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Archiv "Interview mit Prof. Dr. rer. biol. hum. Elmar Brähler, Leiter der Medizinischen Psychologie an der Universität Leipzig: Von Einheitslust und Einheitsfrust" (04.12.2009)

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Academic year: 2022

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A 2460 Deutsches Ärzteblatt

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4. Dezember 2009 Besonderer Hang

zum Osten:

Bereits vor der Wende besuchte der gebürtige Hesse Brähler (63) die Universität Leipzig.

Wir begehen nächstes Jahr den 20.

Jahrestag der Deutschen Einheit. Herr Professor Brähler, Sie haben beinahe 20 Jahre auf diesem Gebiet geforscht.

Hat denn die deutsch-deutsche Inte- gration funktioniert?

Brähler: Sie hat natürlich in vielen Bereichen funktioniert. Wenn Sie heute auf die Straße gehen, werden Sie an der Kleidung oder im Stra- ßenverkehr keinen Unterschied zwischen Ost und West mehr fest- stellen können. Das ist vorbei. Aber es gibt noch sehr viele Bereiche, bei denen Unterschiede spürbar sind.

Welche sind das?

Brähler: Wenn Sie sich den Armuts- bericht der Bundesregierung anse- hen, können Sie die Gestalt der alten DDR erkennen. Auch die Zahl der Arbeitslosen ist in Ostdeutschland wesentlich höher, und es gibt noch viele wirtschaftliche Faktoren, die sich noch nicht angeglichen haben.

Die Rolle der Frau ist ebenfalls ein Punkt, der Ost und West noch immer deutlich spaltet. Dass die Frau län- gerfristig zu Hause bleiben und die Kinder versorgen soll, lehnen die Ostdeutschen eindeutig ab. Und

nicht zuletzt ist die Nichtreligiosität im Osten nach wie vor weitverbrei- tet: 80 Prozent der Menschen gehö- ren keiner Kirche an – das wird wohl der nachhaltigste Unterschied sein.

Macht sich die Nichtreligiosität im Os- ten auch in unterschiedlichen Einstel- lungen zu medizinethischen Fragen in- nerhalb der Ärzteschaft bemerkbar?

Brähler: Nein, da sehe ich keine Un- terschiede. Es mag sein, dass der Ab- bruch ungewollter Schwangerschaf- ten von ostdeutschen Ärztinnen und Ärzten liberaler gesehen wird, aber

INTERVIEW

mit Prof. Dr. rer. biol. hum. Elmar Brähler, Leiter der Medizinischen Psychologie an der Universität Leipzig

Von Einheitslust und Einheitsfrust

Für das vollständige Zusammenwachsen von Deutschland veranschlagen die Deutschen durchschnittlich 20 weitere Jahre. Professor Brähler, Prodekan der Universität Leipzig, analysiert, warum.

Fotos: Anja Jungnickel

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4. Dezember 2009 A 2461 deshalb handeln sie nicht unethischer.

Nichtreligiosität ist nicht mit einem Defizit an Ethik gleichzusetzen.

Ihren jüngsten Untersuchungen zufolge ist die Lebenszufriedenheit der Ost- deutschen im Vergleich zu den West- deutschen auch nach den 20 Jahren noch etwas reduziert . . .

Brähler: Ja, sie ist reduziert im Freizeitbereich, beim Einkommen, im Beruf und beim Gesundheitszu- stand. Da sind die Ostdeutschen überall unzufriedener. Obwohl sich ihre Lebenserwartung deutlich er- höht hat: Sie liegt in Sachsen schon über dem Bundesdurchschnitt. Ver- blüffend waren für mich übrigens die hohe Zufriedenheit und das Ver- trauen ins Gesundheitswesen, das im Osten existiert.

Jetzt? Oder zu DDR-Zeiten?

Brähler: Nein, jetzt. Obwohl die Ostdeutschen in anderen Bereichen, wie Justiz oder Bundestag unzufrie- dener sind, ist ihr Vertrauen ins Ge- sundheitssystem höher als bei den Westdeutschen.

Wie ist das zu erklären?

Brähler: Genau lässt sich das nicht sagen. Aber möglicherweise spielt da der in der DDR sehr aus- geprägte Stolz auf die Wissen- schaft eine Rolle. Die Medizin und die Wissenschaft waren zwar kein Kirchenersatz, doch der Glaube an wissenschaftliche Erkenntnisse und der Stolz auf wissenschaftli- che Errungenschaften waren in der DDR-Bevölkerung besonders weit- verbreitet.

Existiert in Ost und West demzufolge auch ein anderes Arzt-Patienten-Ver- hältnis?

Brähler: Ostdeutsche Patienten ha- ben in der Tat noch mehr Vertrauen zu ihrem Arzt. Westdeutsche sind dagegen antiautoritärer und stellen häufiger auch Aussagen des Arztes infrage.

Wie sieht es mit den zwischenmensch- lichen Beziehungen zwischen Ost und West aus? Vor zehn Jahren haben Sie einen „Prozess des Auseinanderdrif- tens“ der Ost- und Westdeutschen be- schrieben. Ist dieser Prozess noch im Gange?

Brähler: Vor ungefähr zehn Jahren, so Ende der 90er-Jahre, gab es mas- sive Zuschreibungen allen Übels auf den jeweils anderen. Die Ost- deutschen haben die Westdeutschen nicht besonders positiv beschrie- ben. Das hat sich jedoch eingeeb- net.

Sind sich die „Ossis“ und die „Wessis“

jetzt sympathisch?

Brähler: So weit würde ich nicht gehen. Aber es ist unaufgeregter ge- worden.

Was halten denn die Ost- und West- deutschen jetzt gegenseitig voneinan- der?

Brähler: Die Westdeutschen hiel- ten die Ostdeutschen ja für nicht so arbeitsfähig. Sie haben sie mit der wirtschaftlichen Krise der DDR persönlich in Verbindung gebracht, als hätten sie zu wenig gearbeitet oder was auch immer. Und die Ost- deutschen haben die Westdeutschen eher als Angeber erlebt, die sich besser darstellen, als sie in Wirk- lichkeit sind, obwohl sie eigentlich auch nur mit Wasser kochen.

Fühlen sich denn die Ostdeutschen inzwischen in Gesamtdeutschland zu Hause?

Brähler: Sie fühlen sich immer noch als Ostdeutsche. Aber diejeni- gen, die vom Osten in den Westen gegangen sind, würden auch nicht mehr zurückkehren. Sie sind ja hauptsächlich wegen des Arbeits- platzes in den Westen – oder besser gesagt – in den Süden gegangen, nämlich hauptsächlich nach Baden- Württemberg und Bayern. Damit waren sie in einer anderen Situation als die Westdeutschen, die in den Osten gegangen sind.

Wie geht es denen?

Brähler: Die sind ja meistens in Führungspositionen eingerückt. Da ist die Luft ein bisschen dünner. Es ist für sie schwerer, Kontakte zu finden. Es ist auch für die Ostdeut- schen nach der Wende schmerzlich gewesen, dass so viele Führungs- kräfte aus dem Westen kamen. Man muss sich mal vorstellen, wie das umgekehrt bei den Westdeutschen gewirkt hätte . . .

Künftig werden zunehmend spezifische regionale

Unterschiede die noch bestehenden Differenzen zwischen Ost und West überdecken.

Elmar Brähler

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4. Dezember 2009

Gedämpfte Freude im Osten Sowohl die Ostdeutschen als auch die West- deutschen freuen sich zumeist aufrichtig über die deutsche Einheit. Doch ein vollständiges Zu- sammenwachsen sehen viele in naher Zukunft nicht. Dies belegt die jüngste Repräsentativer- hebung der Selbstständigen Abteilung für Medi- zinische Psychologie und Medizinische Soziolo- gie der Universität Leipzig unter Leitung von Prof. Dr. Elmar Brähler. Fast alle der durch das Meinungsforschungsinstitut USUMA im Auftrag der Universität Leipzig im Sommer dieses Jah- res befragten 2 512 Ost- und Westdeutschen im Alter von 14 bis 94 Jahren leben gern oder sogar sehr gern in der nunmehr vereinigten Bundesrepublik. „Die Mehrheit der Befragten ist zudem der Meinung, dass der 20. Jahrestag der Deutschen Einheit am 3. Oktober 2010 ein Grund zum Feiern ist“, erklärt Dr. Yve Stöbel- Richter, Universität Leipzig. „Betrachtet man Ost und West jedoch voneinander getrennt, so zeigt sich im Osten eine größere Unzufriedenheit mit dem politischen System und der darin gelebten Demokratie als im Westen“, erläutert die Psy- chologin. So seien im Osten 65 Prozent sehr oder eher unzufrieden mit diesen Aspekten ge- genüber 35 Prozent im Westen.

Auffällig ist für das Team um Brähler, das die Repräsentativerhebung seit 16 Jahren jährlich vornimmt, dass die Prognosen zum vollständi- gen Zusammenwachsen Deutschlands mit den Jahren eher pessimistischer werden. „Durch- schnittlich 20 weitere Jahre veranschlagen die

Deutschen derzeit dafür“, berichtet Stöbel-Rich- ter. Dabei gebe es vor allem im Westen einen großen Teil der Befragten (40 Prozent), für die das Zusammenwachsen der Deutschen zu einer Gemeinschaft bereits vollzogen sei. Im Osten sähen das nur 18 Prozent der Befragten so.

33 Prozent der Teilnehmer in den neuen und 27 Prozent in den alten Bundesländern hätten dieses Jahr aber auch angeben, dass es eine innere Einheit nie geben werde, erläutert Stöbel- Richter weiter. Der Befragung zufolge fühlen sich beispielsweise 60 Prozent der Ostdeut- schen von den Westdeutschen immer noch als Deutsche zweiter Klasse behandelt.

Offen zutage treten bei der diesjährigen Befragung auch die Auswirkungen der Wirtschaftskrise: So sind 63 Prozent aller Befragten mit der jetzigen Wirtschafts - ordnung weniger oder gar nicht zufrieden.

Kritik ernten auch die Sozial-, die Bildungs- und die Familienpolitik, die Gesundheits-, die Lohn- und die Rentenpolitik.

Interessant ist dabei, das die Ostdeut- schen mit vielen Politikbereichen noch deutlich unzufriedener sind als die Men- schen in den alten Bundesländern. Bei der Gesundheitspolitik sind die Differenzen

dagegen eher gering. ER

REPRÄSENTATIVERHEBUNG 2009

GRAFIK

Grafik: Brähler, Universität Leipzig

Zufriedenheit mit der Gesundheitspolitik Gibt es noch Unterschiede zwischen

den jungen Leuten? Beispielsweise durch eine unterschiedliche Kindheit?

Brähler: Nein. Wir haben in unserer Sächsischen Längsschnittstudie kei- ne Auswirkungen der unterschiedli- chen Kindheiten gefunden, zum Bei- spiel Krippenbesuch versus aus- schließlich mütterliche Betreuung.

Herr Professor Brähler, wann, glauben Sie, ist die deutsche Einheit vollzogen?

Brähler: Darf ich zurückfragen?

Wann ist die Einheit mit Bayern vollzogen? Es gibt regionale Unter- schiede in Deutschland, und die Frage ist eher die, ob die Menschen in Mecklenburg-Vorpommern ihre norddeutsche Identität finden. Mo- mentan haben wir noch die Situati- on, dass Sachsen und „Preußen“ so

eine merkwürdige ostdeutsche Identität haben. Aber das könnte sich ändern.

Taugt denn die Trennlinie zwischen Ost und West noch? Kann man künftig überhaupt noch weitere Ost-West- Untersuchungen machen?

Brähler: Man muss wohl regional untersuchen. In den östlichen Bun- desländern wird ein großer Bevölke- rungsrückgang prognostiziert. Es sind viele junge, vor allem gut quali- fizierte Frauen in die alten Bundes- länder migriert. Einige Regionen wird es in den nächsten Jahren heftig treffen. Deswegen muss regionen- spezifisch untersucht werden.

Wir können also bald die Ost-West- Trennung vergessen?

Brähler: Tja, wer sie vergessen kann. Ich hatte auch gedacht, das hätte irgendwann mal ein Ende. Das Thema taucht aber immer wieder auf. Wir haben immer noch eine an- dere Parteienlandschaft. Der Osten hatte gegenüber dem Westen nach dem Zweiten Weltkrieg auch einen höheren Flüchtlingsanteil. Mecklen- burg-Vorpommern hatte als das mi- grationsreichste Land in Deutsch- land mehr als 50 Prozent Flüchtlinge im Land. Das hat zu vielen Verwer- fungen geführt, über die aber nicht geredet werden durfte. Es gibt also viele Dinge, die ebenfalls eine Rolle bei politischen Einstellungen spie- len. Es geht nicht alles nur auf die DDR zurück, sondern liegt tiefer. ■

Das Gespräch führte:

Dr. med. Eva Richter-Kuhlmann

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