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Die Welt in der Nussschale

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128 IPJuli /August 2012

© Henning Kettel

Marko Martin | Zumindest in einem sind sich Israel-Skeptiker und die Konservativen unter den selbster- klärten „Freunden“ des Landes einig:

„Die Strandpromenade von Tel Aviv ist nicht repräsentativ.“

Das überraschend gemeinsame Mantra gilt hier der Abwehr eines als apolitisch-hedonistisch wahrgenom- menen Lebenskonzepts, das für die einen eine Art Lifestyle-Camouflage fragwürdiger israelischer Politik dar- stellt, für die anderen indessen gar eine Bedrohung für die Wehrhaftig- keit eines kleinen Landes und seiner Gesellschaft.

Aber was, wenn Tel Aviv – um eine etwas gewagte Analogie zu be- mühen – tatsächlich zwischen Sparta und Athen liegt? Pars pro toto zeigt sich nämlich gerade auf jener Strand- promenade Israels ganze Komplexität, oder doch zumindest das verblüffend heterogene Wahrnehmungsmuster seiner Bewohner.

Man muss kein Alltagsphilosoph sein und jeden Text von Siegfried Kra- cauer oder Roland Barthes studiert haben, um bei den Reizstichworten Okkupation oder Iran die politische Relevanz des hier lebensweltlich Zele- brierten zu erkennen. Denn irgend-

jemand drückt immer auf den Laut- sprecherknopf, dort an der kleinen, in Beton eingefassten Felsenmauer un- terhalb des Sheraton-Hotels. Und so erklingt beinahe regelmäßig und quer über die Promenade von Tel Aviv die charismatische Stimme des Abie Nathan, untermalt vom Rauschen des Meeres: „From somewhere in the Me- diterranean: The Voice of Peace. Love, peace and understanding …“

Keine halbe Minute später hat sich dann in der Regel schon eine kleine Menschentraube um den winzigen Lautsprecher geschart, neben dem eine Plakette darüber informiert, dass fünf Kilometer von hier einst das Frie- densschiff des Aktivisten Abie Nathan geankert hatte, um zwischen 1973 und 1993 täglich eben jene Friedens- botschaften auszusenden.

Und sofort entbrennt zwischen den Strandgängern – Eis schlecken- den Flaneuren, Soldatinnen mit hoch ins Haar gesteckter Sonnenbrille, Fa- milien und alterslos muskulösen Jog- gern, die mitten im Lauf anhalten – eine hitzige Diskussion: War Abie Nathan, vor zwei Jahren hochbetagt verstorben, womöglich ein naiver Ver- einfacher und Schwärmer? Aber nein, widersprechen andere, Abie war doch

Die Welt in der Nussschale

Wer Israel verstehen will, muss die Strandpromenade von Tel Aviv besuchen Brief aus … Tel Aviv

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IPJuli /August 2012 129 Brief aus … Tel Aviv

Man kann schwerlich vom Nahen Osten reden und dabei vom Wunder dieser Strandpromenade schweigen ein Patriot, Kampfpilot im Unabhän-

gigkeitskrieg von 1948, später aller- dings Versöhner und Visionär.

Die Sonne steht hoch an diesem Sommernachmittag, die Zeitungen sind noch immer prall voll mit Nach- richten und Debatten über das irani- sche Atomprogramm, die verbalen Feindseligkeiten aus dem „neuen Ägypten“ und das nicht zuletzt von der Netanjahu-Regierung verantwor- tete Stocken der israelisch-palästi- nensischen Verhandlungen, und einer der Älteren sagt: „Versöhner und Visionär – schön und gut, zu Nasser ist er geflogen, um Frieden zu bringen, aber schon im nächsten Jahr haben sie uns ins Meer treiben wol- len, damals, ’67.“

Und so wogt die spontane, nuan- cenreiche Debatte über Krieg und Frieden, feindliche Nachbarn und mentale Selbstblockaden hin und her, während im Hintergrund weiterhin Abie Nathans Stimme erklingt.

Vielleicht, denkt der Besucher, sollten die allzu oft vorschnellen westlichen Kommentatoren und Isra- el-Kritiker auch einmal diese Strand- promenade besuchen, um zu erfah- ren, auf welch hohem und atmosphä- risch gänzlich sanktionsfreiem Ni- veau hier (wenn schon nicht im Kabinett der gegenwärtigen Regie- rung) diskutiert wird: Jenseits der Pauschalrhetorik von Pazifisten und Bellizisten, jenseits von Manichäis- mus, aber auch von allzu bequemer Äquidistanz.

„Wie billig“, grummelt einer, als kurz vor dem Verstummen des Laut- sprechers John Lennons „Give peace a chance“ über die Promenade schep- pert. Zwei junge homosexuelle Solda- ten aber halten sich just in diesem

Moment an den Händen, auf ihren Rücken die Waffen – ein Bild, das zu denken gibt.

Und dann sind da schließlich diese Augenblickswahrnehmungen beim Flanieren: Jüdische Äthiopier und nichtjüdische nigerianische Ver- tragsarbeiter beim gemeinsamen Flir- ten mit französi-

schen Touristin- nen, die sich auf- grund eines in Frankreich wach- senden Antisemi-

tismus inzwischen hier sogar siche- rer fühlen – und zwar im quirlig gelassenen Tel Aviv, nicht etwa im aufgeheizt selbstgerechten Jerusalem.

Junge Leute von den Philippinen, die ältere Einheimische im Rollstuhl über die Promenade schieben, dazu aber auch schon Kinder mit eurasi- schen oder afrikanischen Gesichtszü- gen, die wie selbstverständlich auf Hebräisch sprechen und rufen, nicht zu vergessen die in Tel Aviv studie- renden Araber aus Jaffa oder Haifa, die nun gerade etwas Sonne tanken.

Erste Anzeichen jener neuen um- fassenderen israelischen Identität, auf die kritische Intellektuelle und Schrift- steller einer jüngeren Generation wie Nir Baram oder Ron Leshem so drin- gend hoffen? Wie auch immer: Man kann schwerlich vom Nahen Osten reden und gleichzeitig vom Wunder dieser Strandpromenade schweigen.

MArKO MArTIN lebt als Schriftsteller und Publizist in Berlin.

Zuletzt erschien in der Anderen Biblio- thek sein Erzählband

„Schlafende Hunde“.

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