P O L I T I K
Deutsches Ärzteblatt⏐⏐Jg. 102⏐⏐Heft 51–52⏐⏐26. Dezember 2005 AA3565
KOMMENTAR
D
er Streit um Kosten und Nutzen der elektronischen Gesund- heitskarte (eGK) für die Lei- stungserbringer, die Körperschaften, die Politik, die Krankenkassen und nicht zuletzt für die Patienten wird sehr emotional und teilweise unsach- lich geführt.Die eGK ist nicht der Problemlöser für alle derzeitigen Defizite im Ge- sundheitswesen, und sie ist auch nicht die Voraussetzung für die Einführung des elektronischen Rezeptes (eRe- zept), der elektronischen Patientenak- te und anderer geplanter Anwendun- gen. Diese Innovationen bedürfen nur eines hoch sicheren Gesundheitsnet- zes, dessen Architektur in
den Rahmenbedingungen genügend detailliert vorge- geben ist. Diese für alle wichtigen Entwicklungen werden durch die verspäte- te Einführung der eGK so- gar verzögert.
Schuld daran sind die übertriebenen, politisch überfrachteten und forcier- ten Bestrebungen nach
Stärkung der Patientenautonomie.
Der mündige Patient soll Herr und Hüter seiner Gesundheitsakte wer- den. Diese Ziele sind richtig, aber zurzeit gar nicht realisierbar. Es mag schon heute für den gebildeten Pati- enten mit Diabetes Typ 2 zutreffen, seine Akte führen zu können. Für die meisten Bürger ist jedoch die Hoheit über die eigenen Gesundheitsdaten, die sie nach dem Gesetz haben, de fac- to weder machbar noch wünschens- wert. Dieser Aspekt sollte nicht die Diskussion beherrschen.
Weitere Wünsche oder Vorgaben der Politik sind Kostenreduktion, bes- sere Gesundheitsleistungen, schnelle- re und sichere Diagnosen und Therapi- en bei einer flächendeckenden Verfüg- barkeit der Gesundheitskarte. Diese Ziele sind schon heute über ein Ge- sundheitsnetz allein erreichbar. Wenn die Einführung des Netzes und die der Karte entkoppelt werden, ergeben sich
für sämtliche Beteiligten nur Vorteile.
In Ruhe und mit Sorgfalt können neue Leistungen und Dienste getestet und angeboten werden. Die Industrie und die Krankenkassen erhalten die not- wendige Zeit, um technische und orga- nisatorische Probleme zu lösen.
Damit ergeben sich folgende An- forderungen an die eGK und das Ge- sundheitsnetz:
> Sie müssen die jetzigen Arbeits- abläufe beim Arzt genau abbilden und unterstützen und auch dessen künftige Tätigkeiten erleichtern. So muss das eRezept beispielsweise ge- nauso einfach zu erstellen sein wie das gedruckte Rezept.
> Die Technik muss ergonomisch bedienbar und in die Praxis- und Krankenhaussoftware integrierbar sein.
> Sie muss auch von den medizi- nisch-technischen Angestellten ak- zeptiert werden.
> Schon heute müssen sich In- vestitionen in die Telekommunikation rechnen und von den Krankenkassen honoriert werden. Dem Arzt müssen die Vorteile des Gesundheitsnetzes durch Kostenersparnis direkt sicht- bar werden. Er muss am eRezept ver- dienen, zum Mindesten keine Mehr- kosten haben.
> Der Datenschutz und die Daten- hoheit müssen für ihn transparent sein.
> Ärzte,Apotheken, Laboratorien, Krankenhäuser und andere Teilneh- mer des Netzes müssen wählen kön- nen zwischen eigener Serverhaltung oder zentralisiertem Diensteangebot.
> Zentrale Datensicherung (Back- up) und Archivierung müssen als neue
Dienste den Leistungserbringern die Erfüllung gesetzlicher Vorgaben ab- nehmen.
Sind diese Leistungen Bestandteil der Praxisrealität, werden die weiter- führenden Ziele automatisch erreicht werden. Der „Pull“-Gedanke not- wendiger Erleichterungen muss die Technik stärker bestimmen als der
„Push“ innovativer, aber unrealisti- scher, praxisferner und letztlich nicht akzeptierter Funktionen.
Viele Ärzte sträuben sich gegen die geplanten Neuerungen. Das ist bedauerlich, denn eigentlich hätten alle etwas von dem Gesundheitsnetz und der Karte. Es ist deshalb höch- ste Zeit, dass die Zusam- menarbeit der Gruppen verbessert wird. Dabei kann man von Nachbar- ländern lernen, wie der Input zeitnah in die Kon- zeption neuer Dienste ein- fließen kann.
Empfehlenswert ist ei- ne wesentlich stärkere Mitarbeit praxiserfahre- ner Ärzte und anderer Leistungserbringer bei den Arbeiten zur Spezifikation der Karte und des Netzes, bei den Verhandlungen zu den Vergütungsstrukturen sowie in den Pilotprojekten. Die Streitschlichtungs- teams müssen mehr Kompetenzen er- halten, damit sie im Vorfeld unter- schiedliche Auffassungen klären kön- nen, ehe diese zu projektgefährden- den Konflikten eskalieren. Es ist dafür zu sorgen, dass in den Gremien Patienten und Ärzte stärkere Rechte als Industrie, Selbstverwaltung und Politik erhalten.
Ein Franzose sagte einmal: „Im Grunde eines jeden Problems steckt immer ein Deutscher.“ Die Einfüh- rung der eGK wurde zu stark ideolo- gisiert und mit zu hohen Erwartungen belastet. Noch ist es nicht zu spät für Korrekturen, die den Nutzen sicher- stellen und für die Ärzte und Patien- ten wirkliche Fortschritte ermögli- chen. Prof. Dr. rer. nat. Martin Lindner