvorstellungen der

Nurculuk entspricht und was ihnen einen breiten Durchbruch ermöglichen könn¬

te. Eine mehr realistische Einschätzung wird dieser Bewegung immerhin im

Bereich der religiösen Bildung eine künftig noch wachsende Bedeutung zuge¬

stehen können, eine Wirkungsweise, die dem Hauptanliegen Said Nursis durch¬

aus entspricht.

Der vorliegende Beitrag konnte nur skizzenhaft einige jener Aspekte an¬

deuten, die bei meinen weiteren Untersuchungen zur Nurculuk (l2) relevant

sein werden. Trotz seiner Knappheit dürfte er aber einen gewissen Eindruck

von Eigenart und Bedeutung dieser Bewegung bereits vermittelt und gezeigt

haben, daß es sich lohnt, gerade diese religiöse Minderheitengruppe beson¬

ders im Auge zu behalten.

Anmerkungen

1. Die am stärksten verbreitete Biographie Said Nursis ist gegenwärtig das

ausgezeichnete Werk von Necmeddin §ahiner, Bilinmeyen Taraflariyle -

Bediüzzamsin Said Nursi. Yeni Asya Yaymlarl. Istanbul: Yeni Asya.

1. Aufl. (= 1. - 5. Tsd. ) August 1974, 444 Seiten; 2./3. Aufl. (= 6. -

15. Tsd.) Dezember 1974, 464 Seiten, Kart. 25,- TL.

2. So vor allem in fast jeder ihrer Nummern die seit 1970 erscheinende

"politische Tageszeitung" Yeni Asya, Istanbul.

3. Durch 6in Urteil des Obersten Kassationsgerichts vom 20. 9. 1965 wurde

die gesamte Nurculuk-Bewegung einschließlich ihrer spezifischen Litera¬

tur als "illegal" erklärt (Meydan Larousse Bd. 9, 1969-72, S. 432; Fehmi

Yavuz, Din Egitimi ve Toplumumuz. Ankara: Seving Matbaasi 1969, S.

97).

4. Nach Darstellung von Artikelserien der türkischen Tagespresse in der

Zeit vom 6. bis zum 11. Juli 1975 (z.B. Cumhuriyet, Yeni Asir, Yeni

Ortam, Milliyet) wurden damals an mehreren Orten im Westen der Tür¬

kei religiöse Ferienlager vorübergehend geschlossen: zahlreiche Teil¬

nehmer seien verhaftet und kistenweise Werke des Said Nursi beschlag¬

nahmt worden. In der Zeit vom 13. bis 16. Juli 1975 brachte die Zeitung

Yeni Asya eine Reihe von Gegendarstellungen: In Wirklichkeit habe es sich

um offiziell genehmigte Feriencamps von Imam-Hatip-Schulen gehandelt;

nur wenige Personen seien verhaftet und alsbald wieder freigelassen wor¬

den; sollten dort auch Werke des Risale-i Nur gelesen worden sein, so sei

dagegen nichts einzuwenden.

5. Siehe das Literaturverzeichnis S. 173-182 meines Beitrages "Nurculuk"

in: Studien zum Minderheitenproblem im Islam, Bd. 1 (Bonner Orientali¬

sche Studien, hrsg. vonO.Spies, Bd. 27, l), Bonn 1973, S. 100-182.

Dieser Beitrag war der Biographie Said Nursis gewidmet und wird im fol¬

genden ohne ausrückliche Verweise vorausgesetzt.

6. Diesen Gegensatz spiegelt besonders deutlich die Zahl von 721 Gerichts¬

verfahren gegen Said Nursi und seine Anhänger allein schon bis zum April

(7)

1971 (davon 705 Prozesse in den Jahren 1958-1971), wie sie Bekir Berk, Nurculuk Davasi, 1971, zusammengestellt hat. Da eine Reihe "negativ"

ausgegaingener Verfahren hierbei ungerücksichtigt geblieben ist, liegt die

tatsächliche Anzahl der Prozesse sogar noch höher.

7. Entsprechend wird die Nurculuk in der Regel von ihren innertürkischen

Gegnern charakterisiert, deren tatsächliche Kenntnisse dieser Bewegung

denn auch auffallend gering sind, z.B. Yilmaz Qetiner, Inang Sömürü-

cüleri, in: Cumhuriyet vom 2. bis 21. April 1964; ebenso als Buch:

istanbul: Varlik Büyük Qep Kitaplari 238 - Varlik Yaymlari 1058, 1964;

Ali Aydin Yavuzer, Ben Nurcu Idim, istanbul 1967; Ziya Ersay, Sahte

Peygamber Said-i Nursi, Tire 1964. Selbst Autoren wie (Jetin Özek (Tür¬

kiye'de Gerici Akimlar ve Nurculugun Igyüzü. Varlik Yaymlarl 1059 -

Faydsdi Kitaplar 35. istanbul: Varlik 1964) oder Neda Armaner (isläm

Dininden Ayrilan Cereyanlar: Nurculuk. Ankara Üniversitesi ilähiyat

Fakültesi Yaymlarmdan LX, Ankara 1964) rekapitulieren weitgehend eine

Reihe stereotyper Darstellungen, ohne selbst viel Neues zu bringen.

8. Eine wichtige Voraussetzung dieser Offenheit ist, daß die Nurculuk keine

eigenen religiösen Riten entwickelt bzw. sich keiner bestimmten Richtung

angeschlossen hat, sondern das allgemeinübliche Brauchtum teilt.

9. Im Jahre 1935 wurde Said Nursi in Eskigehir zu einer llmonatigen Ge¬

fängnisstrafe verurteilt, seiner eigenen Darstellung gemäß letztlich we¬

gen seiner kleinen Schrift "Tesettür Risalesi" (Über die Verschleierung

der Frauen), die für die traditionelle Rolle der Frau in der muslimischen

Gesellschaft eintrat und damit gegen die Reformgesetze der Republik ver¬

stieß. Diese als 24. Lem' a in dieRisale-i Nur Külliyati aufgenommene

Schrift hat zugleich als Bestandteil des "Hammlar Rehberi" (istanbul:

Celtüt Matbaasi 1958) zahlreiche Auflagen erlebt.

10. Vgl. Neget Qagatay, Türkiye'de Gerici Eylemler (1923 'den Buyana)

(Ankara Üniversitesi ilähiyat Fakültesi Yayinlari CXI), Ankara: Univer¬

site Basimevi 1972, S. 60.

11. In den USA erscheinen derartige Broschüren mit dem Signet "Nur", in

der Bundesrepublik Deutschland unter dem Titel "isbat".

12. Nähere Angaben dazu in meinem Beitrag "Nurculuk" (oben Anm. 5), S.

105f. Die dort genannte Bibliographie wird in wenigen Monaten vorliegen.

(8)

EINE NEU ENTDECKTE HANDSCHRIFT DER "MUQADDIMAT AL-ADAB"

VON AZ-ZAMAHSARI MIT CHWORESMTÜRKISCHER UBERSETZUNG (1)

Von Nuri Yüce, Frankfurt am Main

V

Die am unteren Lauf des Oxus ( = Amu Darya, Gaihun) gelegene Landschaft

Chwaresmien (2) ist im islamischen Mittelalter nicht zuletzt wegen ihrer zahl¬

reichen Gelehrten (3) und deren großen Werke bekannt. Einer von den großen

Gelehrten Chwaresmiens ist gewiss Abü I-Qäsim Mahmüd ibn cUmar az-Zam-

ahsarT (4). Er wurde im Jahre 467/1075 in Zamahsar geboren und ist dort in

der Heimat 538/1144 in al-^urgäimya ( = Alt-Ürgen6), der Hauptstadt von

Chwaresmien, gestorben.

Seine Werke haben unter den Muslimen viele Leser gefunden; er hat sich

als Theologe und Philologe in der islamischen Welt einen guten Namen ge¬

macht.

Sein Werk Muqaddimat al-Adab, eine Einführung in die arabische Sprache,

hat er dem ywärazmsäh Atsuz ibn Muhammad ibn Anöstegin (5) (reg. 52l/

1127 - 55l/ll56) gewidmet. Dieses Lehrbuch kommt praktisch einem Wörter¬

buch gleich; es ist in fünf Hauptabschnitte unterteilt:

1. Die Nomina mit ihren Pluralformen, nach Sachgruppen

geordnet;

2. Die Verben, nach ihrer Flexion in Kapitel eingeteilt;

3. Die Partikeln;

4. Die Deklination der Nomina;

5. Die Modi der Verben.

Die Benutzer dieses Werkes haben aus praktischen Gründen die Bedeutung

der arabischen Wörter oder Sätze in den ihnen geläufigen Sprachen - z.B.

Persisch, Chwaresmisch, Chworesmtürkisch, Tschaghataisch, Mongolisch,

Osmanisch - in kleinerer Schrift zwischen den Zeilen des arabischen Textes

eingetragen bzw. eintragen lassen. Solche interlinearen Übersetzungen der

Muqaddimat al-Adab sind mit ihren wertvollen Materialien u.a. für die tür¬

kische Sprach- und Kulturgeschichte sehr wichtig.

Zu den Veröffentlichungen über die Muqaddimat al-Adab s. :

Johann Gottfried Wetzstein, Samachscharii Lexicon Arabicum Persicum

ex codicibus manuscriptis Lipsiensibus, Oxoniensibus, Vindobonensi

et Berolonensi edidit atque Indicem Arabicum adiecit ... Lipsiae 1850.

40, 288 + 269 S.

Ishaq yogasi Ahmed Efendi, Aqsä I-Arab fi targamati Muqaddimati

1-Ädab. istanbul 1313/1895. 4°,' 304 + 205 + 739 S.

Abü l-Qäsim Mahmüd b.^Umar az-Zamahsari, PTsraw-i adab yä

Muqaddimat al-Adab (The oldest Arabic-Persian philological dic¬

tionary). Part 1: Nouns. Part 2: Verbs. Herausgegeben von Muhammad

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