Zur Fortbildung Aktuelle Medizin
KONGRESS-NACHRICHTEN
Schleichende Kaudalähmung
Akute Kaudalähmung ist kein dia- gnostisches Problem. Desto schwieriger ist die Einordnung der Beschwerden bei schleichend be- ginnender Kaudalähmung, die an- fangs durchaus „ischiasähnlich"
aussieht. In den Rücken und in bei- de Oberschenkel ausstrahlende, allnächtlich exazerbierende Schmerzen sind ernsthaft verdäch- tig auf Kaudalähmung, die in der Regel auf das Wachstum von Tu- moren zurückgeht. Bei beginnender Kaudalähmung unverzüglich opera- tiv dekomprimieren. — Symptoma- tik (Professor Dr. A. Seeberg, Neurologische Abteilung Agnes- Karll-Krankenhaus, Hannover-Laat- zen): Ischias, soweit nicht klinisch eindeutig (Kribbelparästhesien, Taubheitsgefühl, reflektorische Ischias-Skoliose). Doppelseitiges Auftreten beziehungsweise Seiten- wechsel und Blasenstörungen be- achten. Schon bei der Entwicklung zur Kaudalähmung zum Neurochir- urgen überweisen. — Kaudaläh- mung: Sensible Störung (Reitho- senphänomen), Blasen- und Mast- darmstörung, keine Analreflexe mehr, schlaffe Lähmungen, Arefle- xien.
(10. Fortbildungs-Symposium der Medizini- schen Hochschule Hannover, Februar 1976)
Chemotherapie bei soliden Tumoren
Nach wie vor gibt es nur eine einzi- ge Heilungsgarantie beim Krebs:
echte Frühdiagnostik und Frühthe- rapie bei beginnenden Maligno- men, die noch kein invasives Wachstum zeigen. — Abgesehen davon ist aber auch die Behand- lung späterer Stadien effektiver ge- worden, seitdem man die zytostati- sche Chemotherapie nach prolife- rationskinetischen Gesichtspunk- ten frühzeitig einsetzt. Damit ist die Chemotherapie solider Malignome vom letzten Rang zum wertvollen Adjuvans der Primärtherapie auf- gerückt (Professor Dr. C. G.
Schmidt, Tumorklinik Universitäts-
klinikum Essen). Dazu die wich- tigsten proliferationskinetischen Aspekte in Stichworten:
O Maligne Tumorkrankheiten be- ginnen als loko-regionaler Prozeß und enden regelmäßig in dissemi- nierter Form.
O Operation beziehungsweise Hochvoltbestrahlung beseitigen den Primärtumor, erreichen aber auch bei weitestgehender Radikali- tät die disseminierten Tumorzellne- ster im Organismus nicht.
O Allein richtig zusammengesetz- te Polychemotherapie kann es mit der Dissemination aufnehmen, so- weit es sich überhaupt um zytosta- tisch sensible Zellsysteme handelt.
• Schon in frühen Tumorstadien werden bereits disseminierte Tu- morzellnester gesetzt, aus denen sich die Metastasen entwickeln und die die besondere Malignität der Erkrankung signalisieren.
Aus diesem Grunde postopera- tive adjuvante Chemotherapie stets erwägen und gegebenenfalls lang- fristig durchführen (vor allem auf Grund der berichteten Erfolge bei embryonalen Tumoren, Ewing- und Osteosarkom, Weichteilsarkomen, Hodentumoren und Mammakarzi- nom).
O Größere Tumormassen auch dann palliativ entfernen, wenn es für einen „kurativen Eingriff" schon zu spät ist: denn Chemotherapie ist desto wirksamer, je kleiner die einzelnen Tumoren (beziehungs- weise Metastasen) sind.
O Chemotherapie über klinische (Voll-)Remission hinaus fortsetzen:
denn dann existieren die Tumor- zellnester noch lange; sie sind kli- nisch bloß nicht erkennbar.
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Rezidive entstehen aus Resten von Tumorzellnestern, die bei vor- zeitiger Beendigung der Chemo- therapie stehenbleiben bezie- hungsweise von der körpereigenen Abwehr nicht bewältigt werden;diese Zellen sind ohne weiteres in der Lage, erneut zu proliferieren.
(Deutscher Krebskongreß, Februar 1976, Hamburg)
Großes und kleines Cor pulmonale
Das sogenannte Cor pulmonale muß nicht immer groß sein. Den klassischen „Brocken" sieht man nur bei Kompensation der chro- nisch-obstruktiven Bronchitis mit hohen intrathorakalen Drücken und intrapulmonalen Shunts. Das Em- physem mit progredienter Rarefi- zierung von Atemoberfläche und Kapillaren, aber normalem Druck in Ruhe, führt dagegen zum „klei- nen Cor pulmonale" (Professor Dr.
F. Mlczoch, Wilhelminenspital, Wien). Therapiechancen bei „gro- ßem Cor pulmonale" sind nur scheinbar besser, weil die Be- schwerden schon im Kompensa- tionsstadium auftreten. Beim Em- physem kommt es bei kardialer De- kompensation zu stärkeren Be- schwerden. Wegen geringer Beein- flußbarkeit der Grundkrankheit spricht das dekompensierte kleine Cor pulmonale ohnehin kaum auf Therapieversuche an.
(Internationaler Kongreß „Cor pulmonale chronicum", März 1976, München)
Pendelhoden: Grenzfall für die Therapie
Eingedenk der Tatsache, daß jede operative Manipulation an Hoden vor der Pubertät schaden kann, wird der sogenannte Pendelhoden im allgemeinen nicht chirurgisch fi- xiert (Orchidopexie). Der auslösen- de Mechanismus dürfte in einem übersteigerten Kremasterreflex zu suchen sein. Diese Hoden sind ja normal deszendiert, bleiben aber nicht immer im Skrotum. Bislang gelten sie eher als Schönheitsfeh- ler. Nach den Erfahrungen der Andrologen gehört jedoch dieser
„Pseudokryptorchismus" zu den wichtigsten Ursachen späterer, therapieresistenter Infertilität bei Männern. (Professor Dr. W. Niko- lowski, Dermatologische Klinik der Städtischen Krankenanstalten, Westkrankenhaus, Augsburg). WP
(Kolloquium „Maldescensus testis", Febru- ar 1976, Tübingen)
1094 Heft 16 vom 15. April 1976 DEUTSCHES ÄRZTEBLATT