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Die Beschwerde wird gemäß 3 Abs. 1, 8 Abs. 1, 57 und 55, 10 Abs. 1 Z 3 AsylG ivm

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Gericht BVwG

Entscheidungsdatum 06.04.2016

Geschäftszahl L507 1421079-2

Spruch

L507 1421079-2/13E

IM NAMEN DER REPUBLIK!

Das Bundesverwaltungsgericht hat durch den Richter Mag. Habersack über die Beschwerde des XXXX , geb.

XXXX , StA. Türkei, gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 03.12.2015, Zl.

13-810545507/14054402, nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung am 19.01.2016, zu Recht erkannt:

A)

Die Beschwerde wird gemäß § 3 Abs. 1, § 8 Abs. 1, §§ 57 und 55, § 10 Abs. 1 Z 3 AsylG iVm

§ 9 BFA-VG sowie § 52 Abs. 2 Z 2 und Abs. 9, § 46 und § 55 FPG als unbegründet abgewiesen.

B)

Die Revision ist gemäß Art 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.

Text

ENTSCHEIDUNGSGRÜNDE:

I. Verfahrensgang

1. Der Beschwerdeführer reiste am 06.06.2011 illegal in das Bundesgebiet von Österreich ein und stellte am gleichen Tag einen Antrag auf internationalen Schutz. Zur Begründung des Antrages gab er bei der noch am Tag der Antragstellung durchgeführten Erstbefragung an, er sei Kurde und in der Türkei gäbe es keine Menschenrechte. Er werde als Kurde ab und zu bedroht und habe große Angst, dass ihm in der Türkei etwas passiere, da die Kurden in der Türkei verfolgt werden würden. Wegen dieser Problematik habe er auch große psychische Probleme. "Offiziell" habe er aber mit keinen Sanktionen zu rechnen.

2. Am 28.06.2011 wurde der Beschwerdeführer von einem Organ des Bundesasylamtes einvernommen. Er gab an, dass seine Muttersprache Kurdisch sei, er aber auch Türkisch und ganz wenig Deutsch spreche. Gegen die Einvernahme in der türkischen Sprache habe er nichts einzuwenden und er verstehe den Dolmetscher einwandfrei. Zum Asylvorbringen führte der Beschwerdeführer aus, er sei kurdischer Alevite und habe von 1986 bis 1995 mit seiner Familie in XXXX gelebt. 1995 seien im Heimatdorf XXXX die Häuser niedergebrannt worden. Er habe sich dann mit seiner Familie in Istanbul niedergelassen und sei dort zur Schule gegangen. Schon während der Gymnasialzeit sei ihm bewusst geworden, was den Kurden eigentlich angetan worden sei. Er habe gegen dieses Unrecht ankämpfen wollen und sei zu einem Sympathisanten der DTP geworden. Er habe deren Zeitungen und Zeitschriften gelesen, Broschüren und Mitteilungen verteilt und andere Schulkollegen für diese Tätigkeiten animiert. Der Direktor der Schule habe den Beschwerdeführer fünf Tage vom Unterricht suspendiert und sich bei der Polizei beschwert. Der Beschwerdeführer sei daraufhin festgenommen, vier Tage inhaftiert und gefoltert worden. Nach seiner Freilassung habe er an der Schule seine Aktivitäten fortgesetzt. Dadurch sei er in das Blickfeld der türkischen Behörden geraten.

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Seine älteren Brüder seien bereits in der Schweiz als Flüchtlinge anerkannt worden. Nach der Flucht seiner Brüder sei die Familie unter Druck gesetzt worden. Man habe den Vater mitgenommen und misshandelt. Dies habe vor ca. 4 oder 5 Jahren stattgefunden (2006 oder 2007). Als kurdische Aleviten seien sie ständig diskriminiert worden. Hunderte Polizisten hätten im Jahr 2009 den Stadtteil von Istanbul XXXX zerstören wollen und sie seien von den Polizisten angegriffen worden. Bei den Krawallen habe es auf beiden Seiten Verletzte gegeben und ein paar Freunde des Beschwerdeführers seien bei der Flucht festgenommen und Bedrohungen, Beleidigungen und Gewalt ausgesetzt gewesen. Zuletzt habe es am XXXX 2010 einen Angriff auf ein Cem-Haus gegeben, wobei mit Steinen und Gasbomben geworfen worden sei. Dieser Angriff sei offiziell der PKK zugeschrieben worden. Dies habe aber nur der Aufhetzung der alevitischen und sunnitischen Kurden gedient. Am darauffolgenden Tag sei es wieder zu Demonstrationen gekommen, an denen der Beschwerdeführer teilgenommen habe. Es sei dabei wieder zu Krawallen gekommen und der Beschwerdeführer habe kurzzeitig zu seiner Schwester flüchten müssen, wo er eine Zeit lang geblieben sei. Von seinem Bruder habe er erfahren, dass Polizeibeamte bei ihm zu Hause nach dem Beschwerdeführer gefragt hätten. Sie hätten dabei die Familie bedroht und beleidigt. Der Beschwerdeführer habe bemerkt, dass er nun nicht mehr nach Hause zurückkehren könne und er sei somit mit Hilfe eines Schleppers ausgereist. Die Regierung versuche mit allen Mitteln, die Kurden zu unterdrücken. Ein gerichtliches Strafverfahren sei gegen den Beschwerdeführer noch nie eingeleitet worden. Es werde zwar nach dem Beschwerdeführer nicht gefahndet, aber es sei bei ihm zu Hause nachgefragt worden, weshalb er einen Ausweg nur mehr in der Flucht aus der Türkei gesehen habe.

Dem Beschwerdeführer wurden Länderfeststellungen zum Herkunftsland Türkei über die Themen allgemeine Lage, Minderheiten, Rückkehrfragen, Menschenrechte und Rechtsschutz ausgefolgt und ihm die Möglichkeit geboten, dazu binnen einer Frist von 2 Wochen Stellung zu nehmen. Der Beschwerdeführer hat keine Stellungnahme abgegeben mit der Erklärung, dass diese in Deutsch abgefasst seien.

3. Am 25.07.2011 wurde der Beschwerdeführer erneut beim Bundesasylamt einvernommen. Dabei legte der Beschwerdeführer einen Zeitungsausschnitt und eine Haftbestätigung betreffend einen gewissen " XXXX " bzw.

" XXXX " vor. Dazu erklärte er, dass es sich bei dem Verhafteten um seinen Onkel mütterlicherseits handle, der bei der PKK gewesen und 1993 erwischt worden sei. Beim Zeitungsausschnitt gehe es um den Sohn des Onkels mütterlicherseits " XXXX ". Dieser sei gefallen. Der Beschwerdeführer könne aber nicht angeben, wann das gewesen sei.

Bei den Krawallen und dem Angriff auf das Cem-Haus habe der Beschwerdeführer aktiv teilgenommen. Sie seien dabei von der Polizei angegriffen worden und sie hätten sich gegen die Angriffe mit Steinen und Knüppeln zur Wehr gesetzt.

4. Mit Bescheid des Bundesasylamtes vom 12.08.2011 wurde der Antrag auf internationalen Schutz bezüglich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten gemäß § 3 Abs. 1 iVm

§ 2 Abs. 1 z 13 AsylG abgewiesen (Spruchteil I). Ebenso wurde der Antrag gemäß

§ 8 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG bezüglich der Zuerkennung des Status eines subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Türkei abgewiesen (Spruchteil II) und der Beschwerdeführer gemäß § 10 Abs. 1 Z 2 AsylG aus dem österreichischen Bundesgebiet in die Türkei ausgewiesen (Spruchteil III).

Das Vorbringen des Beschwerdeführers wurde für nicht glaubhaft erachtet. Es sei darin kein fluchtauslösendes Ereignis erkennbar gewesen. Der Beschwerdeführer habe mit der Darstellung von vor Jahren stattgefundenen Ereignissen keine individuelle Verfolgung von ausreichender Intensität glaubhaft gemacht. Es handle sich dabei um Übertreibungen und Verallgemeinerungen. Die gegen den Beschwerdeführer in den Jahren 2002 und 2003 geführten polizeilichen Amtshandlungen hätten keine weiteren Konsequenzen für den Beschwerdeführer nach sich gezogen. Ein gerichtliches Strafverfahren sei gegen ihn nie eingeleitet worden. Es fehle dem Vorbringen, 2002 und 2003 verhaftet worden zu sein, die geforderte Eingriffsintensität und der zeitliche Zusammenhang zur Flucht. Spätere Eingriffe habe der Beschwerdeführer nicht mehr behauptet.

Abschiebungshindernisse seien nicht hervorgekommen. Er spreche die Muttersprache seines Landes, sei 25 Jahr alt, gesund, arbeitsfähig und arbeitswillig. Die Grundbedürfnisse seien in der Türkei gesichert und er habe außerdem Familienangehörige in der Türkei. Der Beschwerdeführer habe in Österreich keine Familienangehörigen sondern nur weitschichtige Verwandte, zu denen er keinen Kontakt und von denen er auch keine Unterstützung erhalten habe. Die Ausweisung sei daher gerechtfertigt.

5. Gegen diesen Bescheid brachte der Beschwerdeführer rechtzeitig das Rechtsmittel der Beschwerde ein. Der Bescheid wurde wegen inhaltlicher Rechtswidrigkeit, Mangelhaftigkeit des Verfahrens und unrichtiger bzw.

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fehlender Sachverhaltsfeststellung angefochten. Das Ermittlungsverfahren sei nicht ordnungsgemäß und vollständig geführt worden, es verstoße gegen § 18 AsylG. Die Beweiswürdigung sei fehlerhaft und rechtswidrig. Der Beschwerdeführer sei zu den Einzelheiten seines Fluchtweges nicht näher befragt worden. Die Erstbefragung sei äußert knapp gehalten worden und nicht unter angemessenen Bedingungen geschehen. Er habe keine Gelegenheit gehabt, seine Fluchtgründe ausführlich darzulegen. Es handle sich um eine Kurzbefragung und es sei nicht statthaft, dieser ein derart großes Gewicht im Hinblick auf seine Fluchtgründe beizumessen. Er habe immer konkrete gegen ihn gerichtete Verfolgungshandlungen geschildert, die eine ausreichende Eingriffsintensität hätten. Durch seine 2002 und 2003 erfolgten Verhaftungen sei der Beschwerdeführer bei den Behörden bereits registriert und stünde er daher unter Beobachtung. Das Ereignis vom XXXX 2010 sei sehr wohl ein fluchtauslösendes Ereignis und er habe lange überlegt und bis zuletzt versucht, in der Heimat zu verbleiben, wobei er sich bei seiner Schwester versteckt habe. Der türkische Staat unterdrücke alle Aktivitäten der Opposition, die zu Gunsten der kurdischen Bevölkerung durchgeführt werden. Die Gefahr der Unterstellung einer nicht erwünschten politischen Gesinnung habe die belangte Behörde nicht beachtet und um die Menschenrechte sei es in der Türkei nicht gut bestellt. Eine unterstellte politische Gesinnung reiche für die Asylrelevanz aus. Bei den von der belangten Behörde bezeichneten "einfachen Maßnahmen der Strafrechtspflege" handle es sich um Unterdrückungsmaßnahmen und Repressionen aufgrund der Volksgruppenzugehörigkeit. Probleme und Verfolgungen seiner Freunde und Verwandten könnten auch Auswirkungen auf den Beschwerdeführer selbst haben. Auch seine älteren Brüder seien bereits geflüchtet, was die belangte Behörde nicht beachtet habe. Es sei nicht richtig, dass sein Bruder "offensichtlich ohne größere Probleme" in seiner Heimat leben könne. Die Familie werde bedroht und beleidigt sowie unter Druck gesetzt.

Mit den vorgelegten Schriftstücken habe er aufzeigen wollen, welche Repressionen gegenüber seinen Verwandten bereits ergriffen wurden. Er beantrage die persönliche Einvernahme in einer Beschwerdeverhandlung.

6. Mit Schreiben vom 05.02.2013 hat der Asylgerichtshof den Parteien aktuelle Länderfeststellungen über das Herkunftsland Türkei zur Kenntnis gebracht und ihnen Gelegenheit gegeben, binnen Frist von 2 Wochen dazu Stellung zu nehmen. Gleichzeitig wurde der Beschwerdeführer aufgefordert, allfällige Änderungen seiner gesundheitlichen Situation und/oder persönlichen Verhältnissen, insbesondere auch allenfalls vorliegende integrationsfördernde Umstände bekannt zu geben. Das Bundesasylamt hat keine Stellungnahme abgegeben.

7. Mit Verfahrensanordnung vom 15.02.2013 wurde über Antrag des Beschwerdeführers vom 12.02.2013 der

"Verein Menschenrechte Österreich" als Rechtsberater zur Seite gestellt. Ebenfalls über Antrag des Beschwerdeführers wurde die Frist zur Abgabe der Stellungnahme bis 22.02.2013 verlängert. Bis zu diesem Datum wurde seitens des Beschwerdeführers keine Stellungnahme abgegeben. Mit neuem Antrag vom 01.03.2013 wurde abermals - mit Hinweis darauf, dass der Beschwerdeführer erst am 27.02.2013 einen Termin zur Rechtsberatung vereinbart habe - um Erstreckung der Frist um weitere 14 Tage ersucht. Zum Entscheidungszeitpunkt war noch immer keine Stellungnahme des Beschwerdeführers beim Asylgerichtshof eingelangt. Erst mit Eingabe vom 20.03.2013 wurden von seiner Rechtsberaterin eine Kursbestätigung der Caritas Flüchtlings- und Migrantenhilfe über den Besuch eines Kurses "Deutsch als Fremdsprache (Kurs 2)"

vom 04.09.2012 bis 12.11.2012 und eine Bestätigung des Berufsförderungsinstitutes Tirol über eine

"Deutschqualifizierung" (ohne nähere Ausführung) vom 23.12.2011 und eine Sieger-Urkunde anlässlich der Teilnahme des Beschwerdeführers an einem Fußballturnier am 20.06.2011 vorgelegt. Eine Stellungnahme oder Ausführungen zu den Unterlagen enthält die Eingabe nicht.

8. Mit Erkenntnis des Asylgerichtshofes vom 07.05.2013, Zl. E2 421.079-1/2011/16E, wurde die Beschwerde gemäß §§ 3, 8, 10 AsylG als unbegründet abgewiesen. Beweiswürdigend wurde ausgeführt, dass der Asylgerichtshof die behauptete Bedrohung aufgrund des unplausiblen Vorbringens des Beschwerdeführers für nicht glaubwürdig befinde. Zudem sei es nicht glaubhaft, dass der Beschwerdeführer im Falle seiner Rückkehr in die Türkei in eine ausweglose Lage geraten würde. Die Ausweisung stelle keinen ungerechtfertigten Eingriff in Art. 8 EMRK dar.

9. Das Erkenntnis des Asylgerichtshofes erwuchs mit 23.05.2013 in Rechtskraft. Nach dem Erhalt dieser negativen Entscheidung reist der Beschwerdeführer in die Schweiz.

10. Am 02.12.2013 wurde dem Übernahmeersuchen der Schweiz gemäß Art 16/1/e der Verordnung (EG) Nr.

343/2003 des Rates zugestimmt und der Beschwerdeführer am 27.01.2014 von der Schweiz nach Österreich rücküberstellt.

11. Im Zuge der Anhaltung am Flughafen Schwechat gemäß der Verordnung (EG)

Nr. 343/2003 des Rates stellte der Beschwerdeführer am 27.01.2014 erneut einen (gegenständlichen) Antrag auf internationalen Schutz.

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12. Bei der am 28.01.2014 durchgeführten Erstbefragung durch ein Organ des öffentlichen Sicherheitsdienstes brachte der Beschwerdeführer im Wesentlichen vor, dass er keine neuen Fluchtgründe habe und die alten Gründe noch immer aufrecht seien. Er habe Angst in der Türkei unterdrückt oder verhaftet zu werden. Er sei Sympathisant der Partei BDP.

13. Am 28.05.2015 wurde der Beschwerdeführer vor dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (BFA) niederschriftlich einvernommen. Dabei brachte er zusammengefasst vor, dass er als alevitischer Kurde nirgendwo Anerkennung gefunden habe. Mit türkischen Extremisten sei es auch zu Handgreiflichkeiten gekommen. Danach habe er an Demonstrationen teilgenommen, wobei er bei einer dieser Demonstrationen von der türkischen Polizei verhaftet und eine Woche lang in einem Gefängnis mit Schlagstöcken geschlagen und gefoltert worden sei. Der Beschwerdeführer, aber auch sein Vater, seien danach mehrmals von der Polizei mitgenommen und verhört worden. Sein Haus sei gekennzeichnet gewesen und sei er nach jeder Demonstration von der Polizei mitgenommen worden. Es sei von der Polizei versucht worden, sein Haus zu vernichten. Er habe nicht in Ruhe leben können. Im Fall einer Rückkehr in die Türkei sei er in Gefahr.

14. Mit Bescheid des BFA vom 03.12.2015, Zl. 13-810545507/14054402, wurde der Antrag auf internationalen Schutz bezüglich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten gemäß § 3 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG abgewiesen. Gemäß § 8 Abs. 1 iVm

§ 2 Abs. 1 Z 13 AsylG wurde der Antrag auf internationalen Schutz hinsichtlich der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Türkei abgewiesen. Ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen gemäß

§§ 57 und 55 AsylG wurde nicht erteilt. Gemäß § 10 Abs. 1 Z 3 AsylG iVm § 9 BFA-VG wurde gegen den Beschwerdeführer eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Abs. 2 Z 2 FPG erlassen und gemäß § 52 Abs. 9 FPG festgestellt, dass seine Abschiebung in die Türkei gemäß § 46 FPG zulässig sei. Gemäß § 55 Abs. 1 bis 3 FPG betrage die Frist für die freiwillige Ausreise 14 Tage ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung.

Das BFA traf darin aktuelle Feststellungen mit nachvollziehbaren Quellenangaben zur allgemeinen Lage in der Türkei.

Das BFA führte zusammengefasst aus, dass dem Beschwerdeführer bezüglich des Fluchtvorbringens die Glaubwürdigkeit versagt werde, zumal die Angaben zum Fluchtgrund widersprüchlich sowie nicht schlüssig gewesen seien.

Es hätten sich auch keine Hinweise auf einen Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen gemäß § 57 AsylG ergeben und stelle die Rückkehrentscheidung auch keinen ungerechtfertigten Eingriff in Art. 8 EMRK dar.

15. Mit Verfahrensanordnungen des BFA vom 03.12.2015 wurde dem Beschwerdeführer gemäß § 52 Abs. 1 BFA-VG amtswegig ein Rechtsberater zur Seite gestellt und gemäß § 52a Abs. 2 BFA-VG darüber informiert, dass er verpflichtet sei ein Rückkehrberatungsgespräch in Anspruch zu nehmen.

16. Der Bescheid des BFA vom 03.12.2015, Zl. 13-810545507/14054402, wurde dem Beschwerdeführer am 09.12.2015 ordnungsgemäß durch Hinterlegung zugestellt, wogegen am 10.12.2015 fristgerecht Beschwerde erhoben wurde.

Der Beschwerdeführer brachte vor, dass er glaube, sich nicht deutlich ausgedrückt zu haben. Er sei gegen seinen Willen dazu gebracht worden, seine Familie, seine Verwandten und seine Ausbildung zurück zu lassen, weil er eine kurdisch-alevitische Herkunft habe. Er sei in seiner Heimat diskriminiert worden. Sein Leben sei auf dem Spiel gestanden und wäre er im Falle seiner Rückkehr grenzenloser Grausamkeit, Folter und dem Tod ausgesetzt. Seine bisherigen Aussagen habe er mit bestem Wissen und Ehrlichkeit verfasst und liege die Unschlüssigkeit möglicherweise daran, dass zwischen den Aussagen fünf Jahre liegen würden. Zudem sei er sich nicht sicher, ob die deutsche Übersetzung seiner Aussage mit seiner Aussage übereinstimme.

17. Am 19.01.2016 führte das Bundesverwaltungsgericht in der Sache des Beschwerdeführers eine öffentlich mündliche Verhandlung durch. In dieser wurde dem Beschwerdeführer einerseits Gelegenheit gegeben, neuerlich seine Ausreisemotivation umfassend darzulegen sowie die aktuelle Lageentwicklung in der Türkei anhand aktueller Länderdokumentationsunterlagen erörtert.

II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:

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1. Sachverhalt:

Der Beschwerdeführer ist Staatsangehöriger der Türkei, kurdischer Abstammung und alevitischen Glaubens. Er stammt aus XXXX und lebte seit 1995 in Istanbul, wo er bis zur Matura die Schule besuchte. Eine Ausbildung hat der Beschwerdeführer danach nicht absolviert und war er im Textilbetrieb seines Bruders tätig. Seien Militärdienst hat der Beschwerdeführe bereits abgeleistet.

Der Beschwerdeführer ist ledig und hat keine Kinder. Seine Eltern ein Bruder sowie eine Schwester leben nach wie vor in der Türkei. In Österreich hält sich eine Schwester des Beschwerdeführers sowie mehrere Onkel und Cousins auf. Ein Bruder sowie zwei Schwester leben in der Schweiz.

Der Beschwerdeführer war von ungefähr Mai 2013 bis zu seiner Rücküberstellung nach Österreich durch die schweizerischen Behörden am 27.01.2014 in der Schweiz aufhältig.

Der Beschwerdeführer lebt alleine in einer Pension und finanziert sich seinen Lebensunterhalt durch die Grundversorgung. Er ist nicht berufstätig und verbringt die meiste Zeit zu Hause, wo er fernsieht und Zeitungen liest. Ab und zu besucht er Freunde und spielt Fußball. Der Beschwerdeführe ist an der XXXX inskribiert und nahm dort im Rahmen eins Programmes für Asylwerber an verschiedenen Kursen (Kultur verstehen, Grafiktechniken, wissenschaftliches Arbeiten) teil.

Der Beschwerdeführer besuchte mehrere Deutschkurse und spricht auf einfachem Niveau die deutsche Sprache.

Der Beschwerdeführer ist gesund und strafrechtlich unbescholten.

Zur Lage in der Türkei wird festgestellt:

I. Allgemeine politische Lage

1. Überblick

Die Türkei ist eine parlamentarische Republik und laut Art. 2 ihrer Verfassung ein demokratischer, laizistischer und sozialer Rechtsstaat auf der Grundlage öffentlichen Friedens, nationaler Solidarität, Gerechtigkeit und der Menschenrechte sowie den Grundsätzen ihres Gründers Atatürk besonders verpflichtet. Staatsoberhaupt mit primär repräsentativer Funktion ist der Staatspräsident, die politischen Geschäfte führt der Ministerpräsident. Die Amtszeit des 2014 erstmals direkt vom Volk gewählten Staatsoberhauptes beträgt fünf Jahre, eine einmalige Wiederwahl ist möglich.

Das seit 1950 bestehende Mehrparteiensystem ist in Art. 68 der Verfassung festgeschrieben. Die letzte Parlamentswahl am 07.06.2015, die als frei und fair galt, brachte der "Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung"

(AKP) des früheren Ministerpräsidenten und heutigen Staatspräsidenten Erdogan rund 41 Prozent der Stimmen.

Nach gescheiterten Koalitionsverhandlungen steht die Türkei vermutlich vor Neuwahlen. Damit verfehlte die AKP die für eine Verfassungsänderung notwendige 2/3- bzw. 3/5-Mehrheit (mit anschließendem Referendum).

Ein im Oktober 2011 gestarteter Prozess zur Ausarbeitung einer neuen Verfassung gemeinsam mit den anderen im Parlament vertretenen Parteien war bereits im Dezember 2013 gescheitert.

Die Gewaltenteilung wird in der Verfassung durch Art. 7 (Legislative), 8 (Exekutive) und 9 (Judikative) festgelegt. Laut Art. 9 erfolgt die Rechtsprechung durch unabhängige Gerichte "im Namen der türkischen Nation". Die in Art. 138 der Verfassung geregelte Unabhängigkeit der Richter ist durch die umfassenden Kompetenzen des in Disziplinar- und Personalangelegenheiten dem Justizminister unterstellten Hohen Rates der Richter und Staatsanwälte (HSYK) in Frage gestellt. Der Rat ist u.a. für Ernennungen, Versetzungen und Beförderungen zuständig.

Rechtsmittel gegen Entscheidungen des Hohen Rates sind seit 2010 nur bei Entlassungen von Richtern und Staatsanwälten vorgesehen. Im Februar 2014 wurden im Nachgang zu den Korruptionsermittlungen gegen Mitglieder der Regierung Erdogan Änderungen im Gesetz zur Reform des HSYK vorgenommen. Sie führen zur Einschränkung der Unabhängigkeit der Justiz mit Übertragung von mehr Kompetenz an den Justizminister, der gleichzeitig auch Vorsitzender des Rates ist. Durch die Kontrollmöglichkeit des Justizministers wird die Exekutive im HSYK deutlicher zu spüren sein. Seitdem kam es zu Hunderten von Versetzungen von Richtern und Staatsanwälten.

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Im ersten Halbjahr 2015 wurde auch gegen Richter und Staatsanwälte ermittelt, die als mutmaßliche Gülen- Anhänger illegale Abhörmaßnahmen angeordnet haben sollen.

Das Verfassungsgericht (Anayasa Mahkemesi) prüft die Vereinbarkeit von einfachem Recht mit der Verfassung.

Seit September 2012 besteht für alle Staatsbürger die Möglichkeit einer Individualbeschwerde beim Verfassungsgerichtshof. Der Verwaltungsgerichtshof (Danistay) ist Revisionsinstanz der Verwaltungsgerichte.

Revisionsinstanz aller Zivil- und Strafgerichte ist der Kassationsgerichtshof (Yargitay). Aufgrund seiner großen Überlastung soll eine Berufungsinstanz eingeführt werden, wenn Infrastruktur und Personal zur Verfügung stehen. Im Bereich der Strafjustiz wurden die 1984 insbesondere für terroristische Straftaten eingerichteten

"Staatssicherheitsgerichte" (Devlet Güvenlik Mahkemesi - DGM) 2004 abgeschafft. Die an ihrer Stelle gegründeten "Gerichte für schwere Straftaten mit Sonderbefugnis" wurden nun durch das 5. Justizreformpaket aufgelöst und die laufenden Verfahren ordentlichen Strafgerichten übertragen. Ihre sachliche Zuständigkeit übernehmen fortan neue regionale "Gerichte für schwere Straftaten" (Agir Ceza Mahkemeleri).

2. Betätigungsmöglichkeiten von Menschenrechtsorganisationen

Menschenrechtsorganisationen können wie andere Vereinigungen gegründet und betrieben

werden, unterliegen jedoch (wie alle Vereine) nach Maßgabe des Vereinsgesetzes der rechtlichen Aufsicht durch das Innenministerium. Ihre Aktivitäten werden von Sicherheitsbehörden und Staatsanwaltschaften beobachtet.

Die Vereine sind nach wie vor des Öfteren (Ermittlungs-) Verfahren mit zum Teil fragwürdiger rechtlicher Grundlage ausgesetzt, (z.B. kürzliche Anordnung einer unverhältnismäßig hohen Geldstrafe gegen die Menschenrechtsstiftung TIHV wegen angeblicher Verletzung der Sozialabgabepflichten). Viele dieser Verfahren enden mit Freisprüchen.

Im Juni 2012 trat an die Stelle des bisherigen Präsidiums für Menschenrechte eine neue staatliche Menschenrechts-Institution (Insan Haklari Kurumu). Die neue Institution besteht aus elf Mitgliedern, die vom Ministerrat (7), Staatspräsidenten (2), Hohen Erziehungsrat (1) und den Vorsitzenden der Anwaltskammern (1) gewählt wurden. Bislang ist sie formell dem Amt des Ministerpräsidenten unterstellt, was Zweifel an ihrer Unabhängigkeit nährt. Seit Juni 2012 verfügt die Türkei auch über das in der Öffentlichkeit bislang kaum bekannte Amt eines Ombudsmanns mit etwa 200 Mitarbeitern. Beschwerden können auf Türkisch, Englisch, Arabisch und Kurdisch eingereicht werden. Ferner verfügt das Parlament über einen ständigen Ausschuss für Menschenrechte sowie einen Petitionsausschuss, die sich allerdings kaum mit Fragen wie Presse-, Meinungs-, Versammlungs- und Religionsfreiheit befassen.

3. Rolle und Arbeitsweise der Sicherheitsbehörden und des Militärs

Die Polizei untersteht dem Innenministerium und übt ihre Tätigkeit in den Städten aus. Sie hat, wie auch der nationale Geheimdienst MIT (Millî Istihbarat Teskilâti), der sowohl für die Inlands- wie für die Auslandsaufklärung zuständig ist, unter der AKP-Regierung an Einfluss gewonnen.

Der Einfluss der Polizei wird seit den Auseinandersetzungen mit der Gülen-Bewegung sukzessive von der AKP zurückgedrängt (massenhafte Versetzungen, Suspendierungen vom Dienst und Strafverfahren). Der MIT ist die Institution, die am meisten Einfluss gewinnen konnte. (siehe auch Abschnitt II.1.1.)

Die Jandarma ist für die ländlichen Gebiete und Stadtrandgebiete zuständig, rekrutiert sich aus Wehrpflichtigen und untersteht dem Innenminister. Polizei und Jandarma sind zuständig für innere Sicherheit, Strafverfolgung und Grenzschutz.

Die politische Bedeutung des Militärs ist in den letzten Jahren stark zurückgegangen, die AKPRegierung konnte seit Sommer 2011 bei einer Reihe von Entscheidungen das Primat der Politik unterstreichen. Die türkischen Militärs verstehen sich mehrheitlich weiterhin als Hüter der von Staatsgründer Kemal Atatürk begründeten Traditionen und Grundsätze, besonders des Laizismus und der Einheit der Nation (v. a. gegen kurdischen Separatismus).

II. Asylrelevante Tatsachen

1. Staatliche Repressionen

Es gibt grundsätzlich keine Anhaltspunkte für eine systematische Verfolgung bestimmter Personen oder Personengruppen allein wegen ihrer Zugehörigkeit zu einer Rasse, Religion, Nationalität, sozialen Gruppe oder

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allein wegen ihrer politischen Überzeugung. Allerdings hat sich im Zuge der zunehmenden politischen Polarisierung und insbesondere wegen des Konflikts zwischen der AKP und der Gülen-Bewegung und der erneuten Eskalation des Konflikts mit der PKK der Druck auf regierungskritische Kreise deutlich erhöht. Vor diesem Hintergrund kommt es zu staatlichen repressiven Maßnahmen in unterschiedlichen Bereichen (siehe nachfolgende Abschnitte).

1.1. Politische Opposition

Politisch Oppositionelle können sich prinzipiell frei und unbehelligt am politischen Prozess beteiligen. Das letzte Verbot gegen eine politische Partei wurde 2009 gegen die pro-kurdische DTP (Demokratik Toplum Partisi) verhängt, deren Nachfolgepartei BDP (Baris ve Demokrasi Partisi) jedoch spätestens mit Beginn des Dialogprozesses zwischen der Regierung und PKK-Chef Öcalan Ende 2012 als etablierte Partei im türkischen Parlament anerkannt wird. Ende April 2014 traten die BDP-Parlamentsabgeordneten mehrheitlich zur Schwesterpartei HDP (Halklarin Demokratik Partisi, Demokratische Partei der Völker) über, die als

"Dachpartei" weitere linksgerichtete Organisationen umfasst und über das kurdische Spektrum hinaus weitere Wählerschichten ansprechen soll. Für die Regierung war die HDP Verhandlungspartner im Lösungsprozess.

Die HDP/ BDP ist aufgrund der engen Verbindungen insbesondere ihrer Basis zur PKK (Partiya Karkerên Kurdistan, Arbeiterpartei Kurdistans, auch in Deutschland als ausländische Terrororganisation eingestuft) von der Strafverfolgung gegen deren politische Dachorganisation KCK (Koma Ciwaken Kürdistan, Union der Gemeinschaften Kurdistans) betroffen. In diesem Rahmen wurden seit April 2009 nach Schätzungen unabhängiger Beobachter (u.a. der Europäischen Union) über 2.000 Personen in allen Landesteilen und insbesondere im kurdisch geprägten Südosten verhaftet und z.T. bereits verurteilt, darunter auch zahlreiche Bürgermeister und andere Mandatsträger der BDP. Den Beschuldigten wird vorgeworfen, Mitglieder der KCK und damit einer terroristischen Vereinigung zu sein (Strafrahmen: 15 Jahre bis lebenslänglich). Die KCK hat nach Auffassung der türkischen Behörden zum Ziel, von der PKK dominierte quasi-staatliche Parallelstrukturen (z.B. Sicherheit, Wirtschaft) aufzubauen. Das umfangreichste Verfahren gegen 151 Angeklagte in Diyarbakir hat 2010 begonnen und dauert weiterhin an. Die Vorwürfe beruhen nach Ansicht der Verteidigung zum großen Teil auf illegalen Telefonüberwachungen und nicht stichhaltigen Beweisen. Alle Angeklagten wurden zwischenzeitlich aufgrund der Justizreformpakete aus der Untersuchungshaft entlassen. Bei diversen anderen Verhaftungswellen im Südosten des Landes sowie in den Ballungszentren Istanbul, Ankara und Izmir wurden seit Mitte 2011 auch Journalisten, Akademiker, Gewerkschafter und Rechtsanwälte inhaftiert. Aktuellen Erkenntnissen zufolge befinden sich in diesem Zusammenhang derzeit noch 20 bis 25 Journalisten in Haft.

Im Zuge der Auseinandersetzung zwischen den ehemaligen politischen Partnern AKP und Gülen-Bewegung zielt die Regierung Davutoglu auf eine Eliminierung paralleler Strukturen der Gülen-Anhänger in der staatlichen Verwaltung ab. Der Schwerpunkt liegt bisher auf dem Polizei und Justizbereich mit massenhaften Versetzungen und umstrittenen Gesetzesvorhaben.

Jüngste Eskalationen sind die Ermittlungen des Hohen Rates für Richter und Staatsanwälte

(HSYK) gegen ca. 100 angeblich in den "Parallelstaat" eingebundene Richter und Staatsanwälte sowie eine Kontroverse über die versuchte Freilassung aus der Untersuchungshaft von 79 seit Dezember 2014 inhaftierten, aber bislang nicht angeklagten Gülen-Anhängern durch ein mutmaßlich von Gülen gesteuertes Gericht. Die Richter, die die Freilassung verfügt hatten, wurden kurz danach durch den HSYK von ihren Ämtern suspendiert.

StP Erdogan scheint weiterhin als treibende Kraft hinter den Auseinandersetzungen mit der Gülen-Bewegung zu stehen. Er sprach in diesem Zusammenhang erneut von "Vernichtung". Der enge Erdogan-Vertraute und stellvertretende

Ministerpräsident Akdogan forderte von den Oppositionsparteien Beteiligung am Kampf gegen die Gülen- Bewegung und sprach ebenfalls in drastischen Worten: "Es reiche nicht aus, der Eidechse den Schwanz abzureißen, man müsse den Kopf zerquetschen." Nach einer Welle von Versetzungen sollen Gülen-Anhänger in der Justiz, die bis 2013 von der AKP-Regierung zu Tausenden als Gegengewicht zu der früher von den

"Kemalisten" geprägten Justiz eingestellt worden waren, nunmehr gänzlich aus ihren Ämtern entfernt werden.

Die mit diesen Vorgängen noch sichtbarer werdende Politisierung der Justiz ist unter rechtsstaatlichen Gesichtspunkten besorgniserregend.

Diese Entwicklung wird sich negativ auf die bereits jetzt geringe Effektivität der Justiz auswirken, die wegen der überlangen Verfahrensdauer in vielen Prozessen dringend auf mehr qualifizierte Juristen angewiesen ist. Auch das traditionell gering ausgeprägte Vertrauen der Gesellschaft in die Justiz leidet unter der anhaltenden Auseinandersetzung innerhalb der dritten Gewalt.

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1.2. Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit, Meinungs- und Pressefreiheit

Die türkische Verfassung garantiert Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit, Meinungs- und

Pressefreiheit, in der Praxis sind diesen Rechten aber Grenzen gesetzt, die zunehmend enger werden. Die Freiheit, auch ohne vorherige Genehmigung unbewaffnet und gewaltfrei Versammlungen abzuhalten, unterliegt Einschränkungen, soweit Interessen der öffentlichen Sicherheit oder Ordnung, die Vorbeugung von Straftaten bzw. die allgemeine Gesundheit oder Moral betroffen sind.

In der Praxis werden bei pro-kurdischen oder politischen Versammlungen des linken Spektrums (z.B.

marxistisch-leninistisch ausgerichteter Gruppierungen) regelmäßig dem Veranstaltungszweck zuwiderlaufende Auflagen bezüglich Ort und Zeit gemacht und zum Teil aus sachlich nicht nachvollziehbaren Gründen Verbote ausgesprochen. Betroffen von Versammlungsverboten und Einschränkungen der Meinungsfreiheit sind auch immer wieder Gewerkschaftsmitglieder. Fälle von massiver Gewalt seitens der Sicherheitskräfte, polizeiliche Ingewahrsamnahmen und strafrechtlichen Ermittlungen bei der Teilnahme an nicht genehmigten oder durch Auflösung unrechtmäßig werdenden Demonstrationen kommen nicht selten vor. Nicht genehmigte Versammlungen werden häufig unter Einsatz von Wasserwerfern, Tränengas und Schlagstöcken aufgelöst.

Regierungskritische Demonstrationen nach den "Gezi-Park-Protesten" im Sommer 2013 wurden vielfach aufgelöst.

Die extensive Auslegung des unklar formulierten § 220 tStGB (kriminelle Vereinigung) durch

den Obersten Strafgerichtshof führte zur Kriminalisierung von Teilnehmern an Demonstrationen, bei denen auch PKK-Symbole gezeigt wurden bzw. zu denen durch die PKK aufgerufen wurde, unabhängig davon, ob dieser Aufruf bzw. die Nutzung dem Betroffenen bekannt war. Sie mussten mit einer Verurteilung wegen Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung rechnen.

Mit dem 3. Justizreformpaket wurde die Möglichkeit zu deutlichen Strafmilderungen und Haftaussetzung für Nichtmitglieder einer Terrororganisation geschaffen und mit dem 4. Justizreformpaket die Doppelbestrafung nach ATG und StGB abgeschafft.

Das 2004 novellierte Vereinsgesetz erlaubt die Gründung von Vereinen auf der Grundlage der Zugehörigkeit u.

a. zu einer Religion oder Volksgruppe innerhalb des verfassungsrechtlichen Rahmens. Türkisch muss nur noch in der offiziellen Korrespondenz des Vereins mit staatlichen Institutionen benutzt werden. (siehe auch Abschnitt 1.8.).

Die Meinungsfreiheit wird durch die Anwendung verschiedener Gesetze (insbesondere Strafgesetzbuch, Anti- Terror-Gesetz, auch: jüngst in Teilen verabschiedetes Sicherheitspaket) eingeschränkt. Mit den Änderungen im Anti-Terror-Gesetz und Strafgesetzbuch im Rahmen des 4. Justizreformpakets vom 11.04.2013 werden Meinungsdelikte und Veröffentlichungen nur dann noch strafrechtlich verfolgt, wenn sie Gewalt oder Drohungen einer terroristischen bzw. kriminellen Vereinigung rechtfertigen, loben oder explizit dazu aufrufen.

Durch Änderung des Artikels 250 tStGB ("Loben einer Straftat oder eines Straftäters") können Äußerungen zur PKK (z.B. Bezeichnung der PKK als "Guerilla"), zum PKK-nahen Fernsehsender ROJ-TV oder zum inhaftierten Abdullah Öcalan ("Verehrter Herr Öcalan") nur noch strafrechtlich verfolgt werden, wenn sie eine Gefahr für die öffentliche Ordnung darstellen.

Die Möglichkeit, sich frei im Internet zu äußern, ist in mehrfacher Hinsicht beschränkt. Zunächst wurde durch das Gesetz zur Regulierung von Veröffentlichungen im Internet und zur Bekämpfung der Internetkriminalität"

(Gesetz Nr. 5651 vom 04.05.2007) ein rechtlicher Rahmen zur Einschränkung geschaffen. Obwohl nach Angaben von Menschenrechtsorganisationen bereits der Zugang zu mehr ca. 80.000 Internetseiten gesperrt ist, wurde im Zuge der Korruptionsvorwürfe gegen die Regierung im Februar 2014 ein Gesetz verabschiedet, das der Telekommunikationsbehörde nun auch die Möglichkeit gibt, einzelne Sperrungen (anders als zuvor) vorübergehend ohne richterlichen Beschluss durchzuführen. Im jüngst verabschiedeten Sicherheitspaket enthaltene Regelungen gehen darüber noch hinaus.

Im März 2014 erfolgte auf dieser Grundlage nacheinander die Sperrung von Twitter und YouTube. In beiden Fällen wurde die Entscheidung vor Gericht angefochten und vom zuständigen Gericht (in Teilen) aufgehoben.

Die Umsetzung dieses Beschlusses durch die Telekommunikationsbehörde erfolgt(e) allerdings äußerst schleppend. Hinzu kommt, dass führende Regierungsvertreter, allen voran der damalige MP selbst, in öffentlichen Äußerungen deutlich machen, dass die Bedeutung des Internets für die Verwirklichung elementarer Grundrechte der türkischen Bevölkerung nicht gesehen wird.

(9)

Im Freedom House Bericht - Freedom on the Net 2014- wird die Türkei als "partly free" bewertet (anders als im Freedom of Press Index der gleichen Organisation, hier wird sie als "not free" eingestuft). Das Internet, vor allem Facebook und Twitter sind in der Türkei ein wesentlicher Bestandteil des politischen öffentlichen Diskurses. Durch die Gezi-Ereignisse wurde es zudem in hohem Maß auch zum Mittel der politischen Auseinandersetzung. Die Regierung ging gegen Facebook- und Twitter-Nutzer nach den Vorgängen um die Gezi-Proteste vor. Es wurden Dutzende festgenommen, in vielen Fällen Strafverfahren eingeleitet. Da es sich in diesen Fällen nicht um Journalisten, in vielen Fällen nicht einmal um Aktivisten handelt, sondern um "ganz normale" Bürger, wird dieses Vorgehen als eine noch weiter gehende Einschränkung der Meinungsfreiheit auch im Privaten empfunden.

Im Vergleich zur Situation vor 2002 berichtet ein Teil der Presse zwar grundsätzlich frei und

kritisch, insbesondere auch über die Regierung und Menschenrechtsverstöße. Insgesamt betrachtet gibt es aber ein tief reichendes Strukturproblem in der türkischen Medienlandschaft (Medien gehören oft zu größeren Holdings, die auch an staatlichen Ausschreibungen teilnehmen). Dies führt in vielen Fällen zu dem, was die EU- Kommission in ihrem Fortschrittsbericht 2013 "widespread self-censorship by media owners and journalists"

nannte. Hinzu kommt, dass führende türkische Politiker immer wieder Medien, aber auch einzelne Journalisten öffentlich verbal angreifen, sowie eine immer noch instrumentalisierte Verwaltung bzw. Justiz (s. z.B.

Steuerverfahren gegen den Unternehmer Aydin Dogan - die Dogan-Medien-Gruppe galt lange Zeit als wichtigste regierungskritische Stimme). In der im Januar 2015 veröffentlichten Rangliste zur Pressefreiheit, dem sogenannten "Press Freedom Index", der Organisation Reporter ohne Grenzen (RoG) belegt die Türkei Platz 149 - zum Vergleich: 2014: 154; 2013: Platz 154; 2012: Platz 148,

2009: Platz 122. Ausschlaggebend für die Platzierung ist u.a. die Zahl der inhaftierten Journalisten. RoG gibt an, dass allein seit Beginn des Jahres 2015 drei Journalisten inhaftiert wurden - die Gesamtzahl wird z.B. vom Committee to Protect Journalists mit 7 angegeben (Stand: Dezember 2014), wobei diese Zahl weder klar zu benoch klar zu widerlegen ist. Andere Schätzungen gehen von zum Teil deutlich höheren Zahlen aus.

Die Inhaftierung von Journalisten ist dabei Ausdruck einer verbreiteten Kultur der politisierten Justiz:

Missliebige Personen, darunter eben auch Journalisten, werden im Rahmen von Großverfahren (so jüngst gegen die Gülen-Bewegung) mit Anklagen überzogen, ohne dass es eine ernsthafte Möglichkeit gäbe, dagegen vorzugehen. Hier wird trotz aller generellen Verbesserungen nach wie vor oftmals auf Art. 314 (Mitgliedschaft in einer bewaffneten Organisation) zurückgegriffen.

Unverhältnismäßig lange Untersuchungshaftzeiten sind dabei nicht selten. In anderen Fällen stützt sich die Justiz v.a. auf Art. 215 ("Loben von Straftaten oder -tätern"), Art. 125 ("Beleidigung"), Art. 285 (Versuch der Beeinflussung der Justiz) oder Art. 288 tStGB (Verletzung der Geheimhaltungspflicht von Ermittlungen). Über die Kurdenthematik wird offen und über die Armenierfrage immer häufiger und kontroverser berichtet. Auch die Möglichkeiten zur Kritik am Militär haben sich deutlich verbessert. Weiterhin werden mit Verweis auf die

"Bedrohung der nationalen Sicherheit" oder "Gefährdung der nationalen Einheit" Publikationsverbote ausgesprochen. Dies trifft - teilweise wiederholt - vor allem kurdische oder linke Zeitungen. Auch der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) stellte in seiner Entscheidung "Ürper und andere./.Türkei" von 2009 Verstöße der Regierung gegen Art. 10 der EMRK - Meinungsfreiheit - fest und sprach den Klägern Schadensersatz zu. Gegenstand des Verfahrens waren die Schließung verschiedener Zeitungen (Ülkede Özgür Gündem, Gündem, Güncel, Gercek Demokrasi) und die strafrechtliche Verfolgung von Herausgebern oder leitenden Mitarbeitern.

1.3. Minderheiten

Die Türkei erkennt Minderheiten als Gruppen mit rechtlichem Sonderstatus grundsätzlich nur unter den Voraussetzungen des Lausanner Vertrags von 1923 an, der "türkischen Staatsangehörigen, die nichtmuslimischen Minderheiten angehören, (...) die gleichen gesellschaftlichen und politischen Rechte wie Muslimen" (Art. 39) garantiert. Weiterhin sichert er den nichtmuslimischen Minderheiten das Recht zur

"Gründung, Verwaltung und Kontrolle (...) karitativer, religiöser und sozialer Institutionen und Schulen sowie anderer Einrichtungen zur Unterweisung und Erziehung" zu (Art. 40). Nach offizieller türkischer Lesart beschränkt sich der Schutz allerdings auf drei Religionsgemeinschaften: die griechisch-orthodoxe (ca. 3.000), die armenisch-apostolische Kirche (ca. 60.000) und die jüdische Gemeinschaft (ca. 27.000 Mitglieder). Nicht umfasst sind z. B. Syrisch-Orthodoxe, Katholiken und Protestanten. Allerdings entschied mit dem 13.

Verwaltungsgericht Ankara am 18.06.2013 nun erstmals ein türkisches Gericht, dass auch aramäische (hier:

syrisch-orthodoxe) Türken und ihre Zusammenschlüsse von den Rechten des Lausanner Vertrages profitieren können. Konkret ging es um das Recht, eigene Schulen und Kindergärten zu betreiben, die auch Aramäisch unterrichten. [Zur Lage religiöser Minderheiten vgl. auch die Ausführungen zu 1.4.] Neben den offiziell anerkannten religiösen Minderheiten gibt es folgende ethnische Gruppen: Kurden (ca. 13-15 Mio.), Kaukasier (6

(10)

Mio., davon 90% Tscherkessen), Roma (zwischen 500.000 und 5 Mio., je nach Quelle), Lasen (zwischen 750.000 und 1,5 Mio.) und andere Gruppen in kleiner und unbestimmter Anzahl (Araber, Bulgaren, Bosnier, Pomaken, Tataren und Albaner). Türkische Staatsbürger kurdischer und anderer Volkszugehörigkeiten sind aufgrund ihrer Abstammung keinen staatlichen Repressionen unterworfen. Aus den Ausweispapieren, geht in der Regel nicht hervor, ob ein türkischer Staatsbürger kurdischer Abstammung ist (Ausnahme: Neugeborenen dürfen seit 2003 kurdische Vornamen gegeben werden). Der private Gebrauch des Kurdischen (Kurmanci) und der weniger verbreiteten Sprache Zaza ist in Wort und Schrift keinen Restriktionen ausgesetzt, der amtliche Gebrauch ist allerdings eingeschränkt. Unterricht in kurdischer Sprache an öffentlichen Schulen war bis 2012 nicht erlaubt. Die türkische Regierung hat im Schuljahr 2012/2013 jedoch begonnen, bei ausreichender örtlicher Nachfrage Unterricht in Kurmanci und Zaza als Wahlpflichtfach "Lebendige Sprachen und Mundarten" an staatlichen und religiösen Schulen anzubieten. Viele Familien boykottieren das Wahlpflichtfach jedoch, weil sie Unterricht in Kurdisch gleichberechtigt als Muttersprache mit Türkisch fordern. Zudem steht das Fach in Konkurrenz zu den religiösen Wahlpflichtfächern. Das am 02.03.2014 vom Parlament verabschiedete

"Demokratisierungs-Paket" ermöglicht in einem darüber hinausgehenden Schritt muttersprachlichen Unterricht und damit auch Unterricht in kurdischer Sprache an Privatschulen. Außerdem wurde die Möglichkeit geschaffen, dass Dörfer im Südosten ihre kurdischen Namen zurückerhalten. Die verfassungsrechtliche Festschreibung von Türkisch als einziger Nationalsprache bleibt jedoch erhalten und erschwert die Inanspruchnahme öffentlicher Dienstleistungen durch Kurden und Angehörige anderer Minderheiten, für die Türkisch nicht Muttersprache ist.

Seit 2009 sendet der staatliche TV-Sender TRT 6 ein 24-Stunden-Programm in den Sprachen Kurmanci (Kurdisch) und Zaza. Zudem wurden alle bisher geltenden zeitlichen Beschränkungen für Privatfernsehen in

"Sprachen und Dialekten, die traditionell von türkischen Bürgern im Alltag gesprochen werden" aufgehoben.

Der gewalttätige Konflikt zwischen türkischen Sicherheitskräften und kurdisch-nationalistischen Kämpfern der PKK, dem seit 1984 über

35.500 Personen zum Opfer fielen und aufgrund dessen fast 400.000 Menschen ihre Heimatprovinzen im Südosten verließen, ist einem seit Anfang 2013 andauernden Waffenstillstand gewichen. Am 21.03.2013 rief der inhaftierte PKKChef Öcalan in einer auf der zentralen kurdischen Neujahrskundgebung in Diyarbakir verlesenen Grußbotschaft zu einem Waffenstillstand und Abzug der PKK-Kämpfer aus der Türkei auf. Während der Waffenstillstand bis dato grundsätzlich andauert, stoppte die PKK den Abzug Anfang September 2013 mit der Begründung, die Regierung habe anders als zugesichert keinerlei substantielle rechtliche Zugeständnisse an die Kurden gemacht. Abgesehen von Kritik nationalistischer Kreise stößt der Lösungsprozess trotzdem weiterhin auf grundsätzliche Zustimmung in der türkischen Öffentlichkeit. Offen waren noch die Frage der Waffenniederlegung durch die PKK sowie die Frage, ob die Regierung zu weitergehenden Zugeständnissen bereit ist. Im Anschluss an das mutmaßlich durch die Terrormiliz ISIS verübte Attentat von Suruç am 20.7.2015 mit 32 Toten kam es allerdings zu einer neuen Eskalationsdynamik, die zu nahezu täglichen Anschlägen und Auseinandersetzungen zwischen Sicherheitskräften und PKK führte. Mit Stand 14.08.2015 führt das türkische Militär Luftschläge gegen PKK-Stellungen im Nordirak und in der Südosttürkei. [Zur Behandlung kurdischer Parteien s.a. Abschnitt II.1.1.]

Der Menschenrechtskommissar des Europarats, Thomas Hammarberg, hat bereits in einem Bericht von 2009 auf die schwierige Lage der Roma in der Türkei hingewiesen, deren Zahl Schätzungen zufolge zwischen 500.000 und 5 Millionen liegt. Ungeachtet der schlechten empirischen Datenlage zu den Roma sind erhebliche Diskriminierungen u.a. auf den Gebieten Bildung, Beschäftigung, Gesundheit und Wohnen unbestritten. Die türkische Regierung arbeitet derzeit an einem Aktionsplan zur Inklusion von Roma, der im Mai 2015 vorgestellt werden sollte. Es ist derzeit nicht bekannt, wann mit der Beendigung des Berichts zu rechnen sein wird.

1.4. Religionsfreiheit

Die Verfassung sieht die positive und negative Religions- und Gewissensfreiheit vor (Art. 24).

Sie gilt - wie alle Grundrechte - in Verbindung mit Art. 14, der den Missbrauch der Grundrechte regelt (insbesondere "Gefährdung der unteilbaren Einheit von Staatsgebiet und Staatsvolk, des Laizismus oder der Demokratie"). Die individuelle Religionsfreiheit ist weitgehend gewährt; individuelle nicht-staatliche Repressionsmaßnahmen und staatliche Diskriminierungen (z.B. bei Anstellungen im öffentlichen Dienst) kommen vereinzelt vor. Fälle von Muslimen, die zum Christentum konvertiert sind, sind besonders aus den großen

Städten bekannt. Rechtliche Hindernisse bei Übertritt bestehen nicht, allerdings werden Konvertiten in der Folge oft auch von ihren eigenen Familien ausgegrenzt. Nach wie vor begegnet die große muslimische Mehrheit sowohl der Hinwendung zu einem anderen als dem muslimischen Glauben als auch jeglicher Missionierungstätigkeit mit großem Misstrauen und Intoleranz. Die nach türkischer Lesart nicht vom Lausanner Vertrag erfassten (s.o., Abschnitt 1.3.) religiösen Gemeinschaften, darunter auch römisch-katholische und

(11)

protestantische Christen, haben keinen eigenen Rechtsstatus. Sie können sich als Verein und, nach umstrittener Auslegung des 2008 verabschiedeten Stiftungsgesetzes, auch in Form einer Stiftung organisieren.

Eigentumserwerb und der Abschluss von Verträgen ist nur in den genannten Rechtsformen möglich. Mit schätzungsweise 15-20 Millionen bilden die türkischen, zum Teil auch kurdischen Aleviten nach den Sunniten die zweitgrößte Glaubensgemeinschaft der Türkei. Sie werden nicht als separate Konfession bzw.

Glaubensgemeinschaft anerkannt und können sich nur als Verein oder Stiftung organisieren. Seit dem Parlamentsbeschluss der CHP im Februar 2015 alevitische Gebetsstätten "Cem-Haus" (Cem-Evi) mit Glaubensstätten anderer Religionen beispielsweise der Moscheen gleichzustellen, wurde der Beschluss in mehr als die Hälfte der CHP-Stadtverwaltungen umgesetzt (von insgesamt 230 Stadtverwaltungen). Trotz der faktisch verbesserten Situation erkennen nur wenige Stadtverwaltungen die alevitischen Gotteshäuser aber als religiöse Stätten an. Die bekannten Hauptforderungen der Aleviten wurden bislang jedoch nicht erfüllt. Diese Forderungen sind v.a.: Anerkennung der Cem-Häuser als religiöse Stätten und Baugenehmigungen für diese, und Gleichstellung von Cem-Häusern wie Moscheen, Verwendung alevitischer Steuern für Cem-Häuser statt für Moscheen, Abschaffung der staatlichen (sunnitischen) Religionsbehörde Diyanet und Freiwilligkeit der Teilnahme am staatlichen "Religions- und Gewissenskunde"-Unterricht im Einklang mit der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte und Beendigung einer perzipierten Sunnitisierungspolitik. Die ehemals rund 60.000 kurdisch-stämmigen Yeziden waren in ihren Heimatregionen, insbesondere in den 1980er und 90er-Jahren, aufgrund ihrer Religion Übergriffen muslimischer Nachbarn ausgesetzt, die große Mehrheit ist ausgewandert, viele nach Deutschland. Die überwiegende Mehrheit der Yeziden lebt in den Kreisen Viransehir/Provinz Sanliurfa und Besiri/Provinz Batman. Ihre Anzahl ist nur sehr schwer einzuschätzen;

aufgrund belastbarer Untersuchungen beträgt die Mindestanzahl ca. 400 Personen; anderen Quellen zufolge, die nicht empirisch belegt werden können, soll es bis zu 2.000 Yeziden in der Türkei geben. Bei Yeziden kommt es in jüngster Zeit offenbar vermehrt zu Schwierigkeiten mitunter unter Androhung von Gewalt mit politisch gut vernetzten zumeist kurdischen Clans in der Region, wenn sie versuchen, bei Rückkehr in die Türkei in der Vergangenheit zurückgelassenes oder erstmals katastermäßig erfasstes Land als Eigentum registrieren zu lassen oder dieses tatsächlich nutzen zu wollen. Davon sind auch deutsche Yesiden betroffen. Die (kurdisch-geprägten) MR-Vereine behaupten, von diesen

Vorgängen keine Kenntnis zu haben.

1.5. Exilpolitische Aktivitäten

Türkische Staatsangehörige, die im Ausland in herausgehobener oder erkennbar führender

Position für eine in der Türkei verbotene Organisation tätig sind und sich nach türkischen Gesetzen strafbar gemacht haben, laufen Gefahr, dass sich die Sicherheitsbehörden und die Justiz mit ihnen befassen, wenn sie in die Türkei einreisen. Insbesondere Personen, die als Auslöser von als separatistisch oder terroristisch erachteten Aktivitäten und als Anstifter oder Aufwiegler angesehen werden, müssen mit strafrechtlicher Verfolgung durch den Staat rechnen.

Öffentliche Äußerungen, auch in Zeitungsannoncen oder -artikeln, sowie Beteiligung an Demonstrationen, Kongressen, Konzerten etc. im Ausland zur Unterstützung kurdischer Belange sind nur dann strafbar, wenn sie als Anstiftung zu konkret separatistischen und terroristischen Aktionen in der Türkei oder als Unterstützung illegaler Organisationen nach dem türkischen Strafgesetzbuch gewertet werden können.

2. Repressionen Dritter

Es existieren zahlreiche militante religiöse Gruppierungen wie die "Front der Vorkämpfer des Großen Ostens"

(IBDA-C) und linksradikale, terroristische Gruppierungen wie die DHKP-C

(Devrimci Halk Kurtulus Partisi - Cephesi - "Revolutionäre Volksbefreiungspartei - Front") bzw. die TKP-ML (Türkiye Komünist Partisi / Marksist Leninist) oder die linksterroristische MLKP (Marxistisch-Leninistische Kommunistische Partei). Trotz der andauernden Bedrohung der nationalen Sicherheit durch Teile dieser Gruppierungen kann davon ausgegangen werden, dass sie keine Repressionen gegenüber einer bestimmten Personengruppe wegen ihrer Rasse, Nationalität oder Religion ausüben. Dies gilt in der Regel auch für die umstrittene Einrichtung der Dorfschützer, vom Staat angestellte, bewaffnete Einheimische,

die vor den Übergriffen der PKK im Südosten des Landes schützen sollen (über 80.000 in 22 Provinzen). Die türkische Hizbullah hat seit 2000 keine Gewaltaktionen mehr verübt. Anderes gilt für die PKK (vgl. Ziff. 1.3) und die DHKP-C.

3. Ausweichmöglichkeiten

(12)

Die unter Ziffer II. genannten Maßnahmen werden landesweit praktiziert, die Justiz sowie die Sicherheitskräfte haben Zugriff auf das gesamte Staatsgebiet.

III. Menschenrechtslage

1. Schutz der Menschenrechte in der Verfassung

Die Türkei gehört dem Europarat an und ist Partei der Europäischen

Menschenrechtskonvention

von 1950, des 1. Zusatzprotokolls (Grundrecht auf Eigentum) sowie des 6. Zusatzprotokolls

zur EMRK über die Abschaffung der Todesstrafe in Friedenszeiten, des

11. (obligatorische Gerichtsbarkeit des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte), des 13.

(uneingeschränkte Aufhebung der Todesstrafe) und des 14. Zusatzprotokolls.

Die Türkei ist weiterhin Vertragspartei des Europäischen Übereinkommens zur Verhütung von Folter und unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung oder Strafe von 1987. Sie gehört neben dem Europarat auch der OSZE an. Für sie gelten die menschenrechtsrelevanten Dokumente dieser Organisationen, vor allem das Kopenhagener Dokument von 1990. Der Europarat ist im Rahmen von Justizprojekten in der Türkei tätig.

Darüber hinaus gehört die Türkei zu den Erstunterzeichnern des Übereinkommens des Europarats zur Verhütung und Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen und häuslicher Gewalt (11.05.2011).

Die vom türkischen Parlament am 24.11.2011 beschlossene Ratifikation des Übereinkommens kann erst dann zum Inkrafttreten führen, wenn genügend Staaten dem Übereinkommen beigetreten sind.

Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) spielte im Land als Ersatz für die

bislang fehlende Verfassungsbeschwerde eine besonders wichtige Rolle. Mit der Einführung der Individualbeschwerde seit September 2012 beruft sich das Verfassungsgericht noch häufiger auf die EMRK. Der EGMR sieht nunmehr Beschwerden aus der Türkei erst dann als zulässig an, wenn der nationale Rechtsweg einschließlich Individualbeschwerde ausgeschöpft wurde, was zu einer deutlichen Verringerung der Neuverfahren vor dem EMRK führte. Die EMRK ist aufgrund Art. 90 der Verfassung gegenüber nationalem Recht vorrangig und direkt anwendbar. EMRK und Rechtsprechung des EGMR werden jedoch bislang von der innerstaatlichen Justiz nicht ausreichend berücksichtigt. Das türkische Justizministerium bemüht sich gemeinsam mit EU und Europarat auch durch Fortbildungen für Richter und Staatsanwälte um Abhilfe. Wiederholt befasste sich das Ministerkomitee des Europarats mit der Türkei aufgrund nicht umgesetzter Urteile wie Ülke/Türkei (Wehrdienstverweigerung) oder Xenides-Arestis/Türkei (Eigentumsfragen in Nordzypern).

Der Menschenrechtsschutz wird in der Verfassung in Artikel 2 festgeschrieben und in den folgenden Paragraphen konkretisiert. Parteien werden durch Artikel 68 Abs. 4, Abgeordnete durch ihre Eidesformel (Art.

81) auf ihre Einhaltung verpflichtet.

Die Türkei ist Partei folgender VN-Übereinkommen:

- Übereinkommen gegen Folter und andere grausame, unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Strafe von 1984 (in der Türkei in Kraft seit 10.08.1988);

- Übereinkommen zur Beseitigung jeder Form von Rassendiskriminierung von 1966 (in Kraft seit 16.06.2002);

- Übereinkommen über die Rechte des Kindes von 1989 (seit 27.01.1995 in Kraft) inklusive des Zusatzprotokolls betreffend den Verkauf von Kindern, die Kinderprostitution und die Kinderpornographie (seit 28.05.2002) sowie des Zusatzprotokolls betreffend die Beteiligung von Kindern an bewaffneten Konflikten (seit 02.03.2004).

- Europaratskonvention über den Schutz von Kindern vor sexueller Ausbeutung und sexuellem Missbrauch (seit 25.11.2010)

(13)

- Übereinkommen zur Beseitigung jeder Form von Diskriminierung der Frau von 1979, von der Türkei am 24.07.1985 ratifiziert, und das Zusatzprotokoll von 1999, am 08.09.2000 unterzeichnet, am 26.08.2002 ratifiziert;

- Übereinkommen über die politischen Rechte der Frau von 1952, am 25.05.1959 ratifiziert;

- Übereinkommen vom 28. Juli 1951 über die Rechtsstellung der Flüchtlinge, mit dem Vorbehalt, die Genfer Flüchtlingskonvention nur auf Flüchtlinge aus Europa anzuwenden;

- Übereinkommen über die Verhütung und Bestrafung des Völkermordes von 1948 (in Kraft seit dem 29.03.1950);

- Internationaler Pakt über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte von 1966: Die Türkei unterzeichnete das Abkommen am 15.08.2000. Ratifiziert wurde es am 10.07.2003, es trat am 11.08.2003 mit Vorbehalten zu Art. 13 Abs. 3 und 4. in Kraft.

- Die Türkei unterzeichnete am 15.08.2000 sowohl den Pakt über bürgerliche und politische Rechte (ratifiziert am 07.07.2003; in Kraft seit dem 21.07.2003) als auch den Pakt über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte von 1966 (ratifiziert am 10.07.2003, in Kraft seit dem 11.08.2003). Gleichzeitig hat sie jedoch mehrere Erklärungen und Vorbehalte abgegeben, die mit Verweis auf die türkische Verfassung und den Vertrag von Lausanne die Bedeutung der Unterzeichnung der Pakte im Hinblick auf die Beachtung von Menschenrechten bei extraterritorialen Einsätzen türkischer Sicherheitskräfte (Nordirak, Nordzypern) und auf die Garantie der Rechte ethnischer und religiöser Minderheiten, stark einschränken. Das Fakultativprotokoll zum ersten Pakt, das eine Individualbeschwerde zu einem besonderen Ausschuss vorsieht, wurde am 03.02.2004 gezeichnet, jedoch mit einer Vorbehaltsklausel am 29.06.2006 ratifiziert (in Kraft seit 05.08.2006). Das 2. Fakultativprotokoll (Abschaffung der Todesstrafe) ist seit dem 27.12.2005 in Kraft.

- Fakultativprotokoll zu dem VN-Übereinkommen gegen Folter (OPCAT), am 14.09.2005 unterzeichnet.

Das eine unabhängige, finanziell und strukturell autonome Überwachungseinrichtung vorsehende Fakultativprotokoll wurde am 23.02.2011 ratifiziert und trat am 12.03.2011 in Kraft.

- Internationales Übereinkommen zum Schutz der Wanderarbeitnehmer und ihrer Familienangehörigen (in Kraft seit dem 08.07.2004);

- Übereinkommen der Vereinten Nationen über die Rechte von Menschen mit Behinderungen (unterzeichnet am 30.03.2007, ratifiziert am 28.09.2009, Zusatzprotokoll unterzeichnet am 28.09.2009).

Die Türkei ist - trotz ihres Beitritts zur Organisation Islamischer Staaten (OIC) 1969 - nicht Partei der Erklärung der Islamischen Staaten zu Menschenrechten.

2. Folter

Die Regierung hat alle gesetzgeberischen Mittel eingesetzt, um Folter und Misshandlung im

Rahmen einer "Null-Toleranz-Politik" zu unterbinden: Beispielhaft genannt seien die Erhöhung der Strafandrohung (Art. 94ff. des tStGB sehen eine Mindeststrafe von drei bis zwölf Jahren Haft für Täter von Folter vor, verschiedene Tat-Qualifizierungen sehen noch höhere Strafen bis hin zu lebenslanger Haft bei Folter mit Todesfolge vor); direkte Anklagen ohne Einverständnis des Vorgesetzten von Folterverdächtigen;

Runderlasse an Staatsanwaltschaften, Folterstraftaten vorrangig und mit besonderem Nachdruck zu verfolgen;

Verhinderung der Verschleppung von Strafprozessen und der Möglichkeit, sich dem Prozess zu entziehen;

Durchsetzung ärztlicher Untersuchungen bei polizeilicher Ingewahrsamnahme; Stärkung von Verteidigerrechten.

Trotz dieser gesetzgeberischen Maßnahmen und einiger Verbesserungen ist es der Regierung bislang nicht gelungen, Folter und Misshandlung vollständig zu unterbinden. Vor allem beim Auflösen von Demonstrationen kommt es mit zunehmender Tendenz zu übermäßiger Gewaltanwendung. Menschenrechtsverbänden zufolge gibt es Hinweise aufgrund der Art von Verletzungen, dass die Anwendung von Gewalt und Misshandlungen nicht mehr in Polizeistationen, sondern an anderen Orten, u. a. im Freien stattfinden, ohne dass zuverlässige Informationen vorliegen.

(14)

Die Zahl der Beschwerden und offiziellen Vorwürfe, die im Zusammenhang mit mutmaßlichen Folter- oder Misshandlungsfällen stehen, ist nach Angaben von Menschenrechtsverbänden 2014 gestiegen. Es haben sich insgesamt 787 Personen mit Foltervorwürfen an die Menschenrechtsstiftung TIHV gewandt, von denen laut Stiftung 260 (2013:411, 2012 :548, 2011: 207; 2010: 161, 2009: 252) angaben, dass sie im selben Jahr gefoltert oder unmenschlich behandelt wurden. Die insgesamt hohe Zahl ist nach Angaben des TIHV auf die Haftentlassungen im Rahmen der KCKErmittlungen zurückzuführen.

Hinsichtlich der Folter in Gefängnissen hat sich nach belastbaren Informationen von Menschenrechtsorganisationen die Situation in den letzten Jahren erheblich verbessert; es werden weiterhin allerdings Einzelfälle zur Anzeige gebracht, vor allem in Gestalt von körperlicher Misshandlung und psychischen Drucks.

Ein Problem bei der strafrechtlichen Verfolgung der Täter ist die Nachweisbarkeit von Folter

und Misshandlungen. Die seit Januar 2004 geltende Regelung, dass außer auf Verlangen des Arztes Vollzugsbeamte nicht mehr bei der Untersuchung von Personen in Gewahrsam bzw. Haft anwesend sein dürfen und das Untersuchungsergebnis direkt dem Staatsanwalt versiegelt (ohne Kopie für die Vollzugsbeamten) auszuhändigen ist, wird nicht durchgehend angewandt. Zudem sind medizinische Gutachten nur von staatlich kontrollierten Stellen zugelassen; die Ärztekammer berichtet über Druck auf einzelne Ärzte und Einschüchterungsversuche durch Androhung von Disziplinarverfahren durch das zuständige forensische Institut.

Grundsätzlich kann gegen alle Sachverständigengutachten - hierzu zählt auch ein medizinisches Gutachten - Einspruch erhoben werden.

3. Todesstrafe

Die Todesstrafe ist in der Türkei abgeschafft.

4. Sonstige menschenrechtswidrige Handlungen

Willkürliche kurzfristige Festnahmen im Rahmen von - mitunter erlaubten, aber in einigen

Fällen eskalierenden - Demonstrationen oder Trauerzügen kommen verstärkt vor. In großer Zahl war dies auch im Rahmen der landesweiten Gezi-Park-Proteste seit Juni 2013 und bei den Kurdenunruhen im Oktober 2014 der Fall. Sie werden von offizieller Seite regelmäßig mit dem Hinweis auf die angebliche Unterstützung einer terroristischen Vereinigung bzw. Verbreitung von Propaganda einer kriminellen Organisation gerechtfertigt.

Festnahmen von Flüchtlingen, die "temporäres Asyl" beantragen (siehe Ziff. III.5.), ergehen regelmäßig ohne schriftliche Begründung; ein Rechtsschutz ist nicht vorgesehen.

In der Türkei gibt es zurzeit 355 Gefängnisse (2013:373; 2011: 377; 2010: 371, 2009:429, 2006: 382), darunter 17 sog. F-Typ-Gefängnisse für Häftlinge, die wegen Terror- oder organisiertem Verbrechen verurteilt wurden.

2014 wurden 14 (2013:10; 2012:14)) neue Haftanstalten geschaffen. In den vergangenen acht Jahren wurden insgesamt 169 Haftanstalten geschlossen. Bis 2015 wurden insgesamt 83 neue Gefängnisse eröffnet.

Die türkischen Gefängnisse waren in den letzten Jahren regelmäßig überfüllt (offizielle Angabe für 2014:

101,57%). Die Regierung bemüht sich jedoch mit ersten Erfolgen um Entlastung, indem einerseits die Kapazität der Haftanstalten auf derzeit 166.006 Personen (2013:141.775; 2011: 121.804; 2010: 114.220) gesteigert und andererseits durch Gesetzesreformen die Verhängung u.a. der Untersuchungshaft in gewissem Umfang zurückgedrängt werden konnte. April 2015 waren nach offiziellen Angaben 168.612 Personen inhaftiert (2012:

125.549; 2011: 127.831; 2010: 120.814, 2009:

116.917). Darunter befinden sich 22.950 Untersuchungshäftlinge (2013: 32.457; 2011: 54.412; 2010: 55.578, 2009: 39.877).

Die Grundausstattung der türkischen Gefängnisse entspricht nach Angaben des türkischen

Justizministeriums den EU-Standards. Auch der Ausschuss des Europarats für die Verhütung der Folter (CPT) bestätigt in seinem 2011 veröffentlichten Bericht, dass die materiellen Bedingungen in den Haftanstalten im Großen und Ganzen adäquat seien (CPT/Inf (2011) 13). Für LGTBIHäftlinge plant die Türkei offenbar die Errichtung eines Sondergefängnisses ("pink prison"), um die Gefangenen dort besser vor Übergriffen zu schützen, wie es heißt.

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Die Haftbedingungen sind aufgrund der großen Überbelegung der Haftanstalten jedoch dennoch schwierig. Das CPT empfiehlt die Haftbedingungen dahingehend zu prüfen, dass überall adäquater Zugang zu natürlichem Licht und die Möglichkeit zu täglichem Freiluftsport gewährleistet wird. Der Bericht des UN-Komitees gegen Folter (CAT) konstatiert darüber hinaus einen Mangel an Gefängnis-Personal (ca. 8.000) und medizinischem Personal.

Berichte über mangelnden Zugang zur medizinischen Versorgung von kranken Häftlingen sind demzufolge besorgniserregend.

Im April 2015 bestanden in der Türkei lediglich drei geschlossene Haftanstalten für Kinder

und Jugendliche (Altersgruppe 12-21 Jahre) und zwei sog. Erziehungsanstalten für strafgefangene Kinder, so dass ein großer Teil der insgesamt 2.165 rechtskräftig verurteilten oder in U-Haft befindlichen minderjährigen Personen in Erwachsenen-Haftanstalten untergebracht ist. Soweit wie möglich werden Kinder und Jugendliche dort getrennt von den erwachsenen Häftlingen untergebracht, zumindest die Gemeinschaftseinrichtungen müssen jedoch gemeinsam genutzt werden. Die Erwachsenenhaftanstalten verfügen in der Regel kaum über auf die junge Zielgruppe abgestimmte Bildungs- oder Beschäftigungsmöglichkeiten, in den Jugendhaftanstalten gibt es zumindest teilweise eine recht umfassende Angebotspalette. Vorwürfe von Gewalt und sexueller Misshandlung von jugendlichen Insassen in der (Erwachsenen-)Haftanstalt Pozanti haben 2012 dazu geführt, dass 199 Minderjährige aus Pozanti in die Jugendhaftanstalt Ankara verlegt und leitende Mitarbeiter von Pozanti in andere Haftanstalten versetzt wurden. Ende Februar 2015 wurde hierzu berichtet, dass die Staatsanwaltschaft für vier kurdische Jugendliche, die auf die sexuellen Übergriffe aufmerksam gemacht haben, wegen Steinewerfens und Beschädigung öffentlicher Einrichtungen bei einer Demonstration lebenslange Haftstrafen beantragt hätte, während die Untersuchungsverfahren gegen die Bediensteten der Haftanstalt allesamt eingestellt worden seien.

Medienberichten zufolge beklagten sich Insassen über unzureichende Betreuung durch Sozialarbeiter und Psychologen in Gefängnissen. Angaben des Justizministeriums zufolge kämen auf 549 Insassen ein Psychologe und auf 986 Häftlinge nur ein Sozialarbeiter.

IV. Rückkehrfragen

1. Situation für Rückkehrerinnen und Rückkehrer

1.1. Grundversorgung

In der Türkei gibt es keine mit dem deutschen Recht vergleichbare staatliche Sozialhilfe. Sozialleistungen für Bedürftige werden auf der Grundlage der Gesetze Nr. 3294 über den Förderungsfonds für Soziale Hilfe und Solidarität und Nr. 5263, Gesetz über Organisation und Aufgaben der Generaldirektion für Soziale Hilfe und Solidarität gewährt. Die Hilfeleistungen werden von den in 81 Provinzen und 850 Kreisstädten vertretenen 973 Einrichtungen der Stiftungen für Soziale Hilfe und Solidarität (Sosyal Yardimlasma ve Dayanisma Vakfi) ausgeführt, die den Gouverneuren unterstellt sind. Anspruchsberechtigt nach Art. 2 des Gesetzes Nr. 3294 sind bedürftige Staatsangehörige, die sich in Armut und Not befinden, nicht gesetzlich sozialversichert sind und von keiner Einrichtung der sozialen Sicherheit ein Einkommen oder eine Zuwendung beziehen, sowie Personen, die gemeinnützig tätig und produktiv werden können. Die Leistungsgewährung wird von Amts wegen geprüft. Eine neu eingeführte Datenbank vernetzt Stiftungen und staatliche Institutionen, um Leistungsmissbrauch entgegenzuwirken. Leistungen werden gewährt in Form von Unterstützung der Familie (Nahrungsmittel, Heizmaterial, Unterkunft), Bildungshilfen, Krankenhilfe, Behindertenhilfe sowie besondere Hilfeleistungen wie Katastrophenhilfe oder die Volksküchen. Die Leistungen werden in der Regel als zweckgebundene Geldleistungen für neun bis zwölf Monate gewährt. Darüber hinaus existieren weitere soziale Einrichtungen, die ihre eigenen Sozialhilfeprogramme haben. Nach dem im April 2014 in Kraft getretenen Gesetz Nr. 6453 über Ausländer und internationalen Schutz haben auch Ausländer, die im Sinne des Gesetzes internationalen Schutz beantragt haben oder erhalten, einen Anspruch auf Gewährung von Sozialleistungen. Welche konkreten Leistungen dies sein sollen, führt das Gesetz nicht auf.

1.2. Medizinische Versorgung

Das staatliche Gesundheitssystem hat sich in den letzten Jahren strukturell und qualitativ erheblich verbessert - vor allem in ländlichen Gegenden sowie für die arme, (bislang) nicht krankenversicherte Bevölkerung. Auch wenn Versorgungsdefizite - vor allem in ländlichen Provinzen - bei der medizinischen Ausstattung und im Hinblick auf die Anzahl von Ärzten bzw. Pflegern bestehen, sind landesweit Behandlungsmöglichkeiten für alle Krankheiten gewährleistet. Landesweit gab es 2013 1.517 Krankenhäuser mit einer Kapazität von 202.031 Betten, davon ca. 60% in staatlicher Hand. Die Behandlung bleibt für die bei der staatlichen Krankenversicherung Versicherten mit Ausnahme der "Praxisgebühr" unentgeltlich. Grundsätzlich können sämtliche Erkrankungen in staatlichen Krankenhäusern angemessen behandelt werden, insbesondere auch

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