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enthielt einen Aufsatz von mir, betitelt „Die Geschichten des toten No-rub-can"

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Zur tibetischen Vetalapancavimsatika (Siddhikür).

Von A. H. Francke.

Band 75 der ZDMG. enthielt einen Aufsatz von mir,

betitelt „Die Geschichten des toten No-rub-can". In ihm

berichtete ich, daß es mir gelungen sei, im Gebiet des alten

westtibetischen Königreiches Märchen zu entdecken, welche so¬

wohl an die berühmte indische Sammlung Vetälapancaviriisatikä

wie auch an den mongolischen Siddhikür erinnerten. Die

Handschrift, welche jene tibetischen Märchen enthielt, war

offenbar von Ye-shes-rig-ädsin, dem Lehrer an der Missions¬

schule von Kha-la-tse, nach dem Diktat eines bekannten Mär¬

chenerzählers angefertigt worden. Sie enthielt die Vorgeschichte

(den Rahmen) und drei Erzählungen. Prof. Dr. Joh. Hertel in

Leipzig hatte nach meiner Inhaltsangabe festgestellt, daß die

tibetische Porm der Märchen mehr an die durch Bergmann,

Jülg u. a. bekannt gewordenen mongolischen Versionen, als an

die indischen erinnere.

Ich konnte nun den Gedanken nicht loswerden, daß sich

im tibetischen Sprachgebiet solche Märchen nicht nur als Folk¬

lore, sondern auch als niedergeschriebene Literatur vorfinden

würden, und beauftragte deshalb den tibetischen Pastor Joseph-

dGe-rgan, z. Zt. in Kye-lan, sich nach tibetischer Literatur über

No ruh-can umzusehen. Vor einigen Monaten erhielt ich nun

von ihm die Nachricht, daß es ihm gelungen sei, im Besitz der

Familie der Bar-hog-¥üTs,ten von Lahoul ein tibetisches Manu¬

skript zu finden, das den Titel Nos-grub-can-gyi-sgruns trägt. Da

dieses Buch nicht verkäuflich war, ließ er es abschreiben und

schickte mir die Abschrift zu. Es handelt sich um 87 eng¬

beschriebene Oktavseiten. Das Werk enthält ebenso wie die

mongolische Version eine Rahmenerzählung, die mit der des

Siddhikür im gi-oßen und ganzen übereinstimmt, und 13 Märchen.

1 I

(2)

240 A. H. Francke, Zur tibetischen VetälapanoavimSatikä (Siddhikür).

Die einzelnen Märchen haben die folgenden Überschriften

(eigentlich Unterschriften): 1. Bu-drug, die sechs Söhne,

2. rGyal-bu-dpon-blon, Prinz und Minister, 3. Ma-sans, Mann

und Kuh, 4. Mo-ston-phag-mgo , der Schweinskopf als Wahr¬

sager, 5. Nyi-mai-dd-zer, Prinz Sonnenstrahl, 6. d Phrid-can, der

Zauberer, 7. Bya-shubs-rgyal-po, der König in Vogelgestalt,

8. Ri-mo-mkhan-dan-shin-mkJian, Maler und Zimmermann,

9. Bu-mo-snyin-stobs-can, das tapfere Mädchen, 10. Khyo-bshugs,

Mann und Weib, 11. gSer-sgrol-ma, goldene Tärä, 12. rGyal-

po-byis-pai-blo-can, König Kindskopf, 13. Bram-ze-rgyal-por-gyur-

ha, der zum König gewordene Brahmane.

Der Schluß des Buches lautet in Übersetzung: „Möge auch

mein Gebet dementsprechend in Erfüllung gehen! So, wie auf

dem Schloß von Bar-bog der Brahmane zur Vollkommenheit

gelangte, möge auch der Prinz &Brug-rnam-rgyal-rig-adzin zur

Vollkommenheit gelangen!" Hierzu sei bemerkt: Diese Worte

knüpfen an die letzte Erzählung vom Brabmanen an, der durch

die Hilfe der dankbaren Tiere zu Glück und zum Königsthron

gelangte. Nun stammt die Fürstenfamilie von Bar-bog auch von

einem Brahmanen ab. (Siehe meine Samralung, Die histori¬

schen und mythologischen Erinnerungen der Lahouler, Nr. 12.)

Auf diese Überlieferung bezieht sich der Vordersatz des Spru¬

ches, während der Nachsatz einen Wunsch für den Prinzen,

welchem das Buch gewidmet war, zum Ausdruck bringt. Wie

dem Joseph-dGe-rgan mitgeteilt wurde, ist Prinz äBrug-mani-

rgyal-rig-ädzin der Onkel des jetzt lebenden Fürsten von Bar¬

bog. Wenn das wahr,ist, würde das Buch höchstens 50 Jahre

alt sein.

Wenn,auch das Manuskript von Bar-bog erst aus neuerer

Zeit stammt, ist es doch gewiß nach einer älteren Vorlage an¬

gefertigt. In einer Handschrift des westtibetischen Königsbuches

finde ich die Worte: bkra-shis-mgon-gyi-dus-su-bod-ro-laiis-byuii

„zur Zeit des bkra-shis-mgon (13. Jahrh.) kam Ro-lans in Tibet

auf". Soll sich das vielleicht auf das Bekanntwerden dieser

Märchen im westtibetischen Reich beziehen? Ich halte die Ent¬

deckung dieser tibetischen Märcbensammlung für die Geschichte

des Wandermärchens deshalb für wichtig, weil wir hier die

Vorlage für den mongolischen Siddhikür vor uns haben.

1 I

(3)

A. H. Francke, Zur tibetischen VetälapaficavirnJatikä (Siddhikür). 241

Die von Joseph-dGe-rgan eingesandte Abschrift des Buches

von Bar-bog habe ich der Bibliothek der DMG. überwiesen.

Im Folgenden bringe ich noch zwei Erzählungen nach dem

Folkloremanuskript. Die erstere entspricht Nr. 5 und die zweite

Nr. 13 des Bar-bog - Buchea').

1. Die böse Stiefmutter.

Vorspiel.

Dann kehrte er um einen Monatsmarsch wieder zurück und

kam wieder ins Land der trockenen Leichname, um den Leich¬

nam [desj No-rub-can zu holen. Als er im Land der trockenen

Leichname ankam, war jener trockene Leichnam schon auf die

Spitze des trockenen Baumes geklettert. Da sagte er wieder:

„Trockener Leichnam, willst du herunterkommen? Oder soll

ich den trockenen Baum au der Wurzel abhacken?" Da kam

der trockene Leichnam schnell herunter und trat vor ihn.

Dann steckte er ihn in den Sack hinein und band mit dem

[Seil] rGya-stag-khra-bo fest zu und trug, ihn davon. Als sie

einen Monatsweg weit gekommen waren, sagte der trockene

Leichnam abermals:

„He, König, eine lange Nacht vergeht unter

Märchenerzählen,

Ein langer Weg wird durch Reden gekürzt.

Entweder erzähle du, und ich werde zuhören. Wenn nicht so,

will ich erzählen. Daim nicke mit dem Kopfe!" [Darauf]

nickte der König mit dem Kopfe, und der trockene Leichnam

erzählte wieder eine Geschichte.

Erzählung.

1. Er sagte: „Es war einmal!" und der König nickte mit

dem Kopfe. — In einem großen Reiche lebte einmal ein Königs¬

sohn, und für diesen Königssohn hatte man noch keine rechte

Braut gefunden. Da wurden alle seine Diener und seine ganze

Umgebung in alle möglichen Länder geschickt, um zu sehen,

1) Da die Transkription der tibetischen Texte hier nicht abgedrackt

werden konnte, habe ich auch sie mit den dazugehörigen Bemerkungen

Dr. Franckes im Manuskript der Bibliothek der DMG. übergeben.

S.

Zeitsobrift d. Deutsch. Morgenl. (ios. Bd. 77 (1883). 16

(4)

242 A. H. Francke, Zur tibetisclien Vetälapancavimeatikä (Siddhikür).

ob daselbst eine passende Braut wäre. In einem andern großen

Reich lebte [auch] ein König. Dieser König hatte keinen

Prinzen, sondern nur zwei Töchter. Die ältere hieß Nyi-mai-

kha-ti und die jüngere Zla-hai-kha-ti. Nachdem der König

Nachricht von diesen beiden bekommen hatte, wurde ihm die

edle Nyi-mai-kha-ti als Braut zugeführt. Sie gebar einen

Prinzen, welcher Nyi-mai-6d-gser genannt wurde. Nachdem er

geboren und sieben oder acht Monate alt geworden war, starb

die Mutter. Als sie starb, sagte sie folgendes: „0 König, ich

fühle, daß ich sterben werde! Behalte meine Kinder lieb und

gib ihnen, bitte, keine Stiefmutter!" Nachdem sie so gesagt

hatte, biß sie sich in den Finger und starb.

2. Als dann ein oder zwei Jahre vergangen waren, dachte

der König: „Ohne Frau kann ich nicht sein. Bringe ich aber

eine andere, dann wird sie das Kind schlecht behandeln. Am

besten wird es sein, wenn ich ihre jüngere Schwester Zla-hai-

kha-ti hole. Sie wird [den Sohn] wie ihr eigenes Kind an¬

sehen!" So holte er Zla-hai-kha-ti. Zla-hai-kha-ti gebar auch

einen Prinzen, und als wieder zwei Jahre vergangen waren,

wurde das Kind Zla-hai-dd-gzer genannt. Da kam dessen Mutter

ein böser Gedanke, und zwar folgender: „Der Sohn meiner

älteren Schwester wird [einmal] König und mein Sohn dessen

Diener werdfen!" Dann stellte sie sich krank, nahm Zinnober

und Indigo in ihren Mund, legte sich schlafen und sagte: „Ich

habe heftigt Schmerzen!" Als sie darauf spuckte und es rot

und blau gemischt aus ihrem Munde lief, dachte der König:

„Sie ist schwer krank!" Er fragte sie: „Liebe Frau, du bist

ofFenbar schwer krank. Meine frühere Frau hatte auch diese

Krankheit und starb [daran]. So wirst du auch sterben. Bei

welcher Medizin könnte es denn besser werden?" Die Frau

sprach: „Was für Medizin du auch immer geben magst, besser

wird es nicht werden. Nur, wenn du das Herz eines Prinzen

herausnimmst ünd mir gibst, könnte ich genesen!" Als der

König diese Rede hörte, wurde ihm sonderbar zumute, und er

sprach :

„Der eine Priiiz ist mir das rechte Auge, mit dem ich sehe.

Der andere Prinz ist mir das linke Auge, [mit dem ich

sehe] !

(5)

A. H. Francke, Zur tibetischen VetSlapancavimßatikS (Siddhikür). 243

Wo soll ich mir einen andern Königssohn herholen?" Die Fran

antwortete: „Einen andern Königssohn wirst du nicht finden.

Wenn du unser Kind Nyi-mai-dd-gzer tötest, ist's recht!

So lang es einen [grünen] Zweig gibt, kann wieder ein Reis

wachsen.

Erst wenn der Zweig vertrocknet ist, wächst kein Reis

mehr!"

Der König dachte: „Diese Rede stimmt!" und beschloß,

den Prinzen Nyi-mai-öd-gzer am nächsten Morgen zu töten.

i

3. Da der jüngere Königssohn diese Rede- gehört hatte,

ging er zu Nyi-mai-6d-gzer und sprach: „He, Nyi-mai-öd-gzer,

du sollst morgen getötet werden, um der Mutter als Medizin

zu dienen. Was ist da zu tun?" Nyi-mai-öd-gzer antwortete:

„Ich werde fliehen!" So liefen beide Brüder in der Nacht da¬

von, ohne sich etwas zu essen mitzunehmen. Da sie den Weg

nicht wußten, verirrten (?) sie sich in den Bergen. Nachdem

sie 15 Tage gewandert waren, ohne etwas zu essen zu haben,

hungerten sie sehr. Ohne etwas (?) zu finden, kamen sie am

Fuß eines hohen Felsens an, schauten sich um und erblickten

in der Mitte des Pelsens eine Einsiedelei. Am Fuß derselben

befand sich ein großes Tal, und in dem Tal ein Wald von

Sandelholz. Als sie dort angekommen waren, starb Zla-hai-öd-

gzer vor Hunger. Da sammelte Nyi-mai-öd-gzer weinend einiges

Holz, verbrannte [seinen Bruder] und ging weiter.

4. Nun kam Nyi-mai-öd-gzer halbtot vor der Tür der Ein¬

siedelei an, klopfte an die Tür, und der Einsiedler kam zur

Tür heraus. Er führte ihn hinein, gab ihm zu essen, und naoh

sieben Tagen kam jdas Kind] wieder zu Kräften (zum Atmen).

Darüber freute sich der Einsiedler sehr. Er blieb nun dort und

holte für den Einsiedler Holz und Wasser. Jenseits der Ein¬

siedelei lag ein großes Königreich, und in dem oberen Teil

des Tales befand sich ein großer See. üm den See zu be¬

wachen, wohnten dort zwei Löwen, und wenn diese Löwen

nicht alle sechs Jahre ein im Tigerjahr gebornes Kind zu fressen

bekamen, gaben sie kein Wasser für das Land [zum Berieseln]

her. So waren der Reihe nach alle im Tigerjahr gebornen

Kinder [geopfert und] aufgebraucht worden. Weil man in jenem

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244 A.H. Prau eke, Zur tibetischen Vetalapancamvi^atikä (Siddhikür),

Jahr kein Kind mehr hergeben konnte, war kein Wasser ins

Dorf gelaufen, und es war eine schwere Zeit gekommen. Da

hieß es, daß bei dem Einsiedler ein im Tigerjahr gebornes

Kind wohne, und dies hörte der König des Landes. Er erfuhr

es folgendermaßen: Als das Kind für den Einsiedler in .die

Berge gegangen war, um Holz zu sammeln, war es mit den

Ziegenhirten jenes Landes zusammengetroffen, und sie hatten

den Kalender berechnet. Das hatten die Ziegenhirten dem

König gesagt. Darauf gingen fünf Leute jenes Landes aus,

das Kind zu holen. Als der Einsiedler jene fünf Leute kom¬

men sah (wörtlich: wußte), steckte er das Kind in einen großen

Topf, welcher mit etwas Nahrung versehen war, hinein. Dann

kamen jene Männer vor der Einsiedelei an und sprachen zum

Einsiedler: „Großvater Einsiedlerl Es wird gesagt, daß du ein

im Tigerjahr gebornes Kind besitzest. Gib es uns; denn unser

Land hat kein Wasser und vertrocknet. Wenn Großvater einen

Diener braucht, wollen wir einen Mann schicken!" Der Gro߬

vater sprach: „Wo soll ich ein Kind haben? Ich habe über¬

haupt keins!" Da wurden jene Leute zornig und schlugen den

Großvater. Als aber das Kind hörte, wie der Großvater ge¬

schlagen wurde, kam es aus dem Topf heraus und sagte:

„Schlagt den Großvater nicht; ich bin hier drin!" Als es aus

dem Topf herausgekommen war, ergriffen jene Leute das Kind

und führten es fort. Als der Großvater sah, wie es fortgeführt

wnrde, wurde er sehr traurig, aß nichts mehr und legte sich

schlafen.

5. Indem jene Leute das Kind fortführten, brachten sie es

zum Schloß des Königs, und jener König hatte eine Tochter.

Sobald jene Tochter das Kind gesehen hatte, sprach sie: „Ich

will mit ihm zusammen gehen!" Sie setzte ihren Kopf durch

un^ ging mit Nyi-mai-6d-gzer zusammen in den hintersten Teil

des Tales. Da die Tochter auch fortging, wurden die [beiden]

von Vater, Mutter und den ganzen Einwohnern bis zur Hälfte

des Tales begleitet. Von dort gingen Vater, Mutter und alle

Einwohner wieder zurück. Nyi-mai-öd-gzer und die Prinzessin

aber schritten weiter. Als sie an die Stelle kamen, wo man

den See sehen konnte, wurden sie beide sehr traurig; denn jetzt

kam für beide die Trennung herbei. Sollten die Löwen den

1 8 ♦

(7)

A. H. Francke, Zur tibetischen Vetalapancavimfiatika (Siddhikür). 245

Prinzen fressen, dann war es für das Mädchen sehr traurig.

Fraßen die Löwen aber das Mädchen zuerst, dann war das für

den Königs[sohnJ sehr traurig. Indem sie so sprachen, gingen

sie weinend weiter, bis sie vor den beiden Löwen anlsamen.

Als die Löwen sie weinen sahen, fragten sie: „He, ihr beiden,

warum weint ihr?" Nyi-mai-öd-gzer sagte; „Wir beide sind zu

euch gekommen, um von euch gefressen zu werden, denn eins

von uns ist zum Fraß bestimmt. Wird [aber] eins gefressen,

dann wird es für das andere sehr traurig sein. Da wir so

dachten, weinten wir!" Als die Löwen sie so reden und weinen

sahen, fühlten sie Mitleid und sagten: „Wenn das für euch so

traurig ist, wollen wir zufrieden sein, wenn wir auch nichts zu

fressen bekommen. Statt euch beide, den Prinzen und die

Prinzessin, zu fressen, wollen wir lieber das Wasser laufen

assen und zu einem anderen See gehen. Dann ließen sie so

viel Wasser ab, wie nötig war, und die zwei Löwen begaben

sich in das obere Tal eines anderen Landes.

6. Da freuten sich die beiden [Kinder] und gingen in ihr

Land zurück. Dort freuten sich auch Vater, Mutter und alle

Einwohner. Als ein Monat verstrichen war, sagte Nyi-mai-öd-

gzer zur Prinzessin: „0 Prinzessin, ich will jetzt fortgehen; ich

bleibe nicht hier!" Darauf antwortete die Prinzessin: „Wenn

du gehst, will ich mitgehen!" Der Prinz sprach: „Wohin willst

du denn gehen, indem du Vater. Mutter, Land und Schloß ver¬

läßt? Ich habe weder Vater noch Mutter, weder Schloß noch

Land; ich werde in der Einsiedelei des Großvaters bleiben!"

Aber die Prinzessin setzte ihren Kopf durch und ging mit ihm.

Dabei trug sie nur eine Schüssel zum Waschen, einen Kupfer¬

topf und eine Katze mit sich. So ging sie mit Nyi-mai-öd-gzer.

Dann kamen sie bei der Einsiedelei des Großvaters an und

klopften an die Tür. Der Großvater hatte vor Kummer nichts

gegossen, seit man Nyi-mai-öd-gzer ergrilfen und den Löwen zum

Fräße fortgeschleppt hatte. Deshalb konnte er nur langsam zur

Tür herauskommen. Als er an der Tür angekommen war, hin¬

ausschaute und Nyi-mai-öd-gzer erkannte, freute sich der Gro߬

vater sehr. Auch der Prinz freute sich, den Großvater anzu-

trefTon, und die [beiden Kinder] blieben etwa einen Monat

lang dort.

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246 A. H. Francke, Zur tibetischen VetälapaScavimSatikä (Siddhikür).

7. Dann nahmen die beiden Abschied vom Großvater imd

kamen in das Land des Nyi-mai-öd-gzer. Dessen König und

ZIai-bai-kJiM-ti lebten in Trauer, weil sie ihre Kinder verloren

hatten. Da rief ein Fuchs von unterhalb des Schlosses:

„Im oberen Teil des Landes geht die Sonne auf!

Im unteren Teil des Landes kommt ein König und eine

Königin geschritten!"

Als er diese Stimme hörte, ging der Vaterkönig auf [das

Dach] hinauf, blickte sich um und sah den Prinzen Nyi-mai-

öd-gzer mit jener Prinzessin kommen. Er nahm Bier und Butter

in die Hand und ging hinaus. Der Prinz und die Prinzessin

kamen am Tor an. Der Vaterkönig freute sich, und [alle]

gingen in das Schloß hinein. Als sie hineingekommen waren,

fragte Zla-hai-kha-ti: „Lieber Prinz Nyi-mai-öd-gzer, wohin ist

denn Zla-hai-öd-gzer, mein Kind, gegangen?" Nyi-mai-öd-gzer

antwortete: „Damals, als die Mutter so böse war, flohen wir

beide. Als wir fünfzehn Tage gelaufen waren, ohne etwas zu

essen zu haben, konnte er nicht [weiter] laufen. Er ist in einem

Tal, wo viele Sandelbäume stehen, gestorben." Als die Mutter

diese Rede hörte, starb sie augenblicklich.

Da sagte der König, welcher den Leichnam trug: „A-kha-

kha, wie schlecht ist das!" Der trockene Leichnam aber sprach:

„Si-ii-pa-la-\hun\-j)had!'-', gab dem König eine Ohrfeige und

ging wieder zurück.

Bemerkungen.

Das Verhältnis der vorliegenden tibetischen Erzählung zur

entsprechenden mongolischen (Nr. 5 des Siddhikür bei Jülg) ist

das folgende: Wenn auch der Verlauf beider Erzählungen

recht ähnlich ist, finden sich doch einige Unterschiede, welche

die tibetische Version als die ursprünglichere erscheinen lassen.

So wird bei den Mongolen der jüngere Bruder, der vor Durst

gestorben ist, von dem Einsiedler wieder ins Leben zurück¬

gerufen. Das ist etwas ganz Unnötiges; denn nun wird die

Erzählung, die ihn gar nicht brauchen kann, mit ihm belastet.

So wird auch bei den Mongolen die fremde Königstochter von

beiden Brüdern geheiratet. Als beide Brüder dann wohl¬

behalten ins Elternhaus zurückkehren, stirbt auch bei den Mon-

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A. H. Francke, Zur tibetischen Vetälapancavimäatikä (Siddhikür). 247

golen die böse Stiefmutter, hier aber ohne jeden Grund. Nach

der mongolischen Fassung sind es Drachen, nicht Löwen,

welche das Wasser hüten.

Vom tibetischen Standpunkt ist folgendes zu bemerkeu:

Die Löwen, welche das Wasser hüten, sind Personifikationen

der Gletscher. Vgl. Sen-ge dkar-mo-gYu-ral-can „die weiße

Löwin mit der Türkisenmähne" der Kesarsage. Die vorliegende

Erzählung gehört in dieselbe Gruppe wie die vorhergehende,

in welcher zwei Frösche (Nägas) das Wasser hüten, welches

für die Berieselung der Felder notwendig ist. Wie dort, wer¬

den auch hier Menschenopfer gebracht, um die Herausgabe des

Wassers zu bewirken. Daß bis in die neueste Zeit mit solchen

Opfern Ernst gemacht worden ist, habe ich in den Anmerkun¬

gen zur vorigen Erzählung dargelegt.

2. Die dankbaren Tiere.

Zwischenspiel.

Dann ging der König noch einmal weinend in das Land

der trockenen Leichname. Als er im Land der trockenen Leich¬

name ankam, befand sich jener Leichnam auf der Spitze eines

trockenen Baumes. Da sagte er: „Trockener Leichnam, willst

du herunterkommen? Ich werde den trockenen Baum unten

bei der Wurzel abhauen!" Da er so sprach, fürchtete sich der

Leichnam und kam herunter. Da faßte er ihn noch fester,

steckte ihn in den Sack und band diesen mit dem Seil fest zu.

So trug er ihn davon, und als sie zwei Monate unterwegs ge¬

wesen waren, sagte der trockene Leichmam wieder: „0 König,

erzähle du eine Geschichte, und ich will zuhören; oder [wenn]

ich erzählen soll, dann nicke mit dem Kopfe." Der König nickte

mit dem Kopf, und der Leichnam erzählte:

Erzählung.

l. In einer großen Stadt lebte ein Brahmane. Da er keinen

Menschen um sich hatte, konnte er sein Feld nicht bestellen und

wurde sehr arm. Eines Tages bedachte er: „Da ich die Felder

nicht besorgen kann, will ich alle Felder verkaufen und Kauf¬

mann werden. Wenn ich dies tue, werde ich meinen Lebens¬

unterhalt finden." So verkaufte er alles, Haus und Felder, ver-

(10)

248 A. H. Fran eke, Zur tibetischen Vetalapancavimsatika (Siddhikür).

schaflFte sich weißes, schwarzes und rotes Tuch, lud alles auf

einen Esel und begab sich auf den Handel.

2. Er kam auf eine große Ebene. Dort hatten mehrere

Kinder (Knaben) eine Maus gefangen und hatten ihr [einen

Strick] an die Nase gebunden. Eins zog sie nach vorn und

eins nach hinten, und so verursachten sie ihr viele Schmerzen.

Als der Brahmane dorthin kam und sah, was für Schmerzen

die Maus erlitt, sagte er zu den Kindern : „He, ihr Kinder, was

hat euch die Maus zuleid getan? Quält das Tier nicht, sondern

laßt es gehen, bitte!" Da schimpften die Kinder auf den Brah¬

manen. „Willst du hinauf, so geh hinauf,

Willst du hinab, so geh hinab!"

Der Brahmane sprach: „Wenn ihr die Maus loslaßt, will ich euch

eine Belohnung geben!" Und so gab er ihnen das weiße Tuch. Da

ließen sie die Maus los, und der Brahmane ging fröhlich weiter.

So wanderte er und kam auf eine Wiese. Dort waren einige

Mädchen, die einen Bären gefangen hatten. Sie hatten ihm

[einen Strick] durch die Nase gezogen; einige ritten auf ihm,

und andere schlugen ihn von hinten mit Stöcken. Der Brah¬

mane fühlte Mitleid mit ihm und sprach zu den Mädchen: „He,

ihr Mädchen, warum quält ihr den Bären so? Wenn ihr ihn

loslaßt, will ich euch eine Belohnung geben!" Indem er so

sagte, gab er ihnen das schwarze Tuch. Sie ließen den Bären los,

und als die Mädchen [unter sich] das Tuch teilten, ging er weiter.

Der Brahmane wanderte und kam in einen großen Wald.

Dort waren einige Klosterschüler, welche einen Aflfen gefangen

hatten. Sie hatten ihm [einen Strick] durch die Nase gezogen.

Einige ritten auf ihm, andere schlugen ihn von hinten mit

Stöcken. Der Brahmane fühlte Mitleid mit ihm und sprach zu

den Klosterschülern: „He, ihr Klosterschüler, ihr wollt Lamas

sein? Fangt einen Aflfen und schlagt ihn? Warum schlagt ihr

ihn? Laßt ihn los!" Da schimpften die Lamas auf den Brah¬

mauen. Willst du hinauf, so geh hinauf.

Willst du hinab, so geh hinab!

Was kümmert dich unsere Sache?" Als aber der Brahmane

ihnen das rote Tuch als Belohnung gab, ließen sie den Affen los.

(11)

A.H. Francke, Zur tibetischen Vetälapaücavini^atikä (Siddhikür), 24Ö

3. So war der Brahmane um allen Besitz gekommen. In¬

dem er den Esel führte, erreichte er eine große Stadt. Dort

blieb er und bedachte, daß er nichts zu essen hätte. Dann

überlegte er: „Tch will in das Schloß des Königs gehen!"

Als es Nacht geworden war, band er den Esel bei einem Gras¬

platz an und ging zum Stehlen in das Schloß. Er trat in das

Schloß, erreichte die Schatzkammer und trug einen Kasten mit

Gold davon. Ehe er aber ganz ins Freie gekommen war, war

er von der Königin und einer Magd gehört worden. Diese

machten Lärm, so daß es die Diener alle hörten. [Diese] er¬

griffen ihn und schleppten ihn vor den König. Der König war

erzürnt darüber, daß seine Schatzkammer erbrochen war. Er

ließ [den Dieb] in eine große Kiste stecken, den Deckel schließen

und mit Nägeln befestigen. Dann sagte er: „Werft [sie] ins

Wasser!" und einige Diener wurden ausgesandt, sie ins Wasser

zu werfen, und das geschah.

4. Sie wurde vom Wasser davongeführt, bis sie an der

Stelle hängen blieb, wo [der Brahmane] vorher am Rand einer

Ebene einer Maus Gutes erwiesen hatte. Die Maus, welcher

er früher Gutes erwiesen hatte, kam vor die Kiste und kratzte

daran. Der Brahmane hörte das und fragte: „Wer ist das, der

an der Kiste kratzt?" Die Maus antwortete: „Ich bin es; wer

bist du denn?" Der Brahmane sprach: „Ich bin ein Brahmane,

der Feld und Haus verkauft hat. Dafür erwarb ich drei Stück

Tuch und einen Esel. Da dachte ich: Ich will das mitnehmen

und verkaufen! und ging davon. Ein Stück Tuch gab ich zum

Besten einer Maus weg, eines zum Besten eines Bären, und

eins zum Besten eines Affen. Als ich dann nichts mehr besaß,

meinte ich, ich sollte im Schloß des Königs auf Diebstahl aus¬

gehen. Als ich das tat, hörte es der König, steckte mich in

diese Kiste und warf mich ins Wasser!" Als er das erzählte,

fiel der Maus ein, was er zu ihrem Besten getan hatte.

5. Dann ging die Maus davon, um den Bären und den Affen

zu suchen. Als sie beide gefunden hatte, brachte sie sie her¬

bei, und alle zusammen öffneten die Kiste und holten den Brah¬

manen heraus. Der Brahmane hungerte und war dem Tode

nabe. Da sagten Bär und Afi'e zur Maus: „Gehe, suche und

bringe etwas Weizen und Gerste für ihn zum Essen!" Da ging

(12)

250 A. H. Francke, Zur tibetischen Vetalapancavimsatika (Siddhikür),

die Maus und brachte [bald], was sie gefunden hatte: Weizen,

Gerste, Aprikosen, Walnüsse. Diese gab sie dem Brahmanen,

und er genas.

Gerade gegenüber von dort war eine große Ebene. Weil

auf der [diesseitigen] Ebene viel Gras war, blieben sie alle da¬

selbst über Nacht. Als sie nun von der gegenüberliegenden

Ebene eine Plamme, so groß wie die einer Lampe, leuchten

sahen, sagten sie: „Du, Maus, bist ein guter Gänger! Geh, sieh

nach, was das für eine Flamme ist. Wenn wir gehen und es

ist ein Mensch [dort], dann sieht er uns. Wenn du gehst, sieht

dich .kein Mensch!" Die Maus stieg auf etwas Pferdemist, der

im Flusse [schwamm] und fuhr hinüber. Als sie nachsah, war

kein Mensch dort; [vielmehr] sah sie, daß die Flamme aus der

Mitte eines viereckigen Steines leuchtete. Obgleich sie ihn fort¬

zutragen gedachte, konnte sie ihn nicht heben. So ging sie

zurück und sprach zum Affen und zum Bären : „Es ist kein

Meusch dort; die Flamme leuchtet aus einem viereckigen Stein.

Ich gedachte, ihn fortzutragen, konnte ihn aber nicht heben!"

Darauf ging der Affe, ihn zu holen, und im Augenblick hatte

er ihn gebracht. Daß dieser Stein eine Kostbarkeit war, wußten

sie. Deshalb legten sie ihn vor sich, erzeigten ihm Ehrfurcht

und beteten:

„Möge auf dieser großen Ebene ein Schloß und ein Dorf

entstehen !

Möge der Brahmane König in diesem Schlosse werden!

Mögen ihm viele Untertanen und Diener erstehen!"

Indem sie so beteten, entstand ein großes Schloß auf dieser

Ebene, bei dem sich viele Untertanen und Diener befanden.

Darauf trugen sie den Brahmanen [hinein], machten ihn zum

König in diesem Schlosse und sagten zu ihm: „Wer auch

immer sagt: Gib mir diesen Edelstein! so gib ihn nicht her!"

Dann gingen die Maus, der Bär und der Affe jedes wieder an

seinen Ort.

6. Der Brahmane aber blieb dort als König. Eines Tages

kam ein großer Kaufmann vor jenes Schloß und bedachte:

,, Früher war nichts als Gras auf dieser Ebene; nun aber ist ein

sehr schönes Schloß und ein Dorf hier entstanden. Ich will

einmal iu das Schloß hineinschauen!" So ging der Kaufmann in

(13)

A. H. Francke, Zur tibetischen Vetälapancavifiiäatikä (Siddhikür). 251

das Schloß. Dort befand sich der Brahmane, welcher Köuig

geworden war. Der Kaufmann sprach : „He, König, auf dieser

Ebene war nichts als etwas Gras. Jetzt .ist da ein Schloß und

ein großes Dorf gebaut. Wer hat das gemacht?" Der König

erwiderte: „He, großer Kaufmann, dieser Stein ist der Er¬

schaffer von Schloß und Dorf!" Und er zeigte ihm den Edel¬

stein. Der Kaufmann kannte diesen Edelstein wohl und sprach:

„O König, leihe mir diesen Stein auf sieben Tage!" worauf der

König erwiderte : „Dieser Stein wird keinem Menschen gegeben !"

Als der Kaufmann sagte, er wolle den Edelstein nach sieben

Tagen wiederbringen, gab er ihm den Edelstein. Der Kauf¬

mann ging hinaus und trug den Edelstein, während der Brah^

mane ihm nachschaute. Das Schloß sowie das Dorf folgten

dem Kaufmann nach. Der Brahmane kam aber wieder zu

seiner vorigen Kiste [zurück].

7. Da sah die Maus, daß der Brahmane wieder vor der

Kiste saß und Schloß und Dorf verschwunden waren. Drum

ging sie zum Affen und Bären und sprach: „He, Affe und Bär,

ihr beiden! Das Schloß und Dorf, wo der Brahmane war, ist

verschwunden, imd der Brahmane ist wieder vor seiner früheren

Kiste angelangt!" Da gingen der Alfe, der Bär und die Maus

vor den Brahmanen und fragten: „Was ist dir denn geschehen?

Wo ist denn das Schloß und das Dorf hingekommen?" Der

Brahmane antwortete; „Ein großer Kaufmann ist zu mir ge¬

kommen. Er sagte, ich möchte ihm jenen Edelstein auf sieben

Tage borgen. Und als er ihn forttrug, ging auch das Schloß

und das Dorf mit ihm zusammen fort !" Da verfolgten der Affe,

der Bär und die Maus den Kaufmann, und als sie den zehnten

Tagesmarsch vollendet hatten, kamen sie vor dem Schloß und

dem Dorfe an. Da hielten sie einen Rat und sprachen; „Heut

nacht gehe du, Maus, und sieh dich überall drinnen um, wö

der Edelstein ist. Wenn wir gingen, würde uns ein Mensch

sehen!" Die Maus erwiderte: „Gut, ich werde gehen!" Als es

dann Nacht wurde, blieben der Affe und der Bär vor der Tür,

während die Maus hineinging. Indem sie überall nachsah, be¬

merkte sie, daß in einem Zimmer Weizen und Gerste aufgehäuft

waren. In deren Mitte war der Edelstein versteckt, und auf den

vier Seiten waren als Hüter vier Katzen angebunden. Als die

(14)

252 A. H. Francke, Zur tibetischen Vetalapancavimsatika (Siddhikür).

Maus die Katzen sah, fürchtete sie sich und lief zurück. Sie

kam zum Affen und Bären, um es ihnen zu erzählen und

sprach: „He, Affe und Bär, ihr beiden! Der Edelstein ist da;

aber er ist sehr sicher versteckt. In einem Zimmer ist Weizen

aufgehäuft. Er ist in der Mitte versteckt, und auf den vier

Seiten sind vier Katzen als Wächter angebunden. Ich fürchtete

mich vor den Katzen und konnte nicht weiter gehen."

8. Da ber/eten der Affe und der Bär die Maus und

sprachen: „Maus, du mußt nachsehen, wo der Kaufmann liegt.

Dann mußt du zu ihm gehen und seine Haare und seinen Bart

abbeißen! Wenn er's aber merkt, laufe davon!" Die Maus tat,

wie ihr gesagt worden war, ging zum Kaufmann und biß ihm

seine Haare und seinen Bart ab. Da wachte der Kaufmann

auf, zündete ein Licht an und sah nach. Da waren sein Haar,

seine Augenbrauen und sein Bart, alles, abgebissen. Der Kauf¬

mann sprach: „Das hat eine Maus angerichtet. Bringt die Katzen

her, die den Edelstein hüten!" Nun band man zwei beim Kopf¬

kissen fest, und zwei bei der Fußdecke. Als die Maus das ge¬

sehen hatte, rief sie noch einige Mäuse herbei. Sie rollten den

Edelstein fort, und als der Morgen anbrach, war er bis zur

Tür gekommen. Da sagte die Maus: „He, Affe und Bär, ihr

beiden, der Edelstein ist bis zur Tür gebracht!" Nun brachen

Affe und Bär, beide, die Tür auf, und als der Edelstein draußen

[wieder] in ihre Hände gekommen war, freuten sie sich alle

und trugen ihn davon.

9. Als sie nun zum großen Fluß kamen, ritt der Affe auf

dem Bären, während die Maus im Ohr des Affen saß. Den

Edelstein trug aber der Affe im Munde. Als sie in die Mitte

des Wassers gekommen waren, wurde der Bär boshaft und

sprach: „Seht einmal, Affe und Maus, ihr beiden, wie stark ich

bin, daß ihr beide auf mir reitet! Wie stark bin ich doch!"

Da dem Affen die Maus im Ohr saß, konnte er nicht gut hören;

und weil er den Edelstein im Munde hatte, konnte er nicht zum

Bären sprechen. Als der Bär [seine Rede] noch einmal laut

wiederholte, dachte der Affe: Er wird [uns noch] ins Wasser

werfen, fürchtete sich und rief: „Ja, der Bruder Bär ist sehr

stark!" Da fiel der Edelstein aus dem Mund des Affen ins

Wasser, worüber sie alle sehr betrübt waren. Als der Affe

(15)

A. H. Francke, Zur tibetischen VetalapaücavimSatikä (Siddhikür). 253

das Flußufer erreichte, machte er Lärm und rief: „Heut wird

ein Krieg beginnen gegen alle, die im Wasser wohnen. Flieht,

oder baut euch eine Burg am Rande des Wassers!" Auf diesen

Ruf kamen alle Fische und sprachen ; „Bitte, Bruder, bau' uns

eine Burg!" Da führte der Affe alle Fische an die Stelle, wo

der Edelstein lag und ließ sie aus dem Wasser Steine bringen.

Sofort brachten alle Pische Steine herbei, und ein Fisch brachte

den Edelstein. Da sprach er zu den Fischen: „Es wird nicht

Krieg werden; ihr könnt alle wieder gehen!" Und die Fische

gingen alle wieder ins Wasser zurück.

10. Dann begaben sie sich alle auf die Ebene, wo das

Schloß und das ganze Dorf angekommen war. Dort wurde der

Brahmane wieder als König eingesetzt, der Edelstein wurde

ihm übergeben und in die Wand als Schatz eingefügt. Darauf

sprach die Maus zum Brahmanen: ,,0 König, von jetzt an

zeige den Stein niemandem. Als wir ihn vom Kaufmann

holten, habe ich viel erlitten. Mein ganzes Haar ist drauf-

gegangen!"

Schluß.

Da sagte der König, der den Leichnam trug: „A-kha-kha,

die arme Maus!" Der trockene Leichnam sprach: „Si-ü-pa-ki-

huh-phad!" gab jenem eine Ohrfeige und entfloh ins Land der

trockenen Leichname.

Bemerkungen.

Im großen und ganzen stimmt die vorliegende tibetische

Erzählung mit Nr. 13 der mongolischen überein. Zum Schluß

fügt die mongolische Version noch hinzu, daß der Stein auch

noch eine Brahmatochter mit vielen Gespielinnen für den Brah¬

manen herbeischaffen mußte und daß dem Brahmanen hundert

reizende Söhne geboren wurden. Der den No-rub-can tragende

König ruft daraufhin: „So ein hochbeglückter Chan war das!"

und nun macht sich ersterer wieder davon, und das geschieht

in der Nähe des Nägärjuna, welcher dem König die Schuld

vergibt.

Mir fällt im besonderen auf, daß in der mongolischen

Fassung die Farbenangaben bei den Tuchstücken, weiß, rot,

schwarz, ganz fehlen. Vom tibetischen Standpunkt sind die¬

selben aber von einigem Interesse. Die Knaben erhalten weißes

(16)

254 A.H. Francke, Zur tibetischen Vetälapancavimfiatikä (Siddhikür).

Tuch. Tatsächlich ist die Farbe der Männerkleidung im west¬

tibetischen Reich (Ladakh usw.) weiß. Die Mädchen erhalten

schwarzes Tuch, und dunkel (violettschwarz) ist die Farbe der

Frauenkleidung in Ladakh. Die Lamas bekommen rotes Tuch;

denn, wie bekannt, ist die Farbe der Mönchskleidung in Tibet

im allgemeinen rot. — Ich glaube aber, daß wir noch einen

Schritt weiter gehen können und die Kleiderfarben in Beziehung

setzen zum Farbensystem der dreiteiligen Welt der alttibetischen

Mythologie. Die Männer kleiden sich deshalb weiß, weil sie

sich als Kameraden Kesars (Gesar) fühlen, und diesem steht

als Göttersohn (Iha-yi-hu) die weiße Farbe zu. Die Frauen da¬

gegen kleiden sich dunkel, weil sie den ihrer Schönheit wegen

berühmten Nägini zu gleichen wünschen, und deren Reich hat

die schwarze oder blaue Farbe zu eigen. Wie ich schon

anderswo berichtet habe, ist der Pe-rag genannte Frauen¬

schmuck nichts anderes, als die über den Kopf der Trägerin

hinausragende Wasserschlange. Das Rot der Lamatracht da¬

gegen mag indischen Ursprungs sein und mit der roten Farbe

der alttibetischen Erdmutter nichts zu tun haben.

(17)

Spenglers Magische Kultur.

Ein Vortrag.

Von C. H. Becker.

Zu der monumentalen Dichtung, die Oswald Spengler unter

dem Titel „Der Untergang des Abendlandes" uns geschenkt hat,

soll nicht als Ganzem Stellung genommen werden. Der Orien¬

talist beschränkt sich auf sein Fachgebiet, auf das übrigens von

Spengler stark in den Mittelpunkt gestellte Teilproblem der

„magischen" oder „arabischen" Kultur. Dabei wird mit vollem

Bewußtsein auf Berücksichtigung der fast unübersehbaren

Spenglerliteratur verzichtet. Wer wie der Schreiber seit zwei

Jahrzehnten ^gerade diesem Problem seine beste Kraft ge¬

widmet hat^), glaubt berechtigt zu sein, auch ohne Bezugnahme

auf andere und ohne ausgedehnten Quellenapparat sich zur

Sache zu äußern. Das Problem ist für alle Orientalisten wichtig

genug, für Vorderasienforscher ist es schlechthin das histo¬

rische Grundproblem ihrer Arbeit.

I. Was versteht Spengler unter „magischer Kultur"?

Unter Ablehnung der üblichen Periodisierung der Ge¬

schichte in Altertum, Mittelalter und Neuzeit und der ebenso

üblichen Beziehung alles historischen Geschehens auf das uns

heute noch Wichtige entwickelt Spengler seine Theorie von den

historischen Perioden als koordinierten biologisch-morphologisch

zu betrachtenden Lebewesen. Alle bisherige Geschichtsbetrach¬

tung erscheint ihm ptolemäisch, die seine kopernikanisch. Ent-

1) Für niihere Belege darf er auf seine zahlreichen Schriften zur

Sache verweisen, die binnen kurzem im ersten Bande .seiner „Islani-

.studien' bei Quelle -Meyer gesaramdt erscheinen werden.

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