Vorlesung 5
Polynomiale Gleichungen
De๏ฌnition 5.0.3. Ein polynomiale Funktion ๐(๐ฅ) in der Variablen ๐ฅ โ โ ist eine endliche Summe von Potenzen von ๐ฅ, die Exponenten sind hierbei natยจ urliche Zahlen.
Wir haben die Darstellung ๐(๐ฅ) =
โ
๐๐=0
๐
๐๐ฅ
๐= ๐
๐๐ฅ
๐+ ๐
๐โ1๐ฅ
๐โ1+ . . . + ๐
1๐ฅ + ๐
0mit ๐
๐โ โ , ๐ = 0, . . . , ๐.
In nicht ganz korrekter Sprechweise nennen wir eine polynomiale Funktion ๐ in ๐ฅ kurz ein Polynom in ๐ฅ. Den Unterschied zwischen einer polynomialen Funktion und eines Polynoms wird in der Vorlesung
โ Lineare Algebraโ erยจortert. Falls ๐
๐โ = 0, so ist ๐(๐ฅ) ein Polynom von Grad ๐. Der Koe๏ฌzient ๐
๐โ = 0 heiรt Leitkoe๏ฌzient und ๐
0heiรt Absolutglied. Wir bezeichnen ๐
1๐ฅ als lineares Glied, ๐
2๐ฅ
2als quadratisches Glied und ๐
3๐ฅ
3als kubisches Glied.
Falls die Koe๏ฌzienten ๐
๐, ๐ = 0, 1, . . . , ๐, und ๐
๐โ = 0, von ๐(๐ฅ) alle rational sind, so sagen wir, dass ๐(๐ฅ) ein ganzrationales Polynom von Grad ๐ ist.
5.1 Lineare Gleichungen
Fยจ ur ๐ = 1 haben wir ein lineares Polynom ๐(๐ฅ) = ๐๐ฅ + ๐, ๐ โ = 0.
Wir kยจonnen die Frage stellen, wann dieses Polynom verschwindet. Anders ausge- drยจ uckt: Fยจ ur welche Werte von ๐ฅ nimmt ๐(๐ฅ) den Wert 0 an? Alternativ gefragt:
Was sind die Nullstellen von ๐(๐ฅ)?
Hierzu setzen wir
๐(๐ฅ) = 0 โ ๐๐ฅ + ๐ = 0 โ ๐ฅ = โ ๐
๐ .
Somit hat ๐(๐ฅ) als einzige Nullstelle ๐ฅ = โ
๐๐.
5.2 Quadratische Gleichungen
Fยจ ur ๐ = 2 haben wir ein quadratisches Polynom ๐(๐ฅ) = ๐๐ฅ
2+ ๐๐ฅ + ๐ mit ๐ โ = 0. Auch hier kยจonnen wir nach Nullstellen von ๐(๐ฅ) fragen. Fยจ ur welche ๐ฅ gilt ๐๐ฅ
2+ ๐๐ฅ + ๐ = 0?
Zunยจachst kยจonnen wir durch ๐ โ = 0 dividieren, und erhalten ๐ฅ
2+
๐๐๐ฅ +
๐๐= 0.
Da wir stets durch den Leitkoe๏ฌzienten (dieser ist ungleich 0 vorausgesetzt) di- vidieren kยจonnen, kยจonnen wir uns auf Polynome mit Leitkoe๏ฌzient 1 beschrยจanken.
Es gilt nun
๐ฅ
2+ ๐๐ฅ + ๐ = 0 zu lยจosen (๐ =
๐๐, ๐ =
๐๐).
Dazu wenden wir quadratische Ergยจanzung an. Wir wollen ๐ฅ
2+๐๐ฅ +๐ uberfยจ ยจ uhren in die Form
๐ฅ
2+ ๐๐ฅ + ๐ = (๐ฅ + ๐ก)
2+ ๐.
Wir beachten, dass gilt (๐ฅ + ๐ก)
2= ๐ฅ
2+ 2๐ก๐ฅ + ๐ก
2. Ein Koe๏ฌzientenvergleich mit ๐ฅ
2+ ๐๐ฅ + ๐ liefert 2๐ก = ๐, d.h. ๐ก =
๐2und damit ๐ก
2= (
๐2
)
2. Somit gilt ๐ฅ
2+ ๐๐ฅ + ๐ = ๐ฅ
2+ ๐๐ฅ + ( ๐
2 )
2โ ( ๐ 2
)
2+ ๐ = ( ๐ฅ + ๐
2 )
2โ ( ๐ 2
)
2+ ๐.
Die quadratische Ergยจanzung von ๐ฅ
2+ ๐๐ฅ + ๐ ist also (
๐2
)
2, d.h. wir lesen den Koe๏ฌzienten des linearen Terms ab, halbieren und quadrieren anschliessend.
Wir addieren zur Gleichung ๐ฅ
2+ ๐๐ฅ + ๐ = 0 also auf beiden Seiten (
๐2
)
2โ ๐ hinzu,
๐ฅ
2+ ๐๐ฅ + ( ๐ 2
)
2= ( ๐ 2
)
2โ ๐.
Nun wenden wir auf der linken Seite die erste binomische Formel an, (
๐ฅ + ๐ 2
)
2= ( ๐ 2
)
2โ ๐.
Lยจosen wir nun nach ๐ฅ auf, so erhalten wir ๐ฅ = ยฑ
โ ( ๐ 2
)
2โ ๐ โ ๐ 2 .
Die quadratische Ergยจanzung fยจ uhrt also zur sogenannten ๐, ๐ โ Formel bzw. Mit- ternachtsformel.
Bemerkung. Vermeiden Sie nach Mยจoglichkeit die Benutzung der Mitternachts- formel, sondern benutzen Sie als Mittel der Wahl die quadratische Ergยจanzung.
Wir setzen ๐ท := (
๐2
)
2โ ๐ und nennen den Ausdruck die Diskriminante der quadratischen Gleichung ๐ฅ
2+ ๐๐ฅ + ๐ = 0.
O๏ฌenbar hat die quadratische Gleichung
โ genau zwei reellwertige Lยจosungen, wenn ๐ท > 0.
โ genau eine reellwertige Lยจosung, wenn ๐ท = 0.
โ keine reellwertige Lยจosung, wenn ๐ท < 0.
5.3 Polynomgleichungen hยจ oheren Grades
Bevor wir uns Polynomgleichungen hยจoheren Grades widmen, kยจonnen wir die Fra- ge stellen, wieviele Nullstellen ein Polynom ๐-ten Grades hat. Eine erschยจopfende Antwort gibt darauf der
Satz 5.3.1 (Fundamentalsatz der Algebra). Jedes Polynom ๐-ten Grades hat genau ๐ komplexwertige Nullstellen (mit Vielfachheiten gezยจahlt).
Dabei sind die komplexen Zahlen eine Erweiterung der reellen Zahlen. Aus dem Fundamentalsatz der Algebra folgt: Ein Polynom ๐-ten Grades hat maximal ๐ reellwertige Nullstellen (mit Vielfachheiten gezยจahlt).
De๏ฌnition 5.3.2. Eine Nullstelle ๐ eines Polynoms ๐(๐ฅ) von Grad ๐ hat die Vielfachheit ๐ (๐ โค ๐) falls sich ๐(๐ฅ) schreiben lยจasst als
๐(๐ฅ) = (๐ฅ โ ๐)
๐โ ๐(๐ฅ),
wobei ๐(๐ฅ) ein Polynom vom Grad ๐ โ ๐ ist mit ๐(๐) โ = 0.
Beispiel: Wir betrachten ๐(๐ฅ) = ๐ฅ
3= (๐ฅ โ 0)
3โ 1. Hier ist ๐(๐ฅ) = 1 ein Polynom vom Grad 0, und damit ๐ฅ = 0 eine Nullstelle von der Vielfachheit 3.
5.3.1 Au๏ฌยจ osbarkeit algebraischer Gleichungen durch Ra- dikale
Zur Lยจosung einer algebraischen Gleichung, wie sie ganzrationale Polynome de- ๏ฌnieren, benยจotigen wir die bekannten Operationen der Addition, Subtraktion, Multiplikation, Division und das Wurzelziehen. Es stellt sich die Frage, ob es stets mยจoglich ist, durch wiederholte Anwendung dieser Operationen, die Lยจosun- gen aus den Koe๏ฌzienten des Polynoms zu gewinnen. Das ist die berยจ uhmte Frage nach der Au๏ฌยจosbarkeit algebraischer Gleichungen durch Radikale.
Fยจ ur ๐ = 1 und ๐ = 2 haben wir gesehen, dass Lยจosungsformeln existieren und die Au๏ฌยจosbarkeit durch Radikale gegeben ist. Existieren Lยจosungsformeln fยจ ur Poly- nomgleichungen mit Grad ๐ โฅ 3?
Diese Frage konnte der franzยจosische Mathematiker Galois im 19. Jahrhundert vollstยจandig beantworten. Eine Schlussfolgerung der Galois-Theorie ist: Fยจ ur eine Polynomgleichung vom Grad ๐ โฅ 5 existieren im Allgemeinen keine Lยจosungs- formeln in Form von Radikalen.
Fยจ ur ๐ = 3 und ๐ = 4 existieren Lยจosungsformeln. Diese sind aber recht kompli- ziert, so dass wir nun alternative Ansยจatze fยจ ur bestimmte Gleichungen bespre- chen. Ausgangspunkt ist das Lemma von Gauร.
5.3.2 Lemma von Gauร
Satz 5.3.3 (Lemma von Gauร). Vorgelegt sei die Polynomgleichung
๐ ๐ฅ
๐+ ๐ ๐ฅ
๐โ1+ . . . + ๐ = 0
mit ๐
๐โ โค, ๐ = 0, . . . , ๐. Ferner gelte ๐
๐โ = 0 und ๐
0โ = 0.
Falls ๐ฅ =
๐๐mit ๐, ๐ โ โค und (๐, ๐) = 1 eine rationale Lยจosung der Polynomglei- chung ist, so gilt:
(i) ๐ ist ein Teiler des Absolutglieds ๐
0. (ii) ๐ ist ein Teiler des Leitkoe๏ฌzienten ๐
๐. Beispiel zur Anwendung: Wir betrachten die Gleichung
๐ฅ
3+ 15๐ฅ
2+ 23๐ฅ โ 231 = 0.
Wir setzen ๐(๐ฅ) := ๐ฅ
3+ 15๐ฅ
2+ 23๐ฅ โ 231. Der Leitkoe๏ฌzient von ๐(๐ฅ) ist 1, das Absolutglied ist โ 231. Nach dem Lemma von Gauร kยจonnen als ganzzahlige Nullstellen von ๐(๐ฅ) nur die Teiler von 231 in Frage kommen. Die Primfaktor- zerlegung von 231 ist 231 = 3 โ 7 โ 11. Somit sind die Teiler von 231 gerade die in ๐
231= { 1, 3, 7, 11, 21, 33, 77, 231 } enthaltenen Elemente. Wir raten, dass ๐ฅ = 3 eine Nullstelle ist und ๏ฌnden ๐(3) = 3
3+ 15 โ 3
2+ 23 โ 3 โ 231 = 0, dass ๐ฅ = 3 tatsยจachlich eine Nullstelle ist. Damit lยจasst sich ๐(๐ฅ) schreiben als ๐(๐ฅ) = (๐ฅ โ 3)๐(๐ฅ), wobei ๐(๐ฅ) ein Polynom von Grad 2 ist. Die Nullstellen von ๐(๐ฅ) sind auch Nullstellen von ๐(๐ฅ).
Da ๐(๐ฅ) der Quotient von ๐(๐ฅ) und (๐ฅ โ 3) ist, kยจonnen wir ๐(๐ฅ) wie folgt durch Polynomdivision bestimmen:
๐(๐ฅ) = ๐(๐ฅ) : (๐ฅ โ 3) = (๐ฅ
3+ 15๐ฅ
2+ 23๐ฅ โ 231) : (๐ฅ โ 3) = ๐ฅ
2+ 18๐ฅ + 77.
Fยจ ur ๐(๐ฅ), als Polynom von Grad 2, wissen wir, wie wir die Nullstellen bestimmen.
Die Strategie zur Lยจosung von Polynomgleichungen mit ganzzahligen Koe๏ฌzien- ten ist zum Beispiel so vorzugehen:
โ Mit dem Lemma von Gauร bestimmen wir mยจogliche rationale Lยจosungen.
โ Liegen tatsยจachlich rationale Lยจosungen vor, so kยจonnen wir Polynomdivision durchfยจ uhren und reduzieren so den Grad des Polynoms. Wir fยจ uhren die- sen Vorgang solange fort, bis wir einen Grad erreicht haben, von dem wir wissen, wie wir die Nullstellen analytisch bestimmen kยจonnen.
Wir beweisen nun das Lemma von Gauร.
Beweis. Sei ๐ฅ =
๐๐mit ๐, ๐ โ โค und (๐, ๐) = 1 eine rationale Lยจosung der Polynomgleichung, also
๐
๐( ๐ ๐
)
๐+ ๐
๐โ1( ๐ ๐
)
๐โ1+ . . . + ๐
1( ๐ ๐
)
+ ๐
0= 0.
Dann ist ๐
๐( ๐ ๐
)
๐+ ๐
๐โ1( ๐ ๐
)
๐โ1+ . . . + ๐
1( ๐ ๐
)
= โ ๐
0.
Multiplizieren mit ๐
๐liefert
๐
๐๐
๐+ ๐
๐โ1๐
๐โ1๐ + . . . + ๐
1๐๐
๐โ1= โ ๐
0๐
๐. Ausklammern von ๐ auf der linken Seite ergibt
๐(๐
๐๐
๐โ1+ ๐
๐โ1๐
๐โ2๐ + . . . + ๐
1๐
๐โ1| {z }
โโค
) = โ ๐
0๐
๐.
Daraus folgt: ๐ ist ein Teiler von ๐
0๐
๐. Da ๐ und ๐ teilerfremd sind, sind auch ๐ und ๐
๐teilerfremd. Mithin muss ๐ ein Teiler von ๐
0sein.
Analog kยจonnen wir die Polynomgleichung wie folgt umstellen:
๐(๐
๐โ1๐
๐โ1+ ๐
๐โ2๐
๐โ2๐ + . . . + ๐
0๐
๐โ1| {z }
โโค