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Die Stamme des nordöslliehen Kurdistan
> (III
Ur. O. Blnu.
Auf jenem merkwürdigen Dreieck, in dessen Milte das ehr¬
würdige Haupt des Ararat auf die Gränzen dreier Reiche lierab-
hlickt, und dessen Spitzen durch drei Seen, den Gökdsche auf
russischem, den Schaiii auf persischem, den Van-See auf türki¬
schem Gebiete bezeichnet sind, schieben sich Vorposten dreier
Nationen in einander, die auch als Anhänger dreier verschiede¬
ner Glaubensbekenntnisse sich gegenüberstehen.
Von Westen und Norden her ziehen sich die armenischen
Ansiedelungen, von Osten her tu rk manische Stämme, von
Süden her kurdische Clans bis in diesen Winkel herauf.
Die Reibung der Gegensätze hat noch nicht vermocht, die
Schranken zu beseitigen, welche Natur und Politik, Nationalität
und Glaube zwischen diesen Völkern gesetzt haben; aber es ist
unvermeidlich, dass die fortgesetzten vielfachen Berührungen der¬
selben unter einander allmälig die Eigenthümlichkeiten eines jeden zu verwischen und einen unentwirtbaren Knäuel ethnographischer
Verquickung zu erzeugen drohen. Es dürfte daher an der Zeit
sein, die Trümmer dieser Nationalitäten für die Wissenschaft zu
bergeu, ehe sie völlig zu Grunde gehen. Im Folgenden soll ein
solcher Versuch unter besonderer Berücksichtigung der kurdi¬
schen Slämme, uls derjenigen, deren .Selbstständigkeit am meisten bedroht ist, gemacht werden.
Vier Kurdenstämme sind es vornehmlich, deren Wundergebiet
das Land zwischen den drei Seen bildet: die Dschelali, M e-
lanli, .Schakaki und Haideranli.
Die Dschelali stehen von allen Kurden am meisten ausser¬
halb des Zusammenhanges mit der alten .Stammverfassung, welche
die südlicheren .Stämme bewahrt haben. Wie sie örtlich am wei¬
testen von dem Mittelpunkte Kurdistans versprengt sind, so haben
sie auch in sich bereits eine .Menge nichtkurdischer Elemente
aufgenommen, und sind mit armenischem, jesidiscbem und turk-
manischein Blute versetzt. Ihren Namen tragen sie angeblich')
von einem mächtigen und kriegerischen armenischen Fürsten,
I) Wngner, Weise n.ioh frr.sien II, S- 232.
Ulau , die Slämme des nordösllichen Kurdislan 585
Nameos Dschelal, welcher vor einigen Jahrhunderten lebte und
viele Kurden iu seinen Diensten hatte. .Sprachlich wäre gegen
diese Angabe nichts einzuwenden , da sowohl andere Genossen¬
schaften , wie z. B. der Derwischorden der Dschelali in Mul¬
tan, welcher von Seid Dschelal el-Bochari benannt ist,
in derselben VVeise zu ihrem Namen gekommen sind, als aucb
die Kurdenstämme s^bst sich bäufig nach ihrem Fürsten zu
nennen pflegen. Indess bleibt es eigenthümlich, dass iu jenem
Namen einerseits alle die Stammnamen aufgegangen siud, welche
nothwendiger Weise jene Kurden im Dienste des armenischen
F'ürsten Dschelal führten , uud andrerseits sich an jenen Namen
nicht, wie es soust bei den grösseren kurdischen Stämmen üblich
ist, eine Abzweigung von besonderen Bezeichnungen für die ein¬
zelnen Familien des Stammes angelehnt hat. Auf die- wieder¬
hollen Fragen, die ich an Dschelali richtete, um zu erfahren zu
welchem grösseren Zweig der Kurden sie sich rechneten und
in weicbe Familien sie zerfielen, wurde mir beständig die Ant¬
wort, dass sie bloss Dschelali und alle Dschelali seien. Ein
einziger gab mir an, dass sein Grossvater ein D u m b el i - Kurde
gewesen sei: eine Notiz, mit der ich, da letzterer Name ander¬
weit nicbt zu verfolgen war, nichts zu machen wusste, bis icb
in einem mir gehörigen Manuscript eines geographischen Wörter¬
buches von Ni'met ullah Schirwani') die folgende Notiz
fand: „Dunbeli (.Ji^o), mit Dliaram beim Dal, ist der Name
eines Stammes («.sjLb) von den Kurden; sie gehören zu den
Kyzylbasch, reden türkisch uud sind Schiiten, ihr Wohnsitz ist
das Viliijet von Choi" u. s. w. ^) Du gegenwärtig der District
von Choi gar keine nomadisirenden Kurden mehr beherbergt, so
scheinen die Reste dieses und anderer Stämme ihre Zuflucht in
jenen Gebirgsgegenden gefunden zu haben, die jetzt der Aufent¬
halt der Dschelali sind. Ich bin daher um so mehr geneigt an¬
zunehmen, dass der Name Dschelali ursprünglich gar kein natio¬
naler Stammname dieser Kurden ist, sondern eine appellative
Bezeichnung war, unter der, zuerst von der umwohnenden Be¬
völkerung, jene versprengten Trümmer kurdischer Nationalität
zusammengefasst wurden, als hierbei ein türkischer Sprachge¬
brauch der Erklärung des Namens zu Hülfe kommt. Im Türki¬
schen bedeutet nämlich einen Rebellen und Aufrülirer. Das
Krieger- und Rauberhandwerk, welches die Dschelali vorzugs-
1) Der iTilel des Werkes ist in der Vorrede folgendermassen ange¬
geben: »-.»L«>»Äi? c>>-j!jC vLäJ', im vorausgescbickten Inhaltsverieiebniss da¬
gegen vollständiger und elwas anders: fcs^L*— jjjLä~«; v_)L-»Äjl i.^jf^ w<UJ . Es ist in persischer Sprache und ziemlich neu.
2) Nach lerch in Mei. asiat. II, S. 642 leben auch Dümbeli jetzl nord lieb von Palu,
586 Hiau, die Slämme des nordösllichen Kurdislan.
weise beschäftigt und in fortwährenden Conflict mit den drei
Gränzstaaten bringt, mag ihnen diesen Rbrennamen eingebracht
haben. Allmälig aber ist derselbe von den damit Bezeichneten
selbst angenommen worden und gegenwärtig wenigstens ein eben¬
so bestimmt abgegränzter Ntammesname, wie andere in dieser
Gegend.
Die Stärke dieses Stammes wird auf^5000 Zelte angegeben,
die unter den Befehlen des gefiirchteten Häuptlings Ate sch
Aga stehen, welcher seinerseits dem persischen Gouverneur von
Maku, Ali Chan, tributär ist. Der Hauptsitz der Dschelali ist
während der Wintermonate das Sandschak Maku, in welchem sie
namentlich um den Ak Göl, einen kleinen fischreichen Bergsee
von etwa 3 Stunden Umfang, angesiedelt sind Hier hausen sie
theils für sich abgesondert in Dörfern, theils mit anderen Stäm¬
men, die ebenfalls zu den Untergebenen (Tevabi') Ali Chan's ge¬
hören, vermischt. Diese letzteren sind: ein Theil der .Mei anli
und der Haideranli, von letzteren namentlich ein Zweig der
Bruk^ani, deoen wir weiterhin wieder begegnen werden, dann
die unabhängigen Stämme der Kendikani, Banikani, Mi-
sirkani, Zindikani; endlich die nicht rein kurdischen Clans
der Karakojunli, welche von den um Choi wohnenden ver¬
schieden sein sollen, und der Jes idi, die weder von den Kur¬
den noch von deu Turkmanen als Stammgenossen angesehen
werden. Die hauptsächlichsten Dörfer, die um den Ak Göl her¬
umliegen und jene Bevölkerung während des Winters aufnehmen,
sind: Chorof, Pendschebri, Tambat, Jerkölpy '),
Zendschana, Balula, Mevli, Schiddi, Säkirli, Ka¬
ra g o t s c h - A I i , Terekeme, Indsche, Uzgün, Nasik,
Rosdu, Karabulak, Adagan, Tikme (dieses nicht zu
verwechseln mit dem nacb dem kl. Ararat zu gelegenen Orte
gleiches Namens), und ausserdem noch zwei Dörfer, deren Na¬
men mein Gewährsmann, ein Kurde aus Maku, vergessen hatte.
Die Dschelali sind in diesem ganzen District der mächtigste und
verbreitetste Stamm. Ihr Wanderkreis umfasst den Theil des
persisch-türkischen Gränzgebirges , der südlich und östlich von
der Ebene von Kara-Ainah, westlich von Diadin und dem Balyk-
göl begräozt wird, und nord- und nordwestwärts das Gebiet des
Ararat bis zu dem Ufer des Araxes.
.Sobald der Schnee von den Bergen zu schmelzen beginnt,
verlassen sie ihr Kischlak (Winterquartier), um..,«ach dem Jailak
(Sommerlager) zu ziehen. Sie pflegen mit ihren Heerden zuerst
flussaufwärts den Bach entlang zu schwärmen, der das Thal von
Kara-Ainah nach Maku durchströmt, und werfen sich dann quer
J) Venn IIUli irli eni.slellt aus Jer-Iiöprü „ Erilbrückc ", da namentlicb in armeniscbem Munde das liirkisebe kii prii immer zn kfirpü, kirpi u.
Nbnl. wird.
Blau, die Stämme den nordüsllichen Kurdistan. 587
über die Curuwaneustrasse , die Erzeruni und Täbris verbindet,
und 3 St. südlicb von Bajezid die türkische Gränze überschreitet.
Je nach der Verfolgung, die ihnen auf dem einen oder andern
Gebiete droht, «vählen sie dann den diesseitigen oder jenseitigen
Abhang des Gebirges, um ihre Ueberfälle auf die PrUblingscara-
wanen zu machen. Diese Ueberfälle wiederholen sich jährlich im
Mai oder Juni und währen so lunge bis der persische oder tür¬
kische Gränzstattbalter sich genöthigt sieht, die bewaffnete Macht
EU ihrer Vertreibung aufzubieten. Als ich im Juni 1857 diese
Gränze passirt und in Kilissakend übernachtet hatte, wurde im
Augeoblicke unseres Aufbruches der Gouverneur mit der Nach¬
richt überrascht, dass nächtlicher Weile die Dschelali mit tausend
Zelten an dem Defile der grossen Strasse, eine Stünde von dem
Sitz des Statthalters sich gelagert, bereits dus Vieh von zwei
Dörfern weggetrieben und eine Carawane gebrandschatzt hätten;
bei dem Zusammenstoss mit letzterer waren mehrere Menschen ver¬
wundet worden. Die Verwegenheit und Raschheit, mit denen die
Dschelali ihre räuberischen Ueberfälle zu muchen pflegen , hüben
sie zum .Schrecken aller friedlichen Bewohner der Ebene gemacht.
Ehe noch die bewaffnete Hülfe in Anzug war, batten sich die
Räuber schon wieder in die Bergesbaldeu zurückgezogen, wohin
sie Niemand verfolgt. Alle Reisenden wissen von solchen durch
die Dschelali verüblen Verbrechen seit Jahrzebenden zu erzäh¬
len '); in neuerer Zeit ist ein besonderer Anlass hinzugetreten,
der sie ihre Räubereien mit besonderer Vorliebe auf dem Gebiete
des persischen Gräuzstatthalters von Ovadschik ausführen lässt.
Dieser nämlich, noch derselbe Chalife Kuli Chan, den schon
Wagner uuter dem Namen Chul-Chan kennt hat einen Sohn,
Kerim Aga, welcher eine .Zeit lang am Hoflager Ali Chans von
Maku zubrachte. Dort verliebte sich die eiozige Tochter des
kurdischen Häuptlings, die schöne Fatme, in ihn und er ent¬
führte sie, da ihr Vater seine Einwilligung versagte, nach vielen
Abenteuern in das Gebiet von Ovadschik. Hierauf rückte Ali
Chan mit 3000 Bewaffneten gegen Ovadschik und drohte alles
mit Feuer und Schwert zu verheeren, wenn nicht seine Tochter
und der unfreiwillige Schwiegersohn ihm ausgeliefert würden.
Es war iu der Zeit, wu die Russen im letzten Türkenkriege
eben Bajezid genommen hatten, und ein russisches Corps stand
nahe der Gränze auf den Höhen des Casdi-Göl. Zu dessen Be¬
fehlshaber schickte Kuli Chan, in seiner Bedrängniss um Hülfe,
und dem russischen Machtwort gelang es, Ali Chan, dem an gu¬
ter Freundschaft mit den Russen gelegen ist, zum Abzug zu bewe¬
gen. Er ging; aber alljährlich sendet er seine Dschelalis, um
uuf Kuli Chans Gebiete Raubscbäden anzurichten , die dem Ststt-
1) Wagner a. a. 0. II, S. 231.|
2) a. a. 0. 1, S. 311.
588 "'f« > «l«« Slämme des nordöstlichen hurdislan.
hulter des Schall Verlegenheiten hereiten. Während so der Groll
des Alten sich Luft macht, leben Kerim Aga und Futine Hanum
im Schlosse von Kilissakend, Uber dessen Pforten zwei ausge¬
stopfte Wölfe und Hörner und Geweih von allerhand Jagdbeute
prangen, ein persisches Wohlleben, gepriesen, er als der Niinrud
der Berge, sie als die Perle von Ovadschik.
Sehen sich nun die Dschelali von der anrückenden Gensdur-
merie, oder gar von regulären Truppen, die aber erst vun Choi
requirirt werden mUssen, bedrängt, so bedarf es eines Nacht¬
marsches, um auf türkisches Gebiet hinüber zu gelangen. Hiei ist
das kleine aber weidereiche Plateau des Casdi-Göl der Sam¬
melplatz aller Kurden aus den benachbarten Gauen während 40
Tagen im Sommer, d. h. von Johannis an bis Anfang August.
Während dieser Zeit nämlich, so lange die Weiden grün siud,
pflanzt sich bei dem kleinen See, der dem Plateau den Namen
gegeben hat, das türkische Quaruntäneamt auf, welches alle in
der Richtung von Täbris her kommende Carawanen auf 5 Tage
mit Sack und Pack internirt. Nächst dem schönen Graswuchs
ist es vornehmlich die bequeme Gelegenheit Beute zu machen,
welche dann die Kurden anlockt, und so lagern sie, vou den
Felskanten hernieder lauernd, ob sich nicbt ein Thier verlaufe
oder ein unbewachter Waarenhallen in ihren Bereich gerälhe,
rings um das Gehege der Quarantäne, deren Beamte nur unter
stetem Schutz bewaffneter Wächter den Dienst in diesem Som¬
merlager zu versehen wagen. Sobald die Quarantäne wieder in
ihre Winterstation Kyzyl-Dize, aus den Zelten wieder hinab in
die Erdlöclier, gezogen ist, verlassen auch die Kurden den ab¬
getriebenen Weideplatz dieses Passes, und die Dschelali wenden
sich theils nach den höheren Halden des Ararat, theils nach den
Gebirgsrücken, die sich seitwärts von Diadin hinziehen.
inzwischen haben sich ihnen audere vereinzelte Kurden¬
schwärme, deren Kischlnks auf türkischem oder russischem Ge¬
biete liegen, angeschlossen, und theilen mit ibnen die Weideu,
uder auch cs gelien zu ihnen die Flüchtlinge kurdischen Geblütes
Uber, welche aus Abneigung gegen das von der türkischen Be¬
hörde betriebene Ansiedlungswesen oder aus Furcht vor dem
Nizamrock des Grossherrn oder des Czaren sich wieder dem No¬
madenleben zuwenden. So wächst der Zug der Dschelali all¬
jährlich um viele Köpfe, besonders seit Beginn des letzten
russisch-türkischen Krieges. Die kleinern Stämme, die sich in
den Jailaks gewöhnlich mit den Dschelali zusammenfinden, sind
die Adami, Sip irli und einige andere Abzweigungen der
H a i d e r a II I y - Tribus. Die von der türkischen Regieruug in
und um Diadin angesiedelten Stämme sind dagegen: die Siv-
kanly, Mee manly und Ad aman ly. Die ersten von diesen
sind eiu Zweig der .Sila'ly, auf die wir unten zurückkommen
werden, die letzten sind ursprünglich Haideranly. Dem
Ulau, die Slämme des nordösllichen h'urdislan. 581)
Nuiumi nucli sind sie mit deu nomadisirenden Adami ideutiscL,
iusofern fiir selir viele kurdisclie Stammnamen eine do|i|ielte Form, eine kürzere und eine längere, oline nacliweisliclien Unterschied
der Bedeutung, io Gebrauch ist. So hört man Sivkili neben
Sivkauly> Kaziki neben Kazkauly, Manekli neben IM a-
nukanly, Mela neben Mclanly, Sumai ueben Sumaili,
Marchor neben M aich oran ly: ein Umstand, der manchen
Differenzen in den Angaben anderer Reisenden zur Erklärung
dient. Ich glaube die Bemerkung gemacht zu haben, dass die
längere Namensform vorzugsweise für den angesiedelten Theil
eines Stammes C-rf^;)» die kürzere dagegen für die nomadisi-
rendeu Familien C^-*^ ) üblich ist; doch machen die Kurden
selbst dies nicht zur Regel. Ist ein Theil eines Stammes
Rujah, der andere Kötsclier ■), so bestebt zwischen beiden
fernerhin keine Gemeinschaft. Die sesshaften werden von den
nomadisirenden Brüdern verachtet und selbst verfulgt; sie gelten
zwar für weniger wild , nber man kann auch ihre sittlichen Tu¬
genden nicht in gleichem )|l«usse rühmen, wie die der unabhän¬
gigen Nomaden. Die Feilheit und Gesunkenheit der kurdischen
Weiber in den Dörfern um Bajezid und Diadin ist unter den
Osmanli der Umgegend sprichwörtlich geworden. ■— Die Dsche¬
lali rühmen sich alle Kötscher zu sein, und in der That er¬
kennen sie, obwohl sie auf persischem, türkischem und russischem
Boden weideu, weder den Schah, noch den Sultan, noch den
Czaren als ihren Herrn an , sondern Ali Chan von Maku ist ihre
höchste Instanz, — eiu Sprössling ihres Stammes und der be¬
gütertste unter allen Häuptern derselben.
An das Wandergebiet der Dschelali gränzt südlich und süd¬
östlich das der Mei auly oder Mela-Kurden, auch Milanly
und Milan genannt. Sie stammen ursprünglich von den Hai¬
deranly ab, sind aber schon längst zu einem selbstständigen
Taife herangewachsen und haben sich durch Verschmelzung mit
Resten andrer Stämme verstärkt. Der Mittelpunkt ihrer Riscb-
laks ist das Gebirge von Kotur und die Berge zwischen Kara
Ainah und Choi. Auf den Karten wird der Knoten dieses
Gebirgsstockes gewöhnlich Jilun Dagh „der Schlangenberg"
genannt; die beiden höchsten Gipfel führen die Specialnamen
Tsch ibu kli und Siwandagh. Die vulkanische Bergkette,
1) Etymolosisch bedeutet dieses fur alle Noinadenslümine übliche Wort (s. Lerch in Mei. asiat. III, S. 632, der aber deo Namen örtlich beschränk¬
ter glaubt als er in der That ist) nichts anderes als „herumziehend" und isl türkisch. Ebenso allgemein ist die Bezeichnung Karatschadir für Kurdensliimme , nomadische sowohl als sesshafte; es bedeutet dies nichts anders als „Schwarzzelt", und bei den Kurden sind alle Zelle scbwarz.
Weisse Zelte sab ich nur ein einziges Mal hei eiuem nicbikurdiscben Stamm aus der Nähe von Eriwan. Selbsl Turkmanen siud uach l'insländen Kara- Iscbadirs.
3 9 *
590 Blau, iie Slämme des nordösllichen kurdislan.
welche die Verbindung jenes Knoteos mit dem Araratsysteni her¬
stellt, heisst mit einem gemeinsamen Namen Mam isch Chan,
eine Bezeichnung, welche nebst anderen Ortsnamen der Gegend,
wie Mamisch-Scherif und M am i sc h an , an den, jetzt aller¬
dings weit südlicher gezogenen Kurdenstamm Mam misch, den
Praser zu den Bilbäs zählt'), erinnert. Dieser Gebirgszug ist
persisches Gebiet, während der District von Kotur neuerdings
wieder der TUrkei einverleibt wurde. In dem bezeichneten Stri¬
che haben die Mela uly nur fUnf Ansiedelungen auf persischem
Buden, nämlicb die Dörfer: Kürdikend, Kara-Agatscli,
Kyzyldscha-Kalaa, Kara kusch uud Karput, sämmtlich
im Stromgebiet des Ak-Tschai in den Bergen auf dessen rech¬
tem Ufer gelegen. Weiter südlich zwischen Tschoruk und Choi
lassen auch die Ruinen des ärmlichen Chans von Kurdik auf
ehemals kurdische Niederlassungen scbliessen , doch sind jetzt
diese Gegenden von deu Kurden verlassen. Dagegen soll auf
den Hochebenen westlich vom Mamisch - Chan - Gebirge ein weder
türkischer noch persischer Oberhoheit unterworfener Kurdeii-
stamm, der mit den Melanly vcrwanut ist und El lend heisst,
sesshaft seiu und viele uckerbauende Dörfen besitzen. Als be¬
sondere Zweige der Mela-Kurden wurden mir fulgende angege¬
ben: die eigentlichen Melanly, die Livanly, die .Sarymiy
und die Köseler, dus letzte augenscheinlich nur ein türkisch-
persischer Spottname, welcher sich auf ihren struppigen Bart
('""T-^O bezieht. In ihrem Gebiete treiben sich uuch, namentlich
an den Gränzen desselben, einzelne versplitterte Schwärme ande¬
rer .Stämme umher, namentlich von den Haideranly im Westen
und den .Schakaki im SUden des Koturgebirges. So hatten sich
zum Beispiel während der letzten Jahre die Marchor oder
Malchor von den Haideranly unter den Mela am Jilandagh
festgesetzt, sind aber neuerdings wieder westlich nach dem
Uru m-memleket — ein Ausdruck, mit welchem Kurden und
Turkmanen noch heute die anatolischen und armenischen Pro¬
vinzen des ehemaligen griechischen Kaiserthums bezeichneu —
gezogen. Ich fand sie später unter dem Namen Malcborunly
in der Nähe von Melasgerd nomadisirend wieder.
Die Mela sind im Allgemeinen ein eben so rohes, verkom¬
menes und schmutziges Gesindel wie die Dschelali. Ich begeg¬
nete einem ihrer Züge zwischen Ha rami und Kara-Ainah,
wo sie sich am Südrande der Ebene hinzogen, während die
Dschelali den Nordrand umlagerten. Der Trupp bestand aus
etwu 200 Lastochsen, welche die Zelte und das Hausgeräth
1) Fräser, Trav. iu Koordist. S. 102 ff. Die riclitige Auss|iraclic des Stammnamens, den Fraser Bilbos, andere ßulbassi schreiben, isl übri¬
gens nach Nimetullab Mscr. (j«La1L} . Zu seiner Zeit bestand dieser Stamm ans nahe an 20,000 Familien; JöLs» j j ci«.*««.^.^ <~Jji ...
Blau , die Slämme des nordösllichen Kurdislan. 591
triig-en. Die Mänuer und Weiber meist zu Fuss, selten einmal
eine Familie zu Pferde, in welcbem Falle danu der Mann mit
den Waffen auf dem Widerrist, die Frau mit den Kindern auf
der Kruppe des Rosses zu sitzen pflegt. Der Aufzug verrietb
viel Aerroliclikeit und Elend. Die Heerden, weicbe einige tau¬
send Scbritt weiter dabinter folgten , waren wenig zabireicb und
jämmerlichen Aussehens. Der einzige Mann des Schwarms , des¬
sen Aeusseres sowohl einen höheren Wohlstand , als auch edlere
Abkunft verrietb, war der Häuptling, der dem Zuge um etwa
200 Schritt voranritt, begleitet nur von einem jungen, schönen
Weibe, die mit viel natürlicher Grazie eine prächtige silbergraue
.Stute ritt. Er selbst, Hassan Aga, ist ein blühender, rüstiger
.lüngling von sehr edlen Gesichtszügen; der vornehme Stolz, mit
dem er das „Selam-aleikum" wechselte '), stand ihm sehr wohl
an, und er zeigte sich im Gespräch von eben so feinen Sitten,
als verständigem und geradem Sinn. Er befiehlt über 800 Zelte ;
die Mela insgesammt zählen nicht mehr als 2500 Zelte oder
Hausstände. Es sei hier bemerkt, was auch für die andern
Stämme gilt, dass in der Regel jeder Hausstand nur ein Wohn¬
zelt besitzt, welches durch eine Wand in zwei Ahtheilungen,
eine für den Hausherrn , die andere für Weiber uud Kinder ge¬
schieden ist. Nur die Häuptlinge und besonders reiche Vornehme
halten besondere Zelte für ihre Harems. Das gewöhnliche kur¬
dische Zelt ruht auf 6 — 8 Säulen (Stün), je 2—2,]- Zoll stark,
lieber diese wird die aus schwarzem und braunem, mit Schafwolle
untermischtem Ziegenhaar gewebte Zeltdecke gespannt, welche
bis zu halber Mannshöhe auf drei Seiten herabhängt, während
der untere Theil der Wände durch Rohrgeflechte geschlossen
wird. Die Vorderseite bleibt gewöhnlich ganz offen, oder wird
durch Teppiche verhängt. An die Zeltpflöcke auf dieser Seite
werden die Reitpferde des Besitzers angebunden, weon er zu
Hause ist. Das Innere ist mit Teppichen und Polstern ausgelegt,
bis auf eine Vertiefung im Vordergrunde, in welcher das Feuer
brennt. Die Abtbeilung für die Hausfrau pflegt uuch nach vorne
dichter geschlossen zu sein, doch nicht undurchsichtig.
Südlich von dem District, in dem die Mela hausen, nach
dem See von Urumiah-) zu, an dessen ganzer Westseite entlang
und bis iu die Nähe des Van-Sees, erstrecken sich die Wohnsitze
1) Uer gewübnlicbe Gross aller Kurden ist Selam-aleikum, worauf aucb mit Selam-aleikum geantwortet wird.
2) Der alte Name ist gewiss ricbtiger L'rmi als L'rnmiab ; denn jene form geben sowobl die armeniscben Geograpben (zuerst, scbon im 8. Jahr¬
hundert, Ghevond bei Schahnazarian histoire des guerres des irabes en Armenie p. 129), als auch ist sie bei den Eingebornen die gewöhnliche.
Allein die Schriftsprache der Gebildeten hat bei Arabern und Persern die Femininform L'rmijjab und L'rumiah gebildet, wie aus Maku Maküjjeh, aus Chanig Cbanijja u. a. Nimetullab buchstabirt ausdriicklicb: *^<<*i;f xX^l^ »L?^ J,Lä^' i'Lj) fff;'» j.ttf^ii i\yi\ Jj« j.L3j J^l
592 Blau, die Slämme des nordösllichen Kurdislan.
der Scliakuki, eines grüssen, rein kurdisclicn Stummes. Uen
Nameu sclireibe ich so, uud uicht, wie muu allerdings uuch hört,
Schakaik (Sbeqoiq der amerikanischen Missionsberichte) oder
.Schekecht, welcbes im Volksmunde uft sogar zu Schikeft
wird, lo dem oben erwähnten Mscr. von Nimetullab heisst es :
^L^ij! j.^ (ji'-^lji t-'-^'' j'i j' ci«.">-t mjUo |.Li jLfi.ä
^^.A-'j y „Schakaki ist der Name eiues
Stammes von den Stämmen der Kurden und den Untergebenen der
Kyzylbasch, ihr Wohnsitz ist in der Gegend von Täbris uud
.Serai". Letzteres kann füglich nur der Ort gleiches Name^is
in dem District von Albag zwischen den beiden genannten Seen
sein. Nimetullab giebt die Stärke des Stammes uuf 60,00U
Häuser un. Gegenwärtig sitzt dieser Stumm nicht mehr um Täb¬
ris , sondern but sich uuf die Gebirge uu der Westgränze Ader-
beidschans, zum Theil selbst auf türkisches Gebiet zurückgezogen.
Itei ihnen besteht auch die alte .Stammverfassung uoch iu unge¬
trübterer Form. Sie babeo ein gemeinsames Oberhaupt in der
l'erson des Häuptlings der vornehmsten Fumilie. Gegenwärtig ist
es der wegen seiner Widersetzlichkeit gegen die persische Ober¬
hoheit vielgenannte El Aga, der in den Bergen westlich vou
Urumiah haust. Die Tribus (xEjlj) zerfällt in 7 Stämme (».L/s),
deren Namen mir ein Agu der Sumui folgendermnssen ungub: Su¬
mai, Budrai, Tergewar, Mergewar, Gewer, Mogor
und Schemseddin. Jede dieser Kabylen hat ihren eigenen Aga,
Häuptling. Eingeengt auf der einen Seite von der an den Ufern
des Urumiah-Sees immer fester wurzeludeu Cultur, auf der andern
Seite von der Üebermacht der unabhängigen Kurden des Emirs
von Rowandüz, ist ihr Wanderstrich allmälig auf die schmale
Gebirgslttudschuft , welche dus Westufer des Sees einfasst, be¬
schränkt worden, und viele haben sich seit dem letzten Jabrzehend
bequemt vom Nomadenleben zur festen Ansiedelung überzugehen ;
selbst in den Städten und Flecken auf dieser Seite des Sees trifft
man nicht wenige Schakaki, namentlich vou den Stämmen Su¬
mai und Budrai, ansässig. Die Tergewar und Merge wur
bewohnen die gleichuamigen ') Hochebenen auf der türkisch-persi¬
schen Gränze. Die Gawar oder Gewer nomadisiren meist in
dem Thalgebiet des nach der türkischen Seite abfliesseiiden Buches
Nebel oder Nihl -) uud sind dort mit Nestoriunern untermengt.
Die Schemseddinli und Mogor oder M u k u r r i endlich hüben
sich zumeist nordwestlich in die Landschaften Albag (Arrhapa-
chitis) undMarastan ausgedehnt. Das grosse und reicbe Weide¬
land des Albag wurde bei meinem Durchzuge im August 1857 von
1) Auf einigen Karten finde icb Jergewar statt Tergewar, wobl nur Uruckfebler.
2) Dieseu zum Tigrisgebict gebörenden ZuHuss finde icb ausserdem nur erwabul von Morier Voyage eu Perse, II, p. 109 der franz. Ausg.
Blau, die Slämme des nordöstlichen Kurdislan. 59;}
fünf Uorden dieser Mnkurri, welche unter einem Ahmed Aga stan¬
den, hestrichen. Die unabhängigen Numudenstämme , die an die
West- und Südwestgränze des Gebietes der Schakaki anstossen,
siod die folgenden : Ilinnara,Mamady, Hergi, P a dsch iki,
Mikri, Zerzaw, Bilbas und Dsch ä f. Versprengte Indivi¬
duen nller dieser Stämme findet man auch unter den Schakaki
überall zerstreut. Die Schakaki haben viel von dem bösen Ruf
der Wildheit und Raubsucht verloren, der ihnen frülier anhaftete.
Ich fand sie überall bescheiden, zuthunlich und ungefährlich. In
Dilman kamen sie regelmässig zu den Wochenmärkten aus alleu
umliegenden Gauen oft Tagereisen weit herbei und schlössen sich
uicht seiteu den Carawanen der nestorianischen und armenischen
Kaufleute an, die von da nach Van, nach Urumiah und Täbris
ziehen. Der Einfluss der amerikanischen Missionsstation hat, weun
auch nur mittelbar durch die sittliche und sociale Hebung des Völk¬
chens der Nestorianer, hier sichtlich eine segensreiche und wohlthä¬
tige Wirkung gehabt. Der Schakaki-Dialect wird demnächst durch
einen der amerikanischen Sendboten eine grammatische uud lexi¬
caliscbe Bearbeitung erfahren. Er ist von dem in deu nördliche¬
ren Gebieten gesprochenen, so weit ich dies zu beobachten Gele¬
genheit hatte, nicht verschieden, doch enthält cr weniger armeni¬
sche und türkische Lehnwörter, uls der Jargon der Dschelali,
Melanly und Haideranly.
Wenden wir uns von der Nordgränze des Schakaki - Gebietes
wieder zum Ararat zurUck, so begegnen wir in der Landschaft,
die durch den Murudtschai (östlicheu Euphrat) im Westen uud
Norden umschlossen ist und im Osten durch die türkisch-persische Gränzlinie bezeichnel wird, dem Stamme der U a i d e ran I y - Kur¬
deu, oder vielmehr den TrUniinern desselben, denn auch er bat
unter deu Maassregeln der türkischen Regieruug von seiner Selbst¬
ständigkeit und Abgeschlossenheit viel eingebüsst. Es lässt sich
ein westlicher und ein östlicher Zweig dieses zahlreichen Stam¬
mes unterscheiden. Zu dem östlichen, dessen Sommerlager meist
in dem Winkel zwischen dem Bendimalii, den Quellen des Murud
und der Strasse von Bajezid aufgeschlagen werden und dereu
Häuptling der gefürchtete alte Hassan Aga ist, gehören fünf
Stämme: dieAsjnnly, Heseny, Adamauly, Brukiani und
Dschekeini. Die Adamauly und Brukiani campiren, wie oben
erwähnt, theilweise mit den Dschelali zusammen. Unabhängig
von den Haideranly bewegen sich auf demselben Gebiete einige
Zweige der S i I u'ly, nämlich die Siv kan ly unter ihrem Häujit-
liiig .Asm Aga und eioe erst im Entstehen begriffene Seitenfa-
inilie der Sivkanly, die sich nach ihrem Anführer, Ali Tagori
.Aga, Tagori nennen. Dieser Ali ist eine Art Reformer unter
den Kurden ; er war während des Krieges Unterofficier und kehrte
mit dem Nischan Abdulmedschids geschmückt zurück, fährt fort,
deu Fess- und Uiiiformrock zu trugen, uud fübrt allerband Neuer¬
ungen ein, wegen dereu er sicb mit dem Stammeshäuptling Uber-
594 Blau, die Stämme des nordösllichen Kurdislan.
warf. Abenteurer und Unzufriedene aller Art scbaarten sicb bald
um ihn , und in vergangenem Sommer zählte er bereits 250 Zelte.
Uie Gesammtsumme der Zelte im östlichen Heideranly - Gebiet
beläuft sich auf 4000. Ein Theil der Adamauly ist iu Uiadin
und Bajezid angesessen und beschäftigt sich mit Waarentransport
durch Ochsencarawanen auf der Linie von Erzerum nach Täbris.
Der westliche Zweig der Haideranly breitet sich im gan¬
zen Nurden des Van-Sees bis an den Euphrat aus; der Mittelpunkt
ihres Gebiets und alte Sitz ihres Stammes, von dem sie auch
den Namen tragen, ist das Thal von Haidar Bey, welches nicht
fern von Ardschisch in das. Van-Beckeu mündet. Hier uud iu der
Umgegend siedeln die eigentlichen H a i d er a n I y noch heute mit
einem Besitzstand von etwa 1000 Zelten. Nebenzweige dieses
Slammes sind : die U a s r a n I y mit etwa 400 Zelten, dieSipanly
uin den Sipan-Dagh mit 300 Zelten, die Ma Ich oran ly, jetzt im
Gebiete von Melasgerd weidend, mit 180 Zelten, und die Z e re k I i
uder Zirkaiily, welche zerstreut im ganzen Gebiete vorkommen
und sich sogar jenseit des Euphrat bis in die Kassah vun Chy-
uys ausgebreitet haben. Ausserdem wohnen sporadisch zwischeu
deu westlichen Haideranly die Haidherly, welche ich, auf den
Namen fussend , für identisch mit den Haideranly gehalten haben
würde, wenn mich nicht ein alter Kurde dieses Zweiges aus¬
drücklich belehrt hätte, duss die Haidherly hier alle nur Fremd¬
linge seien und ohne Ausnahme aus dem Gebiet von Diarbekir
herüberkämen, wu ihre Heimath sei.
An dem Beispiel der Haideranly lässt sich recht deutlich er¬
läutern, was unter nomadischen und sesshaften Stämmen zu ver¬
stehen ist, da gerade dieser Stamm vorzugsweise die Versuche der
türkischen Regierung, die Kurden anzusiedeln, an sich erfuhren
hat. Es sind zu diesem Zwecke den Familien dieses Stammes
liändereien und Wohnsitze augewiesen worden im ganzen Thal
des Murudtschui hin bis uu den Kara Derbend, wo ich im Dörf¬
chen Kurdali, das uuf den Kurten noch fehlt und zwiscben Da-
ghar (in dessen Nähe auch der nördlichste Vorposten der Keilio¬
scbrifteo existirt) undSädiclian zu setzen ist, den vorgeschobensten
Posten angesiedelter Haideranly fand. Diese Ansiedelung be¬
schränkt sich aber darauf, dass sie den Boden suweit bearbei¬
ten als dringend nöthig ist, um die Vurräthe für den Winter
für sich und ihre Heerden zu erzielen ; während der Sommermo¬
nate aber ziehen sie doch, su gut wie die ansässigen Turkmanen
in Persien, mit Maun und Maus hinauf in die Berge, um ihre
Zelte uuf die grünen Alpenweideu zu pflanzen, sn dass man in
dieser Jahreszeit fast überall auf verlassene Dörfer triflt, oder
solche, wo nur die armenische Bevölkerung zurückgeblieben ist.
Uer Uoterschied ihrer Jailaks von denen der Nomaden ist nur der,
dass sie uicht stamm-, sondern gemeindeweise zusammenhalten,
uud uicbt unstätt Uber Berg und Tbal schweifen, sondern auf
ihren bestimmten Weidekreis im Bereiche ihres Dorfes beschränkt
Blau , die Stämme des nordösllichen Kurdistan. 595
sind. So ist an die Stelle des Stammes die staatliche Gemeinde
getreten. Die kurdischen Ansiedelungen in der Landschaft Alasch-
gerd sind der hesonderen Aufsicht des Kaim-Makam von Toprak-
Kale untergeordnet, der, meist seihst kurdischer Ahkunft, eine
fast unumschränkte Gewalt üher sie üht. Neuerdings hat er sich
damit heschäftigt, alle diejenigen Gemeinden, iu denen Armenier
und Kurden zusammenwohnten, so zu trennen, dass die jeweilige
Minderheit der einen oder anderu Nation das Dorf verlassen und
ein neues gründen mussle. So wechseln in der ganzen Thalebene
kurdische mit armenischen Dörfern ab; doch überwiegt die arme¬
nische Bevölkerung, wie aus folgender Liste der Dörfer erhellt,
die an meinem Wege lagen; wozu ich kaum zu bemerken brauche,
dass die armenischen Ortschaften sich durchweg durch fleis-
sigeren .Ackerbau, grösseren Wohlstand und mehr Sauberkeit sehr
vortbeilhaft vor den kurdischen auszeichnen :
Delibaba armen. 50 Familien.
Deghar kurd. 20 >)
Kurdali kurd. 30 )»
Sädichan armen. 20 >»
Choschian armen. 15 )>
Muzurry kurd. 15 >»
Dschelgahn armen. 20 )j
Bötschük kurd. 45 JJ
Karakilisse armen. 40 JJ
Ondschaly armen. 13 JJ
Kelasur
/ nersichc und russisc
Daschlilschay Ueberläufer.
Allgor
Ütschkilisse armen. 30 Familien
Diadin
1 kurdisch 72
1 armen. 2 JJ
Neben den Haideranly, die in diesen Gegenden durchschnitt¬
lich in der dritten Generation ansässig sind („ütsch babam otur-
musch" ,,drei meiner Väter haben hier gewohnt" ist die längste
Erinnerung eines dortigen Kurden), ist hauptsächlich und zwar
schon seit längerer Zeit in dieser Ebene der Stamm der Sila'ly
angesiedelt, der von Hause aus auch mit den Haideranly ver,-
wundt ist, aber sich schon so lange von ihnen losgemacht hat, dass
er nicht mehr dqzu gerechnet wird. Die verschiedenen Zweige,
die zu diesem Stamme gezählt werden und durcheinander in den
Dörfern wohnen, sind folgende sechs: Manukanly, Kurdik i,
Sivkani, Hei verli, Kazkauly, Diu n igl i. In der Regel
hält es aber hier schwer, dem kurdischen Ursprung der Familien
nachzuforschen, weil sie, namentlich Fremden gegenüber, eine
Ehre darin setzen, ihre kurdische Abstammung zu verleugnen
und sich für Osmanli auszugeben. Da sie zum Militärdienst heran¬
gezogen werden und fast ohne Ausnalime des Türkischen mächtig
596 Blau, (iie Slämme des nordösUichen Kurdislan.
Kind, so vermögen sie Hllerdiiigs häufig dieser ISehuuptung einen
Scliein von Wahrheit zu gelien, und vielleiclit kommt hald die
Zeil, wo ihre Nationalitat völlig in die des herrschenden Osma-
nenslainnies aufgegangen sein wird. Auch in ihrem Glaubensbe¬
kenntniss [iflegen sie, theils aus Unwissenheit, theils aus Devotion
gegen die Türken, ihre Inditfereuz zur Schau zu tragen, indem
sie auf die Frage, welcher Secte sie aiigeliören, mit der beliebten
Phrase antworten: „Das Medhheb des l'udischali ist auch das
unsrige! Allah kerim!" — Der volksthümlichen Kleidung und
Rüstung mit Uambuslauze (iUizrach) und .Schild (MirtuI) begegnet
man selten früher als in Diadin. Unter sich sprechen sie zwar
noch ihren kurdischen Dialect, aber mit Türken und Armeniern
sind sie genöthigt, in audern Zungen zu verkehren.
So sinken alle diese Stämme, die einen durch Verwilderung
und Fntsittlichung , wie die Dschelali und .\leluuly, die undern
durch gezwungene Ansiedelung und Verschmelzung mit undern
Nationalitäten, wie die Haideranly und Schakaki, seit der Los¬
trennung von ihren Stammverwandten mehr und mehr zur Stufe
einer unterjochten, ihrer Nationalität entkleideten, ihrer .Selbst¬
ständigkeit beraubten Mischbevölkerung herab, und es kann nicht
fehlen, dass das von der türkischen Regierung den Kurden ge¬
genüber befolgte System mehr und mehr dahin wirken wird, sie
ganz zu absorbiren, du hier nicht die Schranke, die sich sonst
im Osmanenreiche der Verschmelzung der Racen so schroff ent¬
gegenstellt, die Religion, dazwischen tritt. Ist doch neuer¬
dings sogar das Gebiet der ungebändigten Hekkjaris zur türki¬
schen Provinz geworden, der Chef der Hekkjaris, Hadschi .Ah¬
med von Baschkalaa, zum Pascha erhoben und sein Gaubereich ■)
mit Steuereinnehmern aus der Reihe der stambuler Bffendis be¬
schickt worden.
Die Reste volkstliümlicher Litteratur und Archäologie, die
sich unter diesen Stämmen der nordöstlichsten Gränzgaue Kurdi¬
stans erhalten haben, sind, wie sich bei dem allgemeinen Zu¬
stande ihrer geistigen Bildung erwarten lässt, nur gering-, doch
sind sie noch nicht ganz verschwunden.
Fragen nach eigenthümlichen Bezeichnungen der Gestirne blei¬
ben meist unbeantwortet; doch nannte ein Haideranly die folgenden:
Meizin, den grossen Bären, womit zu vergleichen,
dass nach Lerch ^) im Kurmändji - Dialecte Mözin — augen¬
scheinlich nach Maassgabe des arabischen und türkischen ^I^a/o —
das Sternbild der Wage bezeichnen soll.
Kar an diz, den Sirius, was an Lerchs Angabe erinnert,
wonach im Zaza-Dialecte Dschamus Karän „einen Stern,
1) Es gehören zu seiDem Ejalet die Kassah: Baschkalaa, Zirnik-Maaden,
Dscbulamerk, Lewi, Dijar, Tocbub, üewer, Cbyrwate, Djel, Ogramar,
Baj'erke, Chanig und Kotnr.
2) a. a. 0. S.
Htau , die Slämme des nordösllichen Kurdistan. 597
iler im Winter glänzt," liezuichnet ; die zweite Hälfte von Karan-
diz möchte mit der Schlusssylbe von Jildiz (tiirk. Stern) zu
vergleichen sein. Bei den .Schakaki heisst der Sirius dagegen
Dschnwran Kermi, was dem Kurmändji Kawrankeran
(Lerch a. a. U.) nahe kommt und „Hitzehrecher" bedeuten soll.
Mit dem Aufgang des .Sirius nämlich, Anfang August, fängt die
Hitze an abzunehmen.
Pcvörk, das Sternbild des Orion, wodurch sich wahr¬
scheinlich das bei Lerch unerklärt gebliebene Pöuir erläutert.
Die Venus wird als Morgenstern bezeichnet.
Was Scbrifttbümer anlangt, so dUrfte es eine nicht undank¬
bore Aufgabe sein, wenn Reisende sich der Durchforschung kur¬
discher Grabstätten unterziehen wollten. Die Kurden ha¬
ben meist in ihrem Wanderkreis gewisse Stätten, wo sie ihre
Todten bestatten, und gur nicht selten werden an solchen Be-
gräbnissplätzen Denkmäler in Stein gesetzt. .Selten freilich sind
diese mit Inschriften versehen, und auch in diesem Falle wohl
häufiger, in arabischer als in kurdischer Sprache. Doch würden
selbst arabische, sofern sie Namen und Genealogie des Verstor¬
benen enthalten, nicht unwichtig für die Gescbichte der .Stämme
sein. Es sind mir zwei solcher kurdischen Nekropolen aufge¬
stossen, die eine dicht an der Mündung des B e n d i in a h i - Flusses
in den Van-See, um linken Ufer, seewärts von dem Wege, der
nach der BrUcke führt, die andere in der Nähe des jetzt arme¬
nischen Dorfes Tschaurma (Tschewirme) 1!- Stunde westlich
vonCbynys, wo sich um das mit Ornamenten und Arabesken ver¬
sehene Grabdenkmal des kurdischen Heiligen Arab Dada eine
Menge kurdischer Gräber schaart. Auf den gewöhnlichen .Stei¬
nen sind die sämmtlicben Walfengeräthe des Begrabenen, zuweilen
auch sein Pferd, in Basrelief roh abgebildet An beiden Stellen
sind aber auch Inschriften vorhanden.
Handschriften von Werken in kurdischer Sprache möchten
in den Gegenden, welche dieser Aufsatz im Auge hat, überhaupt
selten sein, da es weder öffentliche noch Privatbibliotheken unter
diesen herabgekommenen Stämmen giebt. Die verhältnissmässig
reiche .Sammlung kurdischer Manuscripte, die ich im Besitz des
russischen Consuls Jaba zu Erzerum sah , stammt fust ohne Au.s-
nnhme aus dem innern Kurdistan. Doch berichtete mir ein be¬
lesener Kurde, Imam des Dorfes Muzurry (s. oben), Namens
Mulla Mebmed, dass ein Gelehrter in Bajezid, Ahmed Effendi
Choni, mehrere Werke in kurdischer Sprache, Interlinearver¬
sionen des Koran, und Bücher zum Unterricht der kurdischen
Jugend, darunter eine Fibel betitelt „Nu var" mit arabischen,
türkischen und kurdischen Texten, verfasst habe. Er sei zu Leb¬
zeiten seines (Mehmeds) Vaters in Bajezid verstorben ; ein Grab¬
mal daselbst weise das Datum nach, genauer als er es wisse.
Derselbe Mebmed besass auch einen Muchtass nri-.Scher iat.
598 Ulau, die Slämme des nordösllichen h'urdislan.
ein Compendium des moslemischen Rechts, welches, angeblich,
express für den Gebrauch in den kurdischen Districten zusam¬
mengestellt sein sollte. Das klingt freilich kaum glaublich, war
aber nicbt sogleich zu constatiren, und verkaufen wollte er das
Werk nicht. Es umfasste hundert und einige fünfzig Blatt in
Folio in ziemlich modernen Sehriftzügen ; Anfang und Ende fehlten.
Dagegen sind selbst diese verkümmerten Stämme reich an
Liedern und Gesängen. Nicht bloss dass sie auf ihren
Wanderzügen, in den Felsschluchten lagernd, ihre kurzen wilden
Kampfsprüche erschallen lassen, auch unter den ansässigen Kur¬
den der Ebenen findet man gar manchen, der abendlich die Män¬
ner des Dorfes um sich sammelt und sie durch seine Lieder von
den alten Helden der Kriegerkaste ergötzt, oder von Liebe,
Trennungsschmerz uod andern Gegenständen singt. So hatte der
Haideranly Tschat tu, ein Bewohner des Dorfes Kurdali, ein
Repcrtoir von 20 Liedern aller Gattungen, und Omer Aga,
Hassans Sohn, in Diadin behauptete an 40 Lieder zu wissen.
Er sang unaufliörlich, und die Modulation der Stimme, die er
bei verschiedenen Liedern änderte, der bald schnellere, bald lang¬
samere Rhythmus der Melodie, der bald gehobene, bald lässige
Accent der Worte, und zu alledem die lebhaften Gesten, mit
denen er seinen Gesang begleitete, bewiesen auch ohne Verständ¬
niss des Textes, dass er mit Bewusstsein und Gefühl sang.
Mit besondrer Rührung sang er zwei Lieder, die sich auf —
seine oder eines andern — Liebesbändel bezogen ; das eine galt
einer schönen Armenierin von Karakilisse, um die ein Kurde
freite und die ihm zu Liebe Muhammedanerin werden wollte, bis
das Verhältniss von den Priestern hintertrieben und er in die
Uniform gesteckt wurde; des andern Inbalt übersetzte er mir
Strophe für Strophe ins Türkische, wie ich ihn hier, zum
Schlüsse dieser Notizen, wiedergebe.
Du bi.sl scliün wie Sonne und Mond , Die scliönste Maid in Diadin
Ke.ssa, meine Geliebte!
Deinen Ring sebcnittest Ou mir,
L'nd icb icb gab Dir ein weisses Tuch — Kessa, meine Geliebte!
Am Finger trag ich den weissen Ring, Ums Haupt trügst Du das weisse Tuch —
Kessa , meine Geliebte ! Ducateo'aber hab ich nicht;
Mein Pferd ist klein , meine Lanze klein — Kessa, meine Geliebte!
Dein Bruder gibt sein Jawort nicht, Dein Schwager lässt Dicb nicbt zu mir —
Kessa, meine Geliebte!
Wabrlich, ich fliehe heimlich mit Dir in die Berge, Und will wieder als Nomade leben —
Kessa, meine Gelieble!
599
üeber die Laute des Arabischen und ihre
Bezeichnung.
Von
Ci. A. FVallin. *)
(S. Bd. IX, S. 1 IT)
Der zweite Uuclistabe uuter den Vucul - Consonanten der
Kehle ist welcher als Mitlelbuchstabe die Eigenschaften der
*) Der hiermit erscheuiende Schluss der Abhandlung des sei. Wnllin erinnert die Red. von neuem auf das lebhafteste und schmerzlichste an den nun ehenfalls Hingeschiedenen, dem wir die Krhaltung und Bearbeitung dieses Nachlasses verdanken. Noch in der Blüthe des Lebens — er war hei seinem Tode am 25. Sept. 1856 erst .S4 Jahr alt — liess KeUyrcn durch das scbon Geleistete, bei einem sebönen Vereine von Geist, Willen und Kraft, nocb weit Höheres bolfen. In unserem Herzen hat er sieh durch seine liebenswürdigen Eigenscbaften und durch die warme Pietät für seinen Amtsvorgänger, die sicb auch in der nachstehenden Zuschrift ausspricht, ein unvergängliches Denkmal gesetzt.
„An die Redaetion der Zeitschrift.
Gemäss dem Versprechen in meinem dem ersten Theile dieser Abhand¬
lung Bd. IX, S. 1 , beigegebenen Briefe übersende ich Ihnen jetzt die Fort¬
setzung und den Schluss derselben. Wie schon an jenem Orte gesagt wurde, fanden sicb für diesen letzteren Tbeil im Nachlasse des Verfassers mebrere Concepte und Bearbeitungen in schwedischer Sprache, hier weniger dort mehr ausgeführt, manchmal mit ganz veränderter Aufstellung und Beaiheitung der verscbiedenen liuehstaben. Icb habe mich bemüht, das ganze Material, so gut ich es verstand, zusammenzustellen, zu ordnen und zu verbinden, wage aher nicht zu bolfen, dass es mir gelungen sei, alle Spuren dieser L'ngleicb- heit des .Materials zu verwischen. Ich machte es mir zur Regel, die Worle des Verf. so viel wie möglich beizubehalten, und habe demgemäss nur Unbe¬
deutendes hinzugesetzt zur Verbindung des aus verschiedenen Concepten genommenen Materials, hin und wieder auch zur weiteren Ausfübrung eines vora Verf. bloss angedeuteten Gedankens. Nur am Schlüsse, vom Buchstahen d an, wo ich von meinein .Material im Stiche gelassen wurde, sah ich mich, um die Abhandlung abzuschliessen, genöthigt, nach Anleitung der bier und dorl eingestreuten hieher gehörenden Bemerkungen des Verfassers eine eigene Darslellung zu wagen; dasselbe gilt auch von der zuletzt gegebenen allge¬
meinen Charakteristik der Liquiden.
Beim Vergleiche der ersten Hälfle dieses Aufsatzes , wie sie in der Zeit¬
schrift gedruckt ist, mit den dazu gebörenden Concepten und Vorarbeiten fand sich, dass diese Manches enthielten, was der Verf. bei der letzten Bearbeitung ausgelassen halte, sei cs , dass er diesen Bemerkungen gerin¬
geren Werth beilegte, oder dass er aufdieselben im zweiten Theile zurück¬
kommen oder sie anderwärts benutzen wollte. Da ich aher jede, aucb scbein¬
bar unbedeutende Bemerkung üher die arabische Sprache von einem Manne wie Wallin für werlhvoll ballen muss, so habe ich das von ihm in erwähnter Weise Ausgelassene aus seinen Concepten in einer Nachlese zusammen-
Bd. XII. 39