A 1734 Deutsches Ärzteblatt
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Jg. 110|
Heft 38|
20. September 2013„Die Partei hat uns machen lassen“
Der frühere Leiter der Psychiatrischen Universitätsklinik in Leipzig zur Öffnung der Kliniken, fürsorglichen Betreuung der Patienten und zur zentralen Rolle der großen Anstalten
War die DDR-Psychiatrie 1963 mit den Rodewischer Thesen ihrer Zeit voraus?
Prof. Dr. med. Klaus Weise: Die Thesen kamen zwar relativ früh, und für die DDR waren sie sensa- tionell. Doch sie lagen im Trend der Zeit. Mich haben zum Beispiel Karl Peter Kisker und das Hannoveraner sozialpsychiatrische Modell sehr beeindruckt. Allgemein war Groß- britannien das Vorbild: Öffnung der Kliniken, Verkleinerung der Anstal- ten, aktivierendes therapeutisches Programm.
Was sagte denn die Staatsmacht zu solchen Ideen?
Weise: Wenig. Konflikte gab es eher mit der Charité, die hatte ein anderes therapeutisches Konzept.
Mit Partei und Staat bedurfte es zwar einiger Gespräche. Doch die Psychiatrie stand nicht im Mittel- punkt ihrer Aufmerksamkeit, und man hat uns machen lassen. Auch über Vorwürfe der westlichen Ori- entierung konnte man hinweggehen.
Gab es nicht auch eine östliche Orien- tierung?
Weise: Das gehörte dazu. Die So - wjetunion konnte insofern Vorbild sein, als sie das System der großen Anstalten nicht kannte, sondern seit den 20er Jahren auf Tageskliniken setzte. Das war auch eine Folge der riesigen Ausdehnung des Landes.
Wie stand es um die Auflösung der gro- ßen Anstalten zugunsten von ambulan- ten Strukturen in der DDR?
Weise: Die zentrale Rolle der gro- ßen Krankenhäuser ist in der DDR nie infrage gestellt worden. Auch nicht durch die Rodewischer The-
sen. Diese sind vielmehr der End- punkt in der Entwicklung des an- staltzentrierten Betreuungssystems.
Die Thesen enthalten zwar alle Ele- mente der Sozialpsychiatrie ein- schließlich der besonderen Förde- rung des ambulanten Sektors, sind aber konsequent auf die Anstalt be- zogen. Die Thesen wurden in der Zeit eines Tiefstandes der Versor- gung formuliert. Es war gar nicht zu erwarten, dass die Anstalten als einzig verbliebene psychiatrische Institutionen infrage gestellt wür- den. Erst die Brandenburger Thesen setzten sich 1975 mit der Institution Anstalt auch inhaltlich auseinander.
Und proklamierten die „therapeutische Gemeinschaft“ . . .
Weise: Ja, vor allem sprachen sie sich für die fürsorgliche Betreuung durch das Personal aus. Die thera-
peutische Gemeinschaft hat es im Sinne einer Partnerschaft auf Au- genhöhe nie gegeben. Aber die Be- ziehung von Klinik und Patient kam in den Blick. Das hatte ganz prakti- sche Auswirkungen wie Gruppenar- beit, Patientenfürsprecher und eine gewisse Öffnung der Krankenhäu- ser. Unsere Leipziger Klinik haben wir Mitte der 70er Jahre geöffnet.
Für alle?
Weise: Ja, bis auf einen kleinen Teil der an chronischen Psychosen Er- krankten, die aus der Zeit vor der Sektorisierung in psychiatrischen Krankenhäusern waren. Gewöhn- lich aber gingen die Patienten für eine kurze stationäre Episode in die Klinik und dann gleich in die Am- bulanz oder Tagesklinik. Damit aber kein Missverständnis auf- kommt: Für Patienten im Maßregel- vollzug kann ein Haus natürlich nicht derart geöffnet werden.
Die Thesen sprachen sich auch für eine Kooperation der Universitätskliniken mit den Anstalten aus.
Weise: Dazu kam es nicht. Die Universitätskliniken haben sich um Rodewisch kaum gekümmert. Die haben ihre Forschung gemacht.
Aber Sie waren doch selbst Leiter einer Universitätsklinik.
Weise: Leipzig war eine Ausnah- me. Hier kooperierte die Universi- tätsklinik mit der Anstalt Dösen.
Beide haben die Betreuung eines Teils von Leipzig übernommen, stationär und auch ambulant. Die ambulanten Strukturen halten sich übrigens bis heute.
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Das Interview führte Norbert Jachertz.
INTERVIEW
mit Prof. Dr. med. Klaus Weise, Psychiater in Leipzig
Prof. Dr. med. Klaus Weise, Jahrgang 1929. Von 1973 bis 1995 Direktor der Psychiatrischen Klinik und Poliklinik der Universität Leipzig
Foto: Universität Leipzig