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Archiv "Zehn Jahre nach der Entdeckung von AIDS: Der Bluter-Skandal: Eine Kette von folgenschweren Fehlentscheidungen im BGA" (22.10.1993)

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LITI KURZBERICHT

Zehn Jahre nach der Entdeckung von AIDS: Der Bluter-Skandal

Eine Kette von folgenschweren Fehlentscheidungen im BGA

Das Bundesgesundheitsamt steht vor dem Aus. Nach der Vertu- schungsaffäre um HIV-verseuchte Blutprodukte will Bundesgesund- heitsminister Horst Seehofer dem Bundestag die Auflösung der Ber- liner Großbehörde empfehlen. An ihre Stelle sollen sechs eigen-

ständige Institute treten. Seehofer geht damit über die bisherigen personellen Konsequenzen aus der Serie von Versäumnissen des BGA in Sachen AIDS weit hinaus. Die Kette der Fehlentscheidungen reicht bis in die frühen achtziger Jahre zurück.

V

on der vielzitierten Coolheit des CSU-Gesundheitsmanagers war nichts zu spüren gewesen: Als Horst Seehofer vor die Bonner Bun- despressekonferenz trat, da wirkte der Senkrechtstarter im Kabinett Kohl wie das Gegenteil seiner selbst: blaß, die Stirn mit dicken Schweißperlen be- deckt, die Stimme leicht bebend. Was er zu verkünden hatte, war indes auch kaum dazu angetan, Gelassenheit zu demonstrieren. Denn was Leser ein- schlägiger Nachrichtenmagazine schon vermuteten, wurde nun zur offi- ziellen Gewißheit: Das BGA hat in den vergangenen neun Jahren Mel- dungen über den Verdacht von HIV- Infektionen durch Blutplasmapro- dukte verschwiegen.

Seehofer, der die Einzelheiten der Affäre nach eigenem Bekunden erst aus der Presse erfahren hatte, reagierte schnell — und hart. BGA- Präsident Dieter Großklaus und der zuständige Abteilungsleiter im Bun- desgesundheitsministerium, Ministe- rialdirektor Manfred Steinbach, mußten ihren Hut nehmen. Die Ein- schränkung des Ministers, beide träfe keine persönliche Schuld, machte das eigentliche Problem jedoch erst recht deutlich. Das noch zu Kaisers Zeiten gegründete Gesundheitsamt geriet in den vergangenen Jahren offenbar zu- nehmend in die Hände einer Cli- quenwirtschaft, die die Behörde nach eigenem Gutdünken führte und es mit der Rechenschaftspflicht gegen- über dem eigenen Präsidenten und dem Ministerium nicht sonderlich ge- nau nahm. Erst jetzt zog Bonn die Notbremse.

Manfred Steinbach geriet dieser Tage nicht zum erstenmal in die Schlagzeilen. Bereits Mitte der acht-

ziger Jahre stand der ehemalige Pro- fessor für Sportmedizin und Facharzt für Neurologie und Psychiatrie im Kreuzfeuer der öffentlichen Kritik.

Die Vorwürfe deckten sich in etwa mit denen, die dem früheren Welt- klasse-Leichtathleten heute zur Last gelegt werden. Steinbach, so seiner- zeit Vermutungen der Bonner Staatsanwaltschaft, stehe unter dem Verdacht, Blutpräparate zu spät vom Markt genommen zu haben, so daß nicht ausgeschlossen werden könne, daß Hämophile, die diese Mittel ver- abreicht bekamen, mit AIDS infiziert wurden. Die Berliner Staatsanwalt- schaft ermittelte wegen des gleichen Vorwurfs gegen den ehemaligen BGA-Präsidenten Karl Überla.

Hinweise schon vor zehn Jahren

Die Spanne zwischen 1982 und 1985, als erste Spekulationen über die Existenz einer neuen Viruser- krankung zur Entdeckung von AIDS und schließlich zur Einführung des HIV-Antikörpers führten, gilt auch unter BGA-Kriterien als Zeit eines Expertenstreits, für die Schuldzuwei- sungen schwierig sind. Hinweise auf eine besondere AIDS-Gefährdung von Blutern finden sich in diesen Jahren ebenso häufig wie Beruhi- gungsversuche. In einem Patienten- Rundschreiben der Bonner Hämato- logie vom Juli 1983 heißt es etwa:

„Wenn AIDS tatsächlich über Plas- maprodukte übertragen werden kann, ist zu hoffen, daß das AIDS- Risiko möglicherweise gänzlich aus- geschlossen werden kann. Alle uns beliefernden Firmen werden im Lau-

Die Kette der Pannen und mög- licherweise auch vorsätzlichen Ver- tuschungsversuche von BGA und Gesundheitsministerium reicht nach Meinung von Kritikern wie dem SPD-Gesundheitsexperten Horst Schmidbauer noch weiter zurück. In einer Dokumentation unter der Überschrift „Der deutsche Blut- AIDS-Skandal" führt Schmidbauer akribisch alle fragwürdigen Entschei- dungen der Behörde und der zustän- digen politischen Instanzen der ver- gangenen zehn Jahre auf. Fazit:

BGA und Bundesregierung hätten die Infizierung mehrerer tausend Bluterkranken mit dem HIV-Virus nicht nur nicht verhindert, sondern mitverursacht.

fe des nächsten halben Jahres diese Produktverbesserung vorgenommen haben."

Am 26. Oktober 1984 treffen sich Hämophiliebehandler zu einem internationalen Runden-Tisch-Ge- spräch in Rio de Janeiro. Auch Ver- treter des Bundesgesundheitsamtes nehmen an der Veranstaltung teil.

Bei dem Treffen wird über eine Un- tersuchung berichtet, die an zwei Blutergruppen von 164 Patienten vorgenommen wurde. Das Ergebnis:

Von 135 Blutern, die mit konventio- nellen Faktor-VIII-Gerinnungsprä- paraten behandelt wurden, infizier- ten sich 80 mit dem HIV-Virus. In der anderen Gruppe war nach drei- jähriger Medikation mit hitzeinakti- vierten Präparaten keiner positiv.

Die Hoechst-Tochter Behring AG hatte bereits 1979 ein hitzesteri- lisiertes Bluter-Medikament zum Schutz gegen Hepatitisinfektionen Deutsches Ärzteblatt 90, Heft 42, 22. Oktober 1993 (19) A1-2747

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POLITIK

entwickelt, dem der Durchbruch we- gen der im Vergleich zu damals han- delsüblichen Präparaten deutlich hö- heren Produktionskosten aber nicht gelang. Obwohl bereits Anfang der achtziger Jahre bekannt war, daß die neuentdeckte Virus-Erkrankung of- fenbar auf ähnlichen Wegen übertra- gen wird wie der Hepatitis-Erreger, wurde die Hitzeaktivierung von Plas- maprodukten nicht gesetzlich vorge- schrieben.

Im Januar 1985 gelingt der end- gültige chemische Nachweis, daß AIDS-Viren durch die Hitzebehand- lung inaktiviert werden können. In einer gemeinsamen Erklärung an das BGA versichern die Pharmaherstel- ler, künftig nur noch hitzeinaktivier- te Faktor-VIII-Präparate auf den Markt zu bringen. Das Berliner Amt gibt sich mit dieser frohen Botschaft der Industrie offenbar zufrieden.

Erhebliches Restrisiko Am 1. Oktober 1985 steht der HIV-Test in der gesamten damaligen Bundesrepublik flächendeckend zur Verfügung. Das Problem möglicher- weise verseuchter Blutkonserven ist nach Meinung von Experten damit allerdings nicht vom Tisch. Denn we- gen der teilweise sehr langen Lager- zeit verschiedener Präparate ist nicht auszuschließen, daß vor dem Herbst 1985 hergestellte Produkte noch bis 1987 in die Krankenhäuser gelangen konnten. Aufgrund der fehlenden Chargendokumentation bleibt nach Einschätzung vom Pharma-Kritikern ein erhebliches Restrisiko. Rückruf- Aktionen unterbleiben jedoch.

1986 gelangt nach Recherchen des SPD-Gesundheitspolitikers Schmidbauer „eine kleine Menge (et- wa 61 Packungen)" eines nicht inak- tiVierten Faktor-IX-Präparats der Firma Organon in den Verkehr. Das BGA geht den Hinweisen auf minde- stens eine HIV-Infektion durch das Mittel den Angaben Schmidbauers zufolge aber erst 1992 nach.

Ein Jahr später, 1987, gibt es er- neut Vorwürfe gegen das Bundesge- sundheitsministerium und das BGA, die die Staatsanwaltschaften in Bonn und Berlin zu ihren Ermittlungen ge- gen den zuständigen Abteilungsleiter

KURZBERICHT

im Ministerium, Manfred Steinbach, und Ex-BGA-Chef Karl Überla ver- anlassen. Vor der Bonner Presse weist die amtierende Ressortministe- rin Rita Süssmuth (CDU) die An- schuldigungen zurück. Das Berliner Amt, so die Ministerin, habe „früh- zeitig und den jeweiligen wissen- schaftlichen Erkenntnissen entspre- chend gehandelt". Die Gefahr sei durch die richtigen Maßnahmen des Bundesgesundheitsamtes „technisch rasch gemeistert" worden. Rund 2 000 der insgesamt etwa 6 000 in Deutschland lebenden Bluter sind zu diesem Zeitpunkt bereits AIDS-infi- ziert.

Am 1. Juli 1987 tritt die Arznei- buch-Verordnung zur Inaktivierung von Plasmaprodukten in Kraft, die jedoch nur für Faktor-VIII-Präpara- te gilt und Produkte wie das aus dem Blut vieler Spender gefilterte Gerin- nungsmittel PPSB nicht berücksich- tigt. Noch am gleichen Tag schreibt die Firma Immuno einen Brief an das Bundesgesundheitsministerium; der Adressat: Manfred Steinbach. In dem Schreiben heißt es: „Die Be- gründung, daß nach dem derzeitigen wissenschaftlichen Erkenntnisstand nicht erkennbar ist, ob in bezug auf die Wirksamkeit der Virusinaktivie- rung zwischen den einzelnen Verfah- ren Unterschiede bestehen, hat in Fachkreisen ungläubiges Kopfschüt- teln hervorgerufen." Durch Faktor- IX-haltige PPSB-Präparate dürfte es in klinischen Anwendungen „zu einer unbekannten Zahl von HIV-Infektio- nen gekommen sein".

Im Mai 1990 stellt die Staatsan- waltschaft die Verfahren gegen

Steinbach und Überla ein, da die Zeugenaussagen der Sachverständi- gen, Blutspendezentralen und Unter- nehmen „keine eindeutigen Ergeb- nisse" geliefert hätten. Noch im glei- chen Jahr erhalten nach den Recher- chen Schmidbauers mindestens elf Patienten HIV-verseuchte Injektio- nen des Präparats PPSB-Biotest. Als einer der wenigen Großanbieter in diesem Bereich verwendet Biotest noch die höchst umstrittene Kaltste- rilisation, um das Plasma zu säubern

— elf Jahre nach der Entwicklung der Hitzeinaktivierung. Erst Ende des Jahres 1991 werden für alle Nicht-Faktor-VIII-Präparate gere-

gelte Inaktivierungsmaßnahmen vor- geschrieben.

In Frankreich kommt es Ende 1991 zum größten Medizin-Skandal in der Geschichte des Staates. Um nicht Gefahr zu laufen, alle Plasma- Pools vernichten zu müssen, hatten leitende Mitarbeiter der staatlichen Gesundheitsbehörden HIV-ver- seuchte Blutproben vorsätzlich in Verkehr gebracht. Tausende wurden infiziert, mehrere hundert Menschen sind bereits gestorben. Im Oktober 1992 wird Dr. Michael Garetta, der ehemalige Leiter des Nationalen Zentrums für Blutübertragung und Hauptangeklagte, zu einer vierjähri- gen Haftstrafe verurteilt. Den Vor- wurf der fahrlässigen Tötung hatte die Staatsanwaltschaft nicht durch- setzen können. Das Gericht schickte den Beamten vielmehr wegen des Verstoßes gegen das Lebensmittelge- setz hinter Gitter. Das milde Urteil löst im ganzen Land einen Sturm von Protesten aus. Auf eine Revision ver- zichtet Garetta.

Ein Pariser Gericht bewertete allein den seelischen Schaden durch eine AIDS-Infektion mit 1,5 Millio- nen Francs (rund 500 000 Mark). Ei- ne von ihrem Zahnarzt mit HIV-Vi- ren infizierte US-Amerikanerin er- hielt eine Million Dollar zugespro- chen. Die deutsche Pharmabranche hatte sich bereits 1987 mit den Hä- mophilie-Verbänden auf Schadener- satzregelungen verständigt. Erwach- sene erhielten bis zu 60 000 Mark, Kinder etwa 25 000 Mark. Auf Rechtsmittel mußten die Geschädig- ten verzichten.

Auch honorige Organisationen wie das Deutsche Rote Kreuz (DRK) spielten im AIDS-Skandal eine eher dubiose Rolle. Als einer der größten Spendensammler der Republik spiel- te die Organisation die Gefahren von HIV-verseuchten Plasmaprodukten jahrelang herunter.

In Bonn hatten sich die Wogen nach der ersten Bestürzung und Em- pörung zunächst wieder etwas geglät- tet, freilich ohne daß die Affäre wirk- lich aufgeklärt ist. Nicht 372 Fälle, wie zunächst genannt, liegen im dun- keln, sondern „nur" etwa ein Dut- zend — solcher Bluterkranken, die nach dem Herbst 1985 infiziert wur- den. Dieter Schröppke

A1 -2748 (20) Deutsches Ärzteblatt 90, Heft 42, 22. Oktober 1993

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