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Archiv "Humaner ist die Prävention" (16.11.2001)

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aum waren die Rauchschwaden des Infernos von Manhattan ver- zogen, machte eine Nation, die sich bisher für unverletzlich hielt, trot- zig mobil. Sorge kam auf, dass die USA wieder einmal nur machtpolitisch und militärisch reagieren würden, ohne die vorausgegangenen Entwicklungen, die Entstehungsgeschichte dieser Konflik- te, selbstkritisch zu analysieren. Als ob die Lehren aus Korea und Vietnam, aus dem Iran, aus Somalia und dem Sudan, aus dem Golfkrieg und jüngst aus dem Kosovo nicht genug wären. Auch der

„erfolgreiche“ Golfkrieg erwies sich als Pyrrhussieg. Nach großem Leid, vor al- lem in der Zivilbevölkerung, gab es ei- nen „Schurkenstaat“ mehr, und die Ra- dikalisierung und „Entwestlichung“ in dieser Region ist jetzt größer denn je.

Die teuflische Konsequenz – die wahrscheinlich auch das Kalkül der At- tentäter war – ist, dass die Weltmacht USA nach ihrem Selbstverständnis auf diese Kriegserklärung machtvoll rea- gieren muss. Sehr schnell und wenig re- flektiert bekundete die NATO uneinge- schränkte Bündnistreue und Gefolg- schaft für eine Strategie, die wir nur mittragen können, wenn sie sich neben der konkreten Bekämpfung der Terro- risten auch an Inhalten und Ursachen orientiert und so dauerhafte, weil hu- mane, Lösungen ermöglicht.

Indienstnahme der freien Presse

Seit dem 7. Oktober erleben wir die Bombardements in Afghanistan – zwar lasergesteuert genau, aber es gibt „normale Kollateralschäden“, bei denen Dörfer in Schutt und Asche

gelegt werden. Parallelen zum Golfkrieg drängen sich auf. Damals erlebten wir den gigantischen Militäreinsatz, der Hunderttausende Tote kostete, an den Bildschirmen, zweckdienlich selek- tiert, wie eine Sportreportage. Mehr Information wäre nur hinderlich gewe- sen.

Auch jetzt erleben wir eine zuneh- mende Indienstnahme der freien Pres- se durch die Politik. So verbietet zum Beispiel das US-Außenministerium die Ausstrahlung vermeintlich de- struktiver Informationen durch den Sender VOA. Angeblich sollen die USA inzwischen auch die Leistungen fremder Aufklärungssatelliten gekauft haben, die auf diese Region gerichtet sind. Sie haben somit das Informati- onsmonopol, das zum Bestandteil der Kriegführung geworden ist. Journali- sten vor Ort weisen in ihren Reporta- gen ausdrücklich darauf hin, dass sie nur über das berichten können, was zur Berichterstattung freigegeben wurde. Wo bleibt bei dieser Art von Desinformation der mündige Bürger, dem vielleicht demnächst im Rahmen der Allianz persönliche Opfer abver- langt werden?

Die Gleichschaltung von Politik und freier Presse, die sich hier abzeichnet, trägt totalitäre Züge. Sie dient zwar der ungestörten Vorbereitung weltum- spannender Maßnahmen gegen den Terrorismus, Definition und Begren- zung der Maßnahmen obliegen aber ausschließlich den USA. Und wie im- mer sind es weiterreichende Maßnah- men, die auch strategische und ökono- mische Ziele verfolgen.

Die schnell zusammengezimmerte Antiterror-Allianz lässt das alte Reak- tionsmuster erkennen, bei dem die T H E M E N D E R Z E I T

Deutsches Ärzteblatt½½½½Jg. 98½½½½Heft 46½½½½16. November 2001 AA3025

Terror und Gegenschläge

Ohne Ursachenforschung keine Konfliktlösung

Auf Terror vorrangig mit militärischer Gewalt zu reagieren führt in die Sackgasse – bis hin zur Aufgabe humaner Maßstäbe.

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egelmäßig erscheinen im Deutschen Ärzte- blatt Artikel, in denen von ärztlichen Einsätzen in Krisenregionen berichtet wird.

Durchweg sind die armen und ärmsten Länder dieser Welt betroffen, und die Leidenden sind vielfach Frauen, Kinder und Alte, die hilflos Terror und Krieg ausgesetzt sind, die verwun- det wurden, geschändet wurden, an Mangel- krankheiten leiden oder vor dem Hungertod stehen. Ihnen gilt ärztliche Hilfe, entsprechend dem ärztlichen Auftrag, Krankheit zu heilen, Leid zu lindern und Sterbenden beizustehen.

Ärzte sind hier oftmals in und nach Kata- strophen tätig, die hätten verhindert werden können oder die gar mutwillig herbeigeführt wurden. Hilfe gleicht dann einer „Reparatur“

von Schäden, die andere angerichtet haben.

Wirkungsvoller und humaner wäre Kriegs- prävention. Die freilich gehört nicht zu den spezifisch ärztlichen Aufgaben, doch es ver- wundert nicht, dass sich gerade Ärzte immer wieder dafür einsetzen und dafür plädieren, den Frieden zu sichern.

In diesem Sinne veröffentlicht unsere Zeit- schrift nachfolgend einen Artikel, der „unse-

re“ – die westliche – Kriegführung, angeführt von der westlichen Vormacht, in Afghanistan in Zweifel setzt und stattdessen zur Ursachen- forschung aufruft, um sodann Terrorismus ur- sächlich zu bekämpfen. Die Auffassungen in der Redaktion über die Veröffentlichungen ei- nes solchen Beitrages, der über das rein Fach- liche hinausgeht, sind geteilt, wir haben uns aber schließlich dazu entschlossen.

Der Krieg in Afghanistan trifft ein armes Land und geschundene Menschen; sie haben genauso wie wir im Westen Anrecht auf Ein- haltung der Menschenrechte, auf Leben und Gesundheit, und es erscheint zynisch, darüber mit Achselzucken und dem Hinweis auf die un- vermeidlichen Kollateralschäden hinwegzuge- hen. Je weniger den Ursachen nachgegangen wird und je unklarer die Kriegsziele erschei- nen, desto unverantwortlicher ist es, menschli- che Opfer in Kauf zu nehmen.

Unser Land wird sich voraussichtlich nun- mehr auch militärisch beteiligen. Unter den den USA angedienten Einheiten sind solche, die Verwundete bergen und technisch hoch qualifiziert behandeln können. Solches ist al- ler Ehren wert. Gemeint sind freilich verwun- dete Soldaten der „westlichen“ Streitmacht.

Die verwundeten Frauen, Kinder und Alten im Lande müssen einstweilen sehen, wo sie

bleiben. Norbert Jachertz

Forum

Humaner ist

die Prävention

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Verbündeten nur nach strategischen Gesichtspunkten ausgewählt werden.

Es durften auch korrupte Regime sein, wenn sie nur in das Kalkül passten.

Wie oft wurden aus solchen Verbünde- ten erbitterte Feinde? Wie oft haben westliche Industrienationen Diktato- ren, die in ihren Ländern permanent Menschenrechtsverletzungen begin- gen, um vordergründiger politischer und strategischer Ziele willen prote- giert, obwohl das im krassen Gegen- satz zu den Werten stand, die sie für sich in Anspruch nehmen und die Be- standteil ihrer Verfassungen sind. So durfte sich jetzt auch Russland mit lo- gistischer Hilfe und seinen „Erfahrun- gen“ im Tschetschenienkrieg in die Al- lianz einreihen. Die westliche Welt hatte sich schon vorher durch ihre Komplizenschaft des Schweigens über diesen grausamen Vernichtungskrieg schuldig gemacht. Nun verwischen wir die Konturen zwischen Recht und Ver- brechen weiter. Wo bleiben hier unsere Überzeugungen und die vorausschau- ende Konfliktvermeidung durch hu- mane, länger tragende Lösungen?

In den Augen der Dritten Welt sind die Industrienationen durch eine lange Geschichte verfehlter Politik belastet und schuldig geworden. Aus der Sicht der Schwachen sind unsere Wertebe- griffe, die wir wie eine Monstranz vor uns her tragen, leere Hüllen. Sie sind für uns oft nur Fassade, und andere Völker erleben sie als Instrumente der Einflußnahme.

Was bleibt bei näherer Betrachtung von der angeblichen Überlegenheit unserer Lebensweise, wenn wir von unserem höheren Lebensstandard ein- mal absehen? Wenn dieser selbstkriti- sche Erkenntnisprozess nicht stattfin- det, wird es aus der Spirale eskalieren- der Gewalt kein Entkommen geben.

Segnungen unseres exportierten Fortschritts

Wenn die Industrienationen, ökono- misch und technisch überlegen, in Län- der der Dritten Welt eindringen oder zu ihrem Vorteil Einfluss nehmen, zer- stören sie nicht nur traditionelle ökono- mische Strukturen, sondern auch Iden- titäten und Kulturen, die für die Men-

schen dort in viel höherem Maße tra- gend und lebenswichtig sind als für die Menschen in den offenen Gesellschaf- ten des Westens, die, mit Kaufkraft aus- gestattet, auch anderswo leben können.

Nach Angaben der Welthungerhilfe sterben gegenwärtig 24 000 Menschen täglich (!) an Hunger. Es wäre maka- ber, wollte man diese Zahl mit den 6 000 Toten der jüngsten Terroran- schläge in Relation setzen, aber zum Nachdenken sollten diese Zahlen schon anregen.

Zurzeit leben weltweit 800 Millio- nen Menschen unterhalb der Armuts- grenze. Zur Erinnerung: Die Bundes- regierung hat sich 1998 im Koalitions- vertrag verpflichtet, jährlich 0,7 Pro- zent des Bruttosozialprodukts als Ent- wicklungshilfe zu leisten. Davon sind 0,27 Prozent übrig geblieben. Es gibt anscheinend zweierlei Lebensrecht auf dieser Welt. Wie sagte dazu ein Zyni- ker: „Unsere Menschenrechte sind un- teilbar. Warum sollten wir sie dann mit anderen Völkern teilen?“

Die entsetzlichen Anschläge:

Neue Dimension des Alten

Die Terroranschläge auf die wirt- schaftlichen und politischen Zentren der westlichen Führungsmacht trafen unsere Gesellschaft wie ein Blitz, aller- dings aus einem nur scheinbar heiteren Himmel. Stellt man die Ereignisse in eine Reihe, erscheinen die unfassba- ren Anschläge nur als eine neue Di- mension des Altbekannten. Wir erle- ben es seit Jahren: Da sprengt sich an einer Bushaltestelle in Jerusalem ein Jugendlicher in die Luft und tötet meh- rere Israelis. Die Israelis reagieren mit einem Vergeltungsschlag. Wieder ster- ben Frauen und Kinder. Da werfen Kinder in unbändigem Hass Steine auf israelisches Militär und werden mit- unter dabei erschossen. An diese schrecklichen Stereotypen haben wir uns gewöhnt. Aber was heißt das alles?

Haben sich die Beteiligten hier jemals ausreichend mit den Ursachen ausein- ander gesetzt? Wie wird ein Jugendli- cher zum Attentäter? Diese Jugendli- chen stammen vorwiegend aus den La- gern, aus traumatisierten Familien. Sie sind im Getto als Menschen zweiter

Klasse mit prägenden Lernprozessen aus nun schon zwei Generationen auf- gewachsen und haben mitunter durch Terror und Gegenterror Familienmit- glieder verloren.

An dieser Stelle müssen wir uns fra- gen, was eigentlich ein Selbstmordat- tentäter ist. Wir haben uns mithilfe der Medien an dieses Wort gewöhnt, das et- was für uns sehr Fremdes aus einem fer- nen, unbegreifbaren Geschehen, etwas irgendwie Unappetitliches darstellt.

Aber ist es im Wesentlichen nicht je- mand, der das Äußerste, sein Leben, in die Waagschale wirft, weil er glaubt, dass ihm im Kampf mit einem Gegner, der ihm technisch und an politischer Macht weit überlegen ist, kein anderes Mittel bleibt? Einer von denen, die seit Generationen zu den Verlierern gehören? Jeder stirbt für sich allein und nur einmal. Und so ist aus der Sicht ei- nes Selbstmordattentäters – so verbre- cherisch und verabscheuungswürdig sein Einsatz auch ist – der Unterschied zwischen einem Anschlag in Jerusalem und dem Inferno in New York nur eine Frage der größeren Effizienz für den Einsatz seines Lebens. Diese Effizienz wäre zum Beispiel durch einen An- schlag auf einen unserer zahlreichen Atomreaktoren oder unsere schon le- bensnotwendigen elektronischen Kom- munikationsmittel, aber auch durch chemische oder bakteriologische An- schläge beliebig zu steigern.

Die lange Vorgeschichte der Eskalation untersuchen

Man fragt sich, wie eine solche Instru- mentalisierung von Menschen zum Terror möglich ist. Wenn ich hier ein- zelne Aspekte aufzähle, soll nicht der Eindruck entstehen, als sei das irgend- ein Versuch der Rechtfertigung sol- cher entsetzlicher terroristischer Ver- brechen. Es ist vielmehr der Versuch, die lange Vorgeschichte der Eskalation und Radikalisierung, der Erkenntnis der Ohnmacht und der Perspektivlo- sigkeit dieser Menschen in den Blick- punkt zu rücken. Findet dieser selbst- kritische Erkenntnisprozess nicht statt, gibt es kein Ende der Gewalt.

Das zugrunde liegende Problem wird nicht mit einem mühsam zusammenge- T H E M E N D E R Z E I T

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A3026 Deutsches Ärzteblatt½½½½Jg. 98½½½½Heft 46½½½½16. November 2001

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fügten, sehr heterogenen Militärbünd- nis der USA aus der Welt zu schaffen sein. Wir stehen jetzt an einer entschei- denden Schwelle: Wenn wir, die Länder der westlichen Welt, fortfahren, Völker mit anderen Entwicklungsstufen, ande- ren Kulturen nur als Rohstofflieferanten zu benutzen, sie unter dem Gesichts- punkt globaler strategischer Machter- haltung zu missbrauchen, wenn wir fortfahren, die Würde anderer Völker, deren Kultur und Traditionen gering zu schätzen, nur weil sie fremd sind und uns nicht unmittelbar nützen, dann haben wir diese Auseinandersetzung schon verloren! Jetzt nur traditionell machtpolitisch zu reagieren, kann in unserer klein gewordenen Welt, vollge- stopft mit Massenvernichtungspotenzi- al, apokalyptische Folgen haben.

Gibt es zweierlei Verzweiflung und Wut auf dieser Welt? Eine echte und nahe in unserer ersten Welt und eine andere, ferne in der so genannten Drit- ten, an die wir uns gewöhnt haben, die nur sporadisch und als Nebenprodukt über den Bildschirm in unsere Wohn- stuben kommt? Ist der Schmerz einer Mutter im Irak, in Afghanistan weni- ger groß als in New York, nur weil die- ser einen größeren Teil unserer Me- dienberichterstattung einnimmt? Kön- nen wir in unserer, in langer Tradition von einem humanistischen Wertesy- stem geprägten westlichen Welt nicht endlich begreifen, dass alle Menschen auf der Welt, ob im Sudan, im Irak oder in Afghanistan, ihre Familien, ih- re Kinder genauso lieben wie wir?

Dass diese Menschen einfach nur le- ben wollen, unter gerechten Bedingun- gen und in Würde? Wie sagte jene afghanische Mutter, die mit ihrem schwer verletzten Sohn nach tagelan- ger Flucht in ein pakistanisches Kran- kenhaus kam: „Dieser Krieg ist nicht unser Krieg.“

Verletzlichkeit angesichts unsichtbarer Gegner

Die jüngsten Ereignisse offenbaren ei- ne dem System innewohnende fatale Gesetzmäßigkeit, die wie ein biologi- sches Gesetz zu allen Zeiten galt: Eine Gesellschaft, die ihre eigenen Werte wie Freiheit, Menschenwürde, Ge-

rechtigkeit, soziales Gewissen, mit de- nen sie einst angetreten ist, um mit an- deren Gesellschaftssystemen zu kon- kurrieren, aushöhlt und pervertiert, ist in Auflösung begriffen und kann auch durch modernste Waffen diese neue Herausforderung nicht bestehen.

Deshalb kann auch die jetzt allent- halben geforderte verschärfte Kon- trolle im gesamten öffentlichen Leben – nicht nur auf Flughäfen, auch bei Ar- beitseinstellungen, bei Studenten und Verkehrsteilnehmern – keine Lösung sein. Denn was unterscheidet einen Schafhirten, einen Studenten (einen

„Schläfer“) äußerlich von einem Ter- roristen? Es geht um die Köpfe und die Herzen, und da ist ein hochgerüstetes Waffenarsenal wertlos. Wenn wir an- fangen, die Biografie jedes Flugpas- sagiers geheimdienstlich auszuleuch- ten, bevor er ein Flugzeug besteigen darf, dann steht big brother à la George Orwell vor der Tür. Dann sind wir nicht mehr das, was wir waren.

Dann haben wir das verloren, um des- sen Erhalt es sich immer zu kämpfen lohnte. Schon laufen unsere beflisse- nen Innenminister und Sicherheitsbe- rater zu Höchstform auf und ziehen die Maschen ihres erkennungsdienstlichen Netzes enger. Rasterfahndung, Tele- fonüberwachung werden möglich.

Dies können bestenfalls vorüberge- hende äußere Maßnahmen sein. Von Inhalten war bisher jedoch nicht die Rede. Dem Mediziner drängt sich hier der Vergleich mit einer Immun- schwäche-Krankheit auf. Sie trifft uns im Inneren.

So ist es wie die späte Ironie des Schicksals, der Ausdruck einer system- immanenten Gesetzmäßigkeit, dass die westliche Welt nach Jahrhunderten der Kolonialisierung, der Diskriminierung und der Arroganz der Macht anderen Kulturen gegenüber, nun ins Bewusst- sein gebombt bekommt, dass unser Wertesystem, das wir exklusiv für uns in Anspruch nehmen und das unser Selbstverständnis ausmacht, eigentlich immer schon auch für andere Erdteile hätte Gültigkeit haben müssen.

Der Widerstand gegen die Macht, die diese globale Entwicklung diktiert, wächst beständig, besonders bei den Armen. Die Kehrseite unserer Prospe- rität, die wir gewohnt sind, als Fort-

schritt zu bezeichnen, bedeutet für die anderen Verelendung, Polarisierungen innerhalb ihrer Gesellschaften zwi- schen Siegern und Verlierern, auf staatlicher Ebene unwürdige ökono- mische und politische Abhängigkeiten und auf der Individualebene den Ver- lust gewachsener sozialer Strukturen und Identitäten. Es sind die wichtig- sten Halt gebenden Strukturen im Le- ben der Armen und Rechtlosen. Alles scheint wohlfeil und käuflich, auch wenn es zu jenen zeitlosen Archetypen der menschlichen Kultur und des An- standes gehört, die nicht käuflich sind und die zum überlieferten Schatz aller Völker, auch der nach unseren Kriteri- en primitivsten, gehören.

Entstaatlichung des Terrors

Diese Länder erleben die Globalisie- rung als einen Mechanismus, mit dem vor allem die USA ihre ökonomische, politische und militärische Hegemonie auf imperiale Weise ausweiten. Aber in dem Maße, in dem durch weltum- spannende wirtschaftliche Verflech- tungen und Abhängigkeiten Landes- grenzen unwichtig werden, in dem- selben Maße kommt es jetzt zwangs- läufig zu einer Entstaatlichung dieser systemimmanenten Konflikte, zu einer Entstaatlichung des Terrors. Diese neue Form des Krieges kennt keine Frontlinie – bestenfalls eine gedachte, ideologische. Warum sollte sie sich auch angreifbar machen? Sie hat dort ihre strategische Stärke, wo die hoch entwickelten Länder ihre Schwäche haben. Es ist eine „todsichere“ Strate- gie. Der Terror kann immer und über- all zuschlagen. Der Gegner ist un- sichtbar und allgegenwärtig. Seine Mo- tivation, seine Rigorosität werden di- rekt von der ihn umgebenden und von ihm erlebten Diskriminierung gespeist und unterhalten. Die militärischen Verteidigungssysteme des Westens sind auf einen solchen Gegner nicht anwendbar, auch unsere Sicherheits- vorkehrungen im Inneren nicht. So ist der Ausgang dieses Konfliktes vorher- bestimmt, wenn nicht endlich Inhalte und Entstehungsbedingungen begrif-

fen werden. ✁

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Die Folgen kurzsichtiger Strategien

Die Konzentration der Militäraktio- nen auf den jetzt ausgemachten Hauptgegner Bin Laden und seine Komplizen bei den Taliban ist eine Verkürzung des Problems und nicht frei von hegemonialen Zielsetzungen.

Denn potenzielle Bin Ladens gibt es viele auf der Welt. Es wird keine Nach- folgeprobleme geben. Das Feld des Terrorismus ist bestens bestellt, und wir selbst haben den Boden bereitet.

Hat denn unsere Führungsmacht schon eine Antwort auf die Frage, wie es weitergeht, wenn die Taliban einmal ausgeschaltet sind? Einen offenen Waffengang zu gewinnen, ein strategi- sches Kriegsziel zu erreichen ist eine Sache. An einer unsichtbaren – und ge- rade durch diesen Kriegseinsatz immer größer werdenden – ideologischen Front zu siegen ist eine ganz andere!

Die Polarisierung und Destabilisie- rung ganzer Regionen wird nach ei- nem Waffengang noch größer sein.

Und zuvorderst: Was geschieht mit der Bevölkerung in Afghanistan im bevor- stehenden Winter?

Bedrohlich ist auch, welch einen Spagat die arabischen Golfstaaten jetzt zwischen realpolitischen Zwängen und der Meinung des überwiegenden Teils ihrer Bevölkerung vollführen müssen.

Während sich die Regierungen, nach realpolitischer Einsicht, maßvoll – deutlich zurückhaltender als im Golf- krieg – an der Antiterrorallianz beteili- gen, demonstrieren Zehntausende auf den Straßen und bejubeln ihr Idol Bin Laden. Diese Destabilisierung ist am krassesten in Pakistan zu sehen. Ähnli- che Destabilisierungen könnte es auch in der Türkei geben, die vor einer Zer- reißprobe zwischen der mehrheitlich islamisch verankerten Bevölkerung und der in politische Abhängigkeiten eingebundenen Regierung steht. Die aktive Beteiligung an einem Krieg ge- gen Glaubensbrüder wird von der Mehrheit nicht mitgetragen.

Bei all diesen Konflikten ist der israelisch-palästinensische Dauerkon- flikt ein Kristallisationspunkt, ein Ak- zelerator und ein Testfall für die Kon- frontation der islamischen Welt mit dem Westen. Die USA wurden dabei

durch ihre Funktion als Schutzmacht israelischer Sicherheitsinteressen zwangs- läufig zum Hassobjekt der gesamten arabischen Welt.

Vielleicht aber entsteht gerade aus der Erkenntnis dieser scheinbar unab- wendbaren, neuen Dimension einer globalen Bedrohung die Einsicht, die zu einer völlig neuen, längst überfälligen Art des politischen Managements führen könnte. Und dies nicht etwa auf der Grundlage eines vom Humanis- mus geprägten philosophischen Men- schenbildes und dem Bekenntnis zu un- teilbaren Menschenrechten, sondern aus rein pragmatischem, realpoliti- schem Begreifen des Möglichen, auch des Erkennens der unausweichlichen Katastrophe für alle Beteiligten. Philo- sophen sitzen ja für gewöhnlich nicht an den Schalthebeln der Macht. Und so ist diese Chance, die sich gleichsam über den ausgeprägten Eigennutz innerhalb der Denkkategorien eines homo politi- cus jetzt neu und zwingend auftut, viel- leicht wirklich eine realistische Hoff- nung. Vordenker auf diesem Weg hat es viele gegeben. Ein ganz ungewöhnli- cher und hier unerwarteter, der die vergleichende Verhaltensforschung im Tierreich zum Thema Machtmanage- ment bemüht, sei hier genannt: „Der Hai im Management. Zur Biologie wirtschaftlichen Fehlverhaltens“, Hans Hass, Ullstein 1990. Dieses Büchlein sollte Pflichtlektüre jedes Politikers werden.

Wir sehen, mit der Hybris des Men- schen, etwas Besonderes zu sein, ist es so eine Sache.

Was ist zu tun?

Es geht in dramatischer Dringlichkeit um selbstkritisches Analysieren der Konfliktursachen. Der nur zu bekann- te Zwang, auf Terror vorrangig mit mi- litärischer Gewalt zu reagieren, der bisher nur in Sackgassen geführt hat, darf diesmal nicht die ultima ratio sein.

Ein souveränes Abwägen im Einklang mit allen menschlichen Wertmaßstä- ben, die wir bisher nur für uns in An- spruch genommen haben, wäre ein deutliches Zeichen an die Adresse der benachteiligten Völker und – recht be- sehen – ein Zeichen der Stärke, wie es

einer demokratischen Führungsmacht gut ansteht.

Es gibt auch in der islamischen Welt viele nachdenkliche Menschen, die sich in der Gefolgschaft eines militanten zerstörerischen Islamismus nicht wohl fühlen, die aber mangels sichtbarer Al- ternativen und im Erleben unserer Art, die Welt zu bestimmen, keinen anderen Weg als den der Gewalt sehen. Diese Menschen gilt es zu überzeugen und zu gewinnen. Vor allem aber: Es gibt kei- nen anderen Weg zum Frieden!

Als der ägyptische Präsident Anwar as-Sadat einen friedlichen Ausgleich mit Israel suchte und 1977 durch seinen mutigen Besuch in Israel die Initiative im Friedensprozess ergriff, der dann mit der Konferenz von Camp David 1978 den Menschen einen greifbaren Weg zum Frieden und einen Ausweg aus der Spirale des Terrors aufzeigte, kam es in der Region wie von Zauber- hand zu einem Abflauen der Gewalt:

Dies ist ein Lehrstück. Geben wir also den unmittelbar Beteiligten, die immer auch die am meisten Leidenden sind, eine glaubwürdige Hoffnung auf Frie- den und Gerechtigkeit, und wir werden am ehesten den Sumpf des internatio- nalen Terrors trockenlegen.

Die Deutschen schließlich sollten sich schwerer tun mit einer unreflek- tierten Gefolgschaft auf diesem Weg der Gewalt. Wir haben, anders als die USA, die Flächenbombardements auf unsere Großstädte mit Bergen von Lei- chen noch gut in Erinnerung. Die USA haben seit 200 Jahren solche leidvollen Erfahrungen durch einen äußeren Feind im eigenen Land nie zu machen brauchen. Sie haben ihr gewaltiges in- dustrielles Vernichtungspotenzial im- mer nur nach außen getragen und Ge- legenheiten zu einer selbstkritischen Neubesinnung, wie zum Beispiel nach der verheerenden Niederlage im fernen Vietnam, nie genutzt. Dieses Ereignis wurde in diesem kraftvollen Land auf beklemmende Weise verdrängt. Viel- leicht sind wir ihnen hier etwas voraus.

Vielleicht gibt es da etwas, das sie von uns lernen könnten. Wir sollten nicht nachlassen, ihnen diesen unseren wah- ren Freundschaftsdienst anzutragen.

Dr. med. Horst Hoffmann Kinderarzt/Psychotherapie Aalborgring 38, 24109 Kiel T H E M E N D E R Z E I T

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