DIE BEHANDLUNG
DER
HYSTERIE
DER
NEURASTHENIE
UND
ÄHNLICHER ALLHEMEINER FÜNCTIONELLER NEUROSEN
DR- V. HOLST
IN RIGA.
STUTTGART.
VERLAG VON FERDINAND ENKE.
1883.
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7-
Nicht
nur die medicinische Wissenschaftim
Allge- meinen, sondern auch jede ihrer Disciplinen ist indem
fortwährenden regen
und
gedeihlichen Streben nach Fort- schritt auch in unausgesetztenSchwankungen
begriffen inBezug
auf die vorwiegendeBedeutung
einer Richtung in der Wissenschaftund
einer speciellen Seite der einzelnen Disci- plin. Es ist das durchaus naturgemäss, so lange ein reges Streben nach Fortentwickelung besteht, ein ruhiges Gleich- gewicht in der Wissenschaftwürde
gleichbedeutend sein mitStillstand in der Fortentwickelung.
Ganz
besonders auffallend hat sich dasSchwanken
auseinem Extrem
ins andere in der Therapie herausgestellt,von
den complicirten Arzneigebräuen der ersten Jahrzehnte unseres Jahrhunderts,von dem
thera- peutisch geschäftigen Flandeln auf rein empirischer Basis einer Rademacher’schen Schulekam man
nach der einen Seite zudem
unbewussten therapeutischenNihilismus derHomöopathie und
auf der anderen Seite zudem
offen declarirten Skepti- cismus in der Therapie, wie ervon
der sogen, rationellenWiener
Schule gelehrt wurde.Von dem
unerschütterlichen Vertrauen auf die Mittelchen, die uns dieApotheke
bot,kam man
zudem
alle Arzeneien perhorrescirenden Naturheilver- fahren, Vegetarianismus etc.Von
den derChemie entnom- menen
FIcilmitteln gingman
mit einem Sprunge zur Physik über, Wasserheilverfahren, Electrotherapie, Gymna.stik
und
4
Massage wurden
zudem
Hauptrüstzeug derAerzteim Kampfe
gegen die Krankheiten des Menschengeschlechts.Ueberall schoss
man
dabei aber über das Ziel hinaus.In allen den genannten
Methoden
lag ein guter Kern, alle aberwurden
übertrieben.Der
neuesten Zeitnun
scheint es Vorbehalten zu sein, eine gesunde Reaction gegen alle E.\-treme hervorzurufen
und
kritisch sichtendvon Allem
das zur Zeit als Bestes erscheinende zu acceptirenund
derWissen- schaft so lange bleibend zu erobern, bis eine noch neuere Zeit auch dieses schwer Errungene wiederumwerfen und noch
Neueres schaffen wird.Wenn
ichnun im
Nachstehenden mir die Besprechung derBehandlung
einer grossen Krankheitsgruppe ausdem
Gebiete der Neuropathologie zur Aufgabe gestellt habe, so will ich damit einerseits für diese Disciplin in derselben
Weise
das Gleichgewicht zwischen therapeutischem Nihi- lismusund
allzugeschäftigemQuacksalbern herzustellensuchen, wie esim
Allgemeinen das Bestreben der heutigen Therapie zu sein scheint. Andererseits will ich dabei aber auchnoch
eines anderen wichtigen Punktes
Erwähnung
thun. Ich bin derMeinung,
dass bei derBehandlung
derjenigen functioneilen allgemeinen Neurosen,um
die es sich hier handelt, noch ganz andereLücken
aufzuweisen sindund
ganz andere Fehlerbegangen worden
sind, als diejenigen, die in den extremenSchwankungen
des Zeitgeistes in der Medicin überhaupt be- dingt waren. Es beziehen sich dieselben vielmehr auf die Stellung der genanntenNeurosen
in der Pathologie,zum
Theil auch auf die Auffassung ihrer Aetiologie,
wodurch
dieBehandlung
derselbenzum
Theil vernachlässigt ist,zum
Theil in eine falsche Richtung
gekommen
ist.So
unzweifelhaft dieNervosität
in ihrem weitestenBegriffe die Signatur unserer Zeit ist, so gewiss ist sie bis 1
in die allerneueste Zeit in der Wissenschaft vernachlässigt, wie ein Stiefkind behandelt worden.
Und zwar
gilt das vornehmlichvon
Deutschland.Von
Frankreich,England und
besondersAmerika
ist neuerdings eine entgegengesetzteStrömung
ausgegangen, die der allgemeinen Nervosität erst einenwürdigen
Platz in der Pathologie zu erringen sucht.Es ist selbstverständlich, dass auf diese
Weise
eine rationelleund
erspriessliche Therapie dieser jetzt erst in das Licht der Wissenschaft gestellten Geissei des Menschengeschlechts, sich auch jetzt erst zu entwickeln beginnt.Die Ursachen dieser bisher so zurückgesetzten Stellung der
allgemeinen functioneilen Neurosen im
patholo- gischen Systeme sind inFolgendem
zu suchen:Einmal
sind eben doch nur Klinikenund
Hospitäler die Stätten, indenen
die practische Medicin ihre wissenschaftliche Ausbildung er- fährt, aus denen die grossen Fortschritte unserer Zeit her- vorgehen. Ein grosser Theil der hier in
Rede
stehenden Krankheitsfällekommt
nie in Klinikenund
Hospitäler, theils weil sie sich aus einer Schichte der Gesellschaft rekrutiren, aus welcher die Hospitäler ihr Material nicht erhalten, theils weil es auchim
Character der Krankheit liegt, nicht gerade die Hospitalbehandlung aufzusuchen. Dieses Krankenmaterial befindet sich eben ausschliesslich in denHänden
vielbeschäf- tigter Privatärzte,und zwar
auch nur solcher, die es zueingehendem
Studium suchenund
nicht, wie ein grosser Theil der practischen Aerzte,von
sich weisen, weil es eben ihnen kein wissenschaftliches Interesse bietet.Andererseits liegt aber auch ein grosses Hinderniss für das wissenschaftliche Studium dieser Krankheitsgruppe in
dem
Lmstande, dass es sich in diesen Fällen zu
einem
grossen Theileum
reinsubjective
Klagen handelt.Solche erscheinen aber der nach Exactheit strebenden
6
modernen
Wissenschaft nicht zugänglich einem eingehenden Studium. Dieselben rufen ausserdem nur zu leicht den Ver- dacht der Uebertreibung, ja auch der Simulationwach;
durch diesen Verdacht aber schwindet jedes wissenschaftliche In- teresse andem
Krankheitsfall. Statt ihn also weiter zu er- forschenund
namentlich zu constatiren, wie weit es sichdenn
wirklichum
Uebertreibungund
Simulation handelt, wird er mit einer gewissen Verachtung behandelt und,wo
möglich, ganz zurückgewiesen.
Endlich ist
wohl
zu berücksichtigen, dass die therapeu- tischen Erfolge bei derim
Allgemeinen üblichen Methode, solchenKranken
eine Arzenei zu verschreibenund
sieim
übrigen sich selbst zu überlassen, durchschnittlich
wohl
so geringe sein mussten, dass dieAnschauung
allgemeine Verbreitung erhalten konnte, »mit der allgemeinen Ner- vosität ist eben nichts anzufangen«. Bei einer solchen Auf- fassung konntevon
einem gedeihlichen Studium dieser patho- logischen Zustände, namentlichvon
einer erspriesslichen Fortentwickelung ihrer Therapie selbstverständlich nicht dieRede
sein.Es ist das eben ein Beweis, dass die wissenschaftliche Thätigkeit nicht
immer dem
practischen Bedürfniss entspricht.Möbius
characterisirt dieses Verhältniss sehr treffend mit fol-gendem
Ausspruch:»Man möge
beispielsweise die socialeBe- deutung derAthetose einerseitsund
der Neurasthenie anderer-seitsgegenüberstellen derArbeitskraft,welche von wissenschaft- licher Seite auf das
Studium
beider Krankheiten verwendetworden
ist,man möge
bedenken, dass der Arzt ministeraegrorum und
nicht Raritätensammler sein soll.«Fassen wir all das Gesagte
zusammen,
so resultirt dar- auswohl
das Bedürfniss,vom
Standpunkt des Practikers aus dieBehandlung
derallgemeinen functioneilen Neu-
7
rosen
zusammenfassend zu besprechen. EineZusammen-
fassung der Hysterie
und
der Neurasthenie, Nervosisme, Nervositätund
wie diese Zustände sonst genanntwerden mögen,
scheint dabei nicht nur thunlich, sondern sogar ge- boten,denn
es sollenim Nachstehenden
nicht Detailvor- schriften zu einzelnen speciellenKuren gegeben
werden, sondern es sollen vielmehr dieallgemeinen Principien
bei der
Behandlung solcher Zustände
klargelegtwerden und
diese treffenim Ganzen
unter Mitberücksichtigung der einzelnen speciellen Indicationen, bei einer Hysterie ebenso zuwie
bei einer Neurasthenie. Es sind eben auch für alle einzelnen Indicationen dieselben Heilverfahren, die in dermodernen
Neurotherapiesowohl
bei der einenGruppe von
Fällen als bei der anderen zur
Anwendung kommen.
Ausserdem
erscheint aber auch dieZusammenfassung
dieser unter den verschiedensten
Namen vorkommenden
all-gemeinen
functioneilenNeurosen
bei der Therapieumsomehr
gerechtfertigt
, als sie auch diagnostisch
ohne
eine festeGrenze ineinander übergehen.
Wenn
es auch nichtschwer
*
ist, in prononcirten Fällen eine, stricte Diagnose, das eine
Mal
aufHysterie, das andereMal
aufNeurasthenie zu stellen, so giebt es eben doch eine grosse Zahlvon
Fällen, dieman
ebenso gut hierhin wie dorthin zählen kann, die heute das Bild der Neurasthenie
und morgen
vielleicht das Bild der Hysterie bieten. Ich halte esdarum
für einen erkünstelten Act,wenn man
Krankheitsgruppen, die soeng
mit einander verwandt sind, durch eine lange Reihevon
differential-diagno- stischenMerkmalen
gar zu strengvon
einander scheiden will.Das thut
zum
BeispielBeard dem
das grosseVerdienst zu-kommt,
das klinische Bild derNeurasthenie
erst zu all-gemeiner
Anerkennung
gebracht zu haben. Dieses klar geschilderte Bild umfasst alle die Zustände, dievon
anderenAutoren als
Nerv.osisme
(Bouchut), alsallgemeine Nervosität,
alsNervenschwäche,
alsreizbare
Schwäche
etc. geschildertworden
sind.»Auf dem
Gebiete derNeurosen
giebt es,« wieMöbius
sehr richtig sagt, »nur fliessende Unterschiede.«Ohne mich
hier einlassen zukönnen
auf eine einge- hende Besprechung derjenigen Krankheitszustände, derenBehandlung
ich mir nurzum Thema
dieser Arbeit gestellt habe, glaube ichdoch
eine kurze Deflnition der in dieses Gebiet gehörigen klinischen Krankheitsbilder voranschicken zu müssen, weil durch diese eben auch dieZusammengehö-
rigkeit der verschiedenen
Formen
illustrirt wirdund
bei der Besprechung der Therapie doch oft recurrirtwerden muss
auf dasWesen
derjenigen Zustände,um
deren Beseitigung es sich handelt.Man
solltewohl
meinen, bei derHysterie,
einer Krankheit, die so alltäglich istund
die seit Jahrhunderten eine Plage der Menschheitund —
ich kann eswohl
sagen— im
Grossenund Ganzen
auch eine Plage der Aerzte ist,wäre
daswohl kaum
nöthig.Und
doch scheint mir gerade*
hier eine Klarstellung des Begriffes
von
allergrössterWich-
tigkeit.
Wenn
ich auch ganz absehevon dem
unglückseligen Urtheile, das unter den Laien leider nur zu sehr verbreitetist, als handle es sich bei der Hysterie eigentlich gar nicht
um
eine Krankheit, sondern vielmehrum
eineUngezogen-
heit, Launenhaftigkeit, Uebertreibung
und
Anstellung, so bedarf doch auch untereinem
grossen Thcile der practischen Aerzte die Auffassungund
Beurtheilung des Krankheits- begriffes eine genauere Aufklärung.Auch
indem Munde
der Aerzte hat nur zu oft die Diagnose
Hysterie
einen etwas verächtlichen Beigeschmack.Wie
wäre es sonst möglich, dassman
sich mit derNennung
diesesNamens
9
im Publicum so sehr in
Acht nehmen
müsste,wenn man
nicht die
Kranken
selbst oder ihreAngehörigen
tief kränkenwill. Ich glaube durch das blosse Aussprechen dieser Dia- gnose hat sich schon
mancher
Arztum
allen Credit bei den Patienten, die es angeht, gebracht.Zum Glück
für uns Aerzte hat derAusdruck »Nervosität« noch
nicht diesesOdium im
Publicum.»Nervös«
dürfen wir jedeDame
nennen, die wir für
hysterisch
halten. Ist das bei irgend einer Krankheit sonst denkbar? Ist das nicht aber ein Fehler, der nur den Aerzten zuzuschreiben ist, dass eine Krankheits- bezeichnung irgend einenSchimpf
in sich schliesst?Wenn
freilich bei der Diagnose einer Geistesstörung
man im
Pu- blicum auf ein ähnliches Urtheil stösst, so findet daswohl
eher eine ganz natürliche Erklärung, weil darin für den Laien etwas Unheimliches liegt,
und
weil derMensch
dadurch seiner freienWillensbestimmung
für verlustig er- klärt wird.Von
Aerzten wird jedenfalls ein solch fitlsches Urtheil über Geistesstörungen nicht unterstützt. Bei der Hysterie aber ist daswohl
der Fall.Das
aber ist ein schwerer Vorwurf, der eine grosse Zahlvon
Aerzten trifft. DieHy-
sterie ist nicht nur ebenso eine Krankheit
wie
jede andere,sie ist sogar eine sehr schwere Krankheit, deren Träger
mehr
Mitleid verdient, alsmanche
andere Kranke.Wenn
das
Factum
auch nicht zu leugnen ist, dass es eine häufigvorkommende
Eigenthümlichkeit dieserKranken
ist, ihre Leiden zu vergrössern,um
Mitleid oder allgemeines Erstaunen zu erregen, so ist das eben auch einKrankheitssymptom
bei ihnen, das
zum
grössten Theil provocirt wird durchdie falsche Behandlung, die ihnen
von
Seiten ihrerUmge-
bung und
leider auch oft ihrer Aerzte zu Theil wird, das aber nicht mit Verachtung bestraftwerden
dürfte, sondern das durch Aufklärung derUmgebimg von
Seiten der Aerzte10
beseitigt
werden
sollte.Und
das ist sehrwohl
möglich,wenn man
nur wirklich mit Interesse die Krankheit als solche eingehend beobachtet. Eskann
nicht nur eineim
Erfolge dankbare Thätigkeit für den Arzt sein, sie gewinnt auch ein hohes wissenschaftliches Interesse,wenn man
sich nurmehr
in sie vertieftund
den übertriebenen Standpunkt dermodernen
Wissenschaft aufgiebt, dass nur das einer ernsten Bearbeitung werth sei,was
sich objectiv untersuchenund
constatiren lasse.
Ich
muss im
Gegentheil,wohl zum
Entsetzen der meisten meiner. Collegen, erklären, dass ich die Hysterie auch wissenschaftlich für eine der interessantesten Krankheitenhalte. Ist doch in
dem Rahmen
der Hysterie vereinigt ein ganzesSammelwerk von
allen nur denkbaren nervösenSymp-
tomen, wie sie sonst nur bei destruirenden Processen in den Centralorganen des NervensystemsVorkommen, während
sie dort meist unheilbar, keiner Therapie zugänglich sind, so bestehen sie hier bei der Hysterie nur in functioneilen Stö- rungen, sinddarum
ihremWesen
nach heilbarund
sehr oft sogar sehr dankbare Heilobjecte. Sie bieten ausserdem darin schondem aufmerksamen
Beobachter ein eigenthümliches Interesse dar, dass sie in fortwährendemWechsel
hin-und
herspielen, ja dass sie, wie es
kaum
bei irgend welchen an- deren Krankheitserscheinungen der Fall ist, durch gewisse Manipulationen, willkürlich hervorgerufenund
wiederzum Schwinden
gebrachtwerden
können. Sie bieten also Gele- genheit zu den interessantesten physiologischenund
patho- logischen Experimenten.Also nicht nur in
humaner
Beziehung ist eine einge- hende Beschäftigung mit dieser Krankheit, die in unseremZeitalter geradezu eine sociale Bedeutung erlangt hat, eine würdige Aufgabe, auch in wissenschaftlicher Beziehung wird
Einem
beidem Studium
der Hysterie des Interessantengenug
geboten.Aber
auch unter denjenigen Autoren, welche, dieWahr-
heit dieses Satzes anerkennend, sich eingehend mit der
Hy-
sterie beschäftigt haben, herrscht keine Einigkeit in der Auffassung des
Wesens
dieser Krankheit.Wenn
wir die verschiedenen Definitionen, die zur Erklärung der Hysterie construirtworden
sind, durchmustern, sokönnen
wir füglich alle die alten Theorien bis zu Ro.mberg’s Zeit übergehen.Sie haben uns nur in
dem
für die jetzige Auffassung sehr unglücklich gewähltenNamen »Hysterie«
ein trauriges Erbtheil hinterlassen.Romberg war
der erste, der eine wissenschaftlich begründete Definition formulirte.Er
nanntedie Hysterie »eine
von
einer Genitalreizung ausgehende Re- flexneurose«.—
Diese Theorie fand aber bald nichtmehr
allgemeine
Anerkennung.
Siewar
zu einseitig, einmal in
Bezug
auf das ätiologischeMoment, dann
aber auch in Be- zug auf die ausschliesslicheBedeutung
des Reflexvorganges.Im
Gegensatz hierzu verfielen andere Autoren,wie
V.vLEXTiXER,Niemeyer,Hasse
in.denentgegengesetzten Fehlerund
construirten eine zu allgemein gefasste Definition d. h.Ernährungsstörung des
gesammten
Nervensystems. In ähn-licher,
wenn
auch etwas eingehendererForm
definirtScan-
zoKi die Hysterie als eineNeurose
bedingt durch eine uns unbekannte Entwickelungs-und
Nutritionsstörung des ganzen oder einzelner Abtheilungen des Nervensystems. In ähn-licher
Weise
spricht sichAmakn
aus : »Die Hysterie ist eine in der Entwickelung begründete eigenthümliche Organisation desgesammten
Nervensystems inVerbindung
mit besonderen veranlassendenMomenten.« Eulenburg
(LehrbuchderNerven-
krankheiten, 1878, pag. 689) sagt: »EineAbgrenzung
der Neura.sthenievon
der Hy.stcric ist unmöglich. Beide sind12
neuropathisch veränderte Existenzformen
und
bestehen inanomaler Beschaffenheitdes Nervenquerschnitts (Samt)«.
Am
ansprechendsten erscheint mir aber die
von Benedikt
formii- lirte Definition. Er sagt: »Erstens liegt dasWesen
derHy-
sterie darin, dass alle Theile des Nervensystems, sowohl die centralen Parthien, als deren Leitungsorgane
und
peripheren Enden,sowohl
die psychischen, sensuellenund
sensibelen, wie die motorischen, reflectorischen, trophischenund
(vaso- motorischen?) vagitativen Sphären ineinem
Zustande labilen Gleichgewichtes sich befinden, auswelchem
sie durch ver- schiedene stürmische wie allmälig einwirkendeMomente
in einen Zustand erhöhter oder verminderter Erregbarkeit ge- brachtwerden
können,wobei Veränderungen
der Reizbarkeit oder der Leitungsfähigkeit die veränderte Erregbarkeit be- dingen können. Ein zweites characteristisches Kennzeichen der Hysterie ist einabnormes
Verhältniss der verschiedenen Theile des Nervensystems zu einander.« In dieser umfas- senden Characteristik sind wirklich alle bei der H3'sterie mitbetheiligtenMomente und
Eventualitäten berücksichtigt.Es finden alle die speciellen
Deutungen
einzelnerSymptomen- complexe
der Hysterie, wie sie in der neuesten Literatur mehrfach hervorgetreten sind , darin ihren Platz.So
istnamentlich neuerdings in der Neuropathologie die Richtung unverkennbar vertreten,
dem
vasomotorischen Nervensystem ganzim
Allgemeinenund
besonders auch in der Hysterie eine bedeutende Rolle beidem Zustandekommen
derSymp-
tome
zuzuweisen. Dieser Auffassung, die gewiss in einem grossen Theil der Fälle ihre volle Berechtigung hat,werden
wir bei der Besprechung der Therapie noch mehrfach be- gegnen. Speciell hervorgehoben ist diesesMoment von
Rosenthal
(Untersuchungenund
Beobachtungenüber Hysterieund
Transfert. Arch. f. Psychiatrie etc., Bd. XII, pag. 201),von
Anjel
(Vasomot. Neurasthenie, Arch. f. Psychiatr. etc., Bd.MII,
pag. 394),von Gerhardt
(Angioneurosen,Volkm.
klin. Vortr. Nr. 209),
von Runge
(lieber Kopfdruck, Arch.f. Psychiatr., Bd. VII, pag. 627). In die BENEDiKT’sche all-
gemeine Characteristik passen auch
ungezwungen
hinein die- jenigen Fälle, welcheRosenthal
(Arch. f. Psychiatrie etc.Bd. IX, pag. 47) auf halbseitigen Hirntorpor zurückführt, oder welche
Althaus
(lieber Asthenie desGehirns. Centralbl.f. Psychiatr. u. Nervenheilk.
von
Erlenmeyer, 1882, Nr. 7)als localisirte Asthenie des Gehirns deutet.
Mit
Zugrundelegung
dieser BENEDiKT’schen Definition, bei welcher ich nur dieBetonung
der prädisponirendenAn-
lage vermisse,
möchte
ich folgende Fassung zur Klarstellung des Begriffes Hysterie aufstellen:Die
Hysterie
ist eine allgemeine functioneileNeurose ohne
anatomisch nachweisbares Substrat, welche sich dadurchcharacterisirt, dass sie
a)
immer
eine prädisponirende (meist hereditäre)An-
lage zur Voraussetzung hat.
b) Dasssich die
Symptome
dieserErkrankung
auf allen Gebieten desgesammten
Nervensystems abspielenkönnen,
theils einzeln, theils in Combinationen.
c) Dass die
Symptome
sichsowohl
in herabgesetzterals in gesteigerter Erregbarkeit äussern können.
d) Dass die Erregbarkeitsschwankungen
im
vasomoto- rischen Nervensystem eine besonders grosse Rolle spielen, namentlich auch in der Hervorrufung secundärer, durch die unregelmässige Blutvertheilung in den nervösen Centren be- dingterSymptome.
e) Dass die Rcflexerregbarkeit
im
Allgemeinen sehr gesteigert istund darum
geringfügige Reize zur Hervor- rufung der verschiedenstenSymptome
genügen.H
f) Dass ein
abnormes
Verhältniss der verschiedenen Theile des Nervensystems zu einander besteht.g) Dass
im
Allgemeinen alleSymptome
eine grosse Unbeständigkeitund
fortwährendenWechsel
zeigen.Wenn
wir jetzt versuchen wollen, uns über dasWesen
der
Neurasthenie
in ähnlicherWeise
zu orientiren, so ist es vor allenDingen
erforderlich, festzustellen, dass dieser moderne,von Beard und Rockwell
in die Neuropathologie eingeführteName
theilssynonym
ist mit den Zuständen, welchevon
den Franzosen nachBouchut’s Vorgänge
alsNervosisme, von
den Deutschen alsNervosität, Nerven- schwäche, reizbare Schwäche
etc. bezeichnet werden,theils aber auch wieder in sich fasst Krankheitsbilder , die unter besonderen
Namen
beschriebenworden
sind, wie Spinalirritation,Kopfdruck
(Runge),Platzangst
etc.Dieses allgemeine Krankheitsbild definirt
Bouchut*)
mit fol-genden Worten;
»Le Nervosisme est une nbvrose g^ndrale, ordinairement apyrbtique, caractbrisee par une association plusou moins nombreuse
de troubles fonctionnels variables Continus ou intermittens de la sensibilit^, de l’intelligence,
du mouvement
et des fonctions viscerales.«Beard und Rockwell**)
bezeichnen ihre Neurasthenie einfach als Erschöpfung des Nervensystems. In seinem zweiten ausführlichenWerke
über diesen Gegenstand (Die Neurasthenie, übers,von
Neisser, Leipzig i88i) giebtBeard
keine kurz gefasste stricte Definition des Zustandes, sondern characterisirt ihn in folgendenPunkten
:
a) Neurasthenie ist eine chronische functioneile Krank-
*) De Nervosisme. Paris 1878.
**) Practische Abhandlung über med. und Chirurg. Verwerthung der Electr., übers, von Väter. Prag 1874.
15
heit, deren Grundlage eine
Verarmung
der Nervenkraft, ein excessiver \’erbrauch desNervengewebes
ist.b) Die mannigfachen
Symptome
der Krankheit entste- hen durch Reflexreizungen, namentlich auch der vasomoto- rischen Nerven.c)
Darum
wird die Circulation in beständigenSchwan- kungen ohne
Gleichgewicht erhalten.d) Die Neurasthenie ist
vollkommen
unabhängigvon
Anämie.Möbius
(Die Nervosität. Leipzig 1882) drückt sich fol- gendermassen aus: »Die Neurasthenie ist diejenigeNervo-
# sität (soll liier
wohl
heissen allgemeine functioneile Neurose), deren Erscheinungen sämmtlich den Character der reizbarenSchwäche
tragen,ohne
dass sichZüge
andererNeurosen
beimischten.« Ermacht
fernernoch
darauf aufmerksam, wie unmerklich bei diesem Zustande dieGrenze
zwischen Gesundheitund
Krankheit ist.Ebenso
unmerklich aber ist sie auch zu gewissen, besonderen allgemeinen Neurosen, namentlich zur Hysterie. Dieses leuchtetEinem
auch sofort ein bei einem Vergleich deroben
zusammengestelltenCha-
racteristik der letzteren mit den für die Neurosthenie
von Beard
aufgestellten characteristischen Punkten. Es erscheintdarum wohl
gerechtfertigt, die
Behandlung
dieser beiden allgemeinen Neurosen gemeinschaftlich zu besprechen.Aus
den eben besprochenen Auseinandersetzungen über dasWesen
der uns beschäftigendenNeurosen
geht es schon hervor, dass es sichim
Nachstehenden hauptsächlich nurum
die Principien einerAllgemeinbehandlung
handeln kann.Da
eine solche sich aber schwer zerstückelnund
trennen lässt nach den einzelnen Indicationen, so
kann
ichmeinen Stoff nicht, wie es sonst
wohl
bei derAbhandlung
über die Therapie einer Krankheit üblich ist, nach den In-i6
dicationen anordneri. Bei einer so vielgestaltigen Krankheit, wie die Hysterie es ist, wird in den
Handbüchern
meist die Therapie nach den einzelnenSymptomen
besprochen.Auch
diese Eintheilung passt mir nicht, weil ich eben das Haupt- gewicht auf die Allgemeinbehandlung legen
möchte und
weil ich nur anhangsweisemich
mit derBehandlung
ein- zelnerSymptome
beschäftigen möchte.Da
endlich bei den uns beschäftigendenNeurosen
eine arzeneilicheBehandlung
meinerMeinung
nach nur in zweiter Reihe erst zur Sprachekommen
kann, so glaube ich denGang
meiner Besprechung nur sowählen
zu dürfen, dass ich mit einigenBemerkungen
über die Prophylaxis beginnend, die einzelnen Methoden, wie sie in neuester Zeit bei derBehandlung
allgemeinerNeurosen
zurVerwendung kommen
, der Reihe nach be- sprecheund
namentlich daraufhin kritisch zu sichten ver- suche,was
an ihnen extremund
einseitig übertrieben ist.Zum
Schluss solldann
erst eine kurzeMusterung
der für diese Fällevon
Alters her üblichenund
der neuerdings wie- der inAufnahme
gebrachten arzeneilichen Therapie folgen.Die Basis meiner ganzen Arbeit aber sind
weder
physiolo- gische Experimentenoch pharmacodynamische und
pharma- cologische Untersuchungen, sondern lediglich die eigene practische Erfahrung.Nur
für practische Aerzte sollen diese Zeilen eben auch bestimmt sein.Eine
Prophylaxis
der Hysterieund
der Neurasthenie umfasst eigentlich die Hauptfragen der Pädagogikund
der Hygieine. Eskann
mir daher nicht in den Sinnkommen,
sie auch nur einigermassen erschöpfend besprechen zu wollen.
Die Rolle, welche die
Hygieine
überhaupt und namentlich in der Schule für die körperlicheund
geistige Entwickelung unserer Kinderund
heranwachsendenJugend
spielt, ganz vornehmlich Krankheitszuständen gegenüber, die eine ausI?
der frühesten Kindheit, vielleicht schon
von
der Geburt herstammende Anlage
zur Voraussetzung haben, ist heute zuTage wohl genugsam
bekanntund
wird auch practisch mit jedem Jahremehr
gewürdigtund
berücksichtigt.Ebenso
brauche ichwohl
auch darüber keineWorte
zu verlieren, welcheBedeutung
dieErziehung im
weitesten Sinne desWortes
auf die harmonische Entwickelung der Functionen des Ner\-ensystems hat. Eine Frage nur, die zur Zeit auch unter denPädagogen
eine brennende ist,möchte
ich ein-gehender besprechen, weil sie einen
Hauptpunkt
in der Pro- phvlaxis der allgemeinen functionellenNeurosen
bildet. Ichmeine
dieUeberbürdung der Schulen. —
Es ist gar nicht fortzuleugnen, dass unseremodernen
Schulen*(ganz besonders die Mädchenschulen) eine wesentliche Schuldhaben
an der inunserem
Zeitalter so unheimlich verbreitetenNer-
vosität. Die
Anforderungen
unserer Zeit an das,was
nicht nur ein Knabe, sondern auch einMädchen
lernen soll,um
für gebildet zu gelten, sind so unnatürlich in die
Höhe
ge- schraubt, dass der Maassstab der Leistungsfähigkeit des in der Entwickelung begriffenen kindlichen Gehirns ganz ausser Acht gelassen wird, dassdarum
eben dieAnforderungen von
Seiten der Schule an die Kinder nur aufRechnung: der Aus- bildung ihres Nervensystems geleistet
werden
können.Aber
nicht nur das, auch das eigentliche Ziel der Schule, die
wahre
Bildung, das heisst die Ausbildung fester Begriffeund
das Lernen mit diesen Begriffen folgerichtig zu operiren, geht bei diesen gespannten Anforderungen in
Bezug
auf die .Menge der positiven Kenntnisse verloren. Es wird eben auf dieseWeise mehr Vielwissen
als einGutwissen,
das heisst ein wirkliches Begreifenund
Verstehen erzielt. Docli das gehört ja nicht hierher. Ich habe bereits an einem an- deren Orte(Der
Elementarunterrichr, eine ärztliche Betrach-fJoIst, Behandlungder Hy.^teric und Neurasthenie. O
i8
tung für Eltern
und
Erzieher. Riga i88i)meine
Ansichten über diesen Gegenstand ausgesprochenund
dort auch zu erläutern gesucht, welchen schädlichen Einfluss eine derartig fltlsche Bethätigung des in der Entwickelung begriffenenGehirns auf das ganze
Nervensystem
haben muss.Hier handelt es sich ja eben nur
um
die Frage, wie Lstvon
ärztlicher Seite dieser eclatanten Ursache zur Ausbildungvon
Hysterieund
Neurasthenie vorzubeugen.— Vor
einigen Jahren istvon
Dr.Hasse
ein derartiger Versuchgemacht
worden,indem
er in seiner Schrift (DieUeberbürdung
un- sererJugend
auf den höheren Lehranstalten mit Arbeiten.Braunschweig 1880) einen öffentlichen Protest gegen diese Misss^»lnde erhob
—
speciell freilich nur inBezug
auf dieEntstehung
von
Psychosen. Die Arbeit hat damals grosses Aufsehen erregtund
sogar Gelegenheit zu einer Interpellationim
preussischen Abgeordnetenhause gegeben. Hier hat sie freilich keinen Erfolg gehabt, weilvom
preussischen Cultus- minister auf Grundlagevon
statistischenDaten
aus den ver- schiedenen Irrenanstalten in Deutschland dervon Hasse
er-hobene Vorwurf
zurückgewiesen wurde. Dieses Resultat musste sehr befremdlich erscheinen. Die Irrenhaus-Statistik hätte niemals als beweisend gegen die HASSE’scheBehauptung
ins Feld geführt
werden
dürfen, da diejenigen Schädigungenin den psychischen Functionen unserer Jugend, welche
Hasse im
Sinne hatte,wohl zum
allergeringsten Theile gleich inden Irrenanstalten aufzufinden sind. Eine eingehende Dis- cussion über diesen Gegenstand hätte
wohl
gleich das klar-stellen
müssen,
dassHasse
eben nurvon
den extremen Folgen dervon ihm
gerügten Uebelstände redet, dass aber auch schon die ersten, nicht in so grellerForm
auftretenden Consequenzen, dermodernen
Unterrichtsmethodeschlimm
genug
sindund
erschreckend häufigVorkommen
, dass die19
von Hasse
angeregte •Frage eben in weiteremUmfange
wirklich eine sociale
Frage von
grössterBedeutung
ist.Hätte
Hasse
nicht gleich dieGeistesstörung
als Folge der Schulüberbürdung hingestellt, sondern vielmehr dieNer-
vosität, die
Neurasthenie,
so hätte dieVerhandlung im
Aboeordnetenhausewohl
zueinem
anderenEnde
führenO
müssen. Hiergegen hätte der Cultusminister
wohl
keine statistischenDaten
aufführen können.Auf
diesemWege
ist also zunächstnoch
nichts erreicht.Doch
bleibt es aber die einzigeAufgabe
der Aerzte, dieser Krankheitsursache gegenüber belehrendund
aufklärend zu wirken.Und zwar
nicht nur denPädagogen und
der maass-gebenden
Schulobrigkeit gegenüber, sondern besonders auch den Eltern gegenüber. Das,was
die Elternvon
der Schule verlangen,muss
unbedingtvon
Einfluss sein auf die Auf- gaben, welche die Schule sich stelltund
auf dieMethode,
nach welcher sie ihr Ziel zu erreichen sucht.Wenn
auch dieser Satz für dieKnabengymnasien
weniger Geltung hat, so ist er doch einmal für den Elementarunterrichtim
Allge-meinen und dann
fürden Mädchenunterricht bis zu den höch- sten Stufen ganz unanfechtbar. Hier gerade ist aber auch das Bedürfniss nach einer eingreifendenReform
ein schreien- des. Soweit sich das auf den Elementarunterricht bezieht, habe ich es in der oben citirten Schrift bereits auseinander- zusetzen gesucht. InBezug
aufdie höherenMädchenschulen kann
ich hier nur kurz folgende Uebelstände zur Sprache bringen. Es wird einUebermaass
an positivemWissen
ver- langtund
dadurch eineUeberbürdung
des Gehirns mit Ein- drücken, dieim
Wesentlichen nur das Gedächtniss inAn-
spruch
nehmen,
hervorgerufen. Dieseskann
aber naturgemäss nur geschehen aufRechnung
der Begriffsbildung, derOpe-
rationen mit den klar gebildeten Begriffen, das heisst des
20
logischen Denkens. . Ein solches Mis.werhältniss bei der In-
anspruchnahme
der verschiedenen Functionen des Gehirnsin der Entwickelungsperiode dieses
Organes muss
aber eine Disharmonie der Gehirnfunctionen überhaupt, auch in rein somatischer Beziehung zur Folge haben. Andererseits sind aber gerade durch diese Unterrichtsmethode, die Anforde- rungen an die Zeit, welche das jungeMädchen
diesen gei- stigen Operationen opfern muss, zu hoch.Das
Gehirn wirdübermüdet und
den Anforderungen des Körpers dabei nichtGenüge
geleistet. Es bleibt zuwenig
Zeit für die vollstän- dige Erholung, für Schlaf, fürBewegung,
namentlich in frischer Luft etc. noch.Wie
aber ist solchen Uebelständen, die in den Anfor- derungen des Zeitgeistes liegen, abzuhelfen? Meiner
Meinung
nach nur auf dieWeise,
dassman
eine principielleRe- form
derUnterrichtsmethode
anstrebt mit der Intention, das Hauptgewicht nichtmehr
auf dieMenge
despositiven Wissens
zu legen, sondern vielmehr auf dasBegreifen,
auf dasVerstehen und
auf das klare Denken. Entgegnetman
mir darauf, dass nach solcherMethode
den staatlichenAnforderungen
an dasGouvernantenexamen
nicht genügtwerden
könne, so kann ich dagegen nur Folgendes äussern;Erstens bedürfen
wohl
auch dieAnforderungen anein Lehrerin-examen
sehr wesentlicheReformen, denn
für eine Jugend- erzieherin ist es wahrlichmehr
werth,wenn
sie es versteht,den ihr anvertrauten Kindern ein richtiges Verständniss in allen Lehrgegenständen
und
allgemeines richtigesDenken
beizubringen, das lieisstwenn
sie die Grundsätze einer ra- tionellen Pädagogik inne liat, alswenn
sie eineUnmasse von zum
Theil unverstandenem positivem Wissendocumen-
tirt hat. Zweitens sollte aber auch nicht das Gouvernanten-
examen
das Ziel der weiblichen Bildung sein.Wird
nicht21
in den allermeisten Fällen dieses
Examen
erkauft miteinem
guten Stück Gesundheit?Was
sinddenn
unsere jungen i6—
17jährigenGouvernanten?
Sie sind selbstnoch
halbe Kinder,und zwar
nebenbeinoch
meist bleichsüchtigeund
nervöse Kinder, denenman doch
wahrlich nicht dürfte die Erziehung unsererJugend
anvertrauen.Man
vergesse doch nicht, dass der Lehrerberuf ein ganz besonders schwerer ßeaif ist, der über dieGrenzen
der allgemeinen Bildung hinaus einer ganz besonderen Fachbildung bedarf. Beieinem Manne
ist es ganz selbstverständlich, dass er,wenn
er Lehrerwerden
will, ebenso, wiewenn
er Advocat, Arzt oder Pre- digerwerden
will, nach Absolvirung der Schule ein beson- deresStudium
dazudurchmachen muss
, sei esnun
auf der Lniversität oder aufeinem
Lehrerseminar.Warum
wird das bei denjenigenMädchen,
die sich diesen Beruf für die Zu- kunft erwählen, nicht auch verlangt?Es
wäre
also drittens dieForderung
stricte auszusprechen, dass unsere höherenMädchenschulen
, die eben nur die all-
gemeine
Bildung bieten sollen, sich nie als Ziel dasGouver- nantenexamen
stellen dürften, dass vielmehr,um
dieses ab-solviren zu
können,
durchaus erst nachBeendigung
der Schule ein besonderer Lehrerinnencursusvon
mindestens3 Jahren
Dauer
durchgemachtwerden
müsste, dassdem
entsprechend auch nie ein junges
Mädchen zum
Gouvernanten-examen
zugelassenwerden
dürfte vor Absolvirung des zwanzigsten Lebensjahres.Auf
eine soviel längere Frist vertheilt könnte dienun
einmal verlangteMasse von
posi- tivemW
issenohne
Schädigung des Gehirnsund
des ganzen Nervensystemsnoch
allenfallserworben
werden.Dieses zu erstreben durch Belehrung
und
Aufklärung, das ist eben dieAufgabe
des Arztes,und zwar
namentlich den Eltern gegenüber, damit diese nur Schulen suchen, dienach solchen Principien unterrichten.
Nach
derNachfrage des Publicums wird sich hier auch dasAngebot von
Seiten der Privatschnlen— und
unsere höheren Mädchenschulen sind ja meist Privatschulen—
bilden.Es
mag
auffallend erscheinen, dass ichmich
über diesen Gegenstand hier so weit ausgelassen habe, ich halte ihn aber bei der Prophylaxis der Hysterieund
der Neurastheniefür ganz
immens
bedeutungsvoll. Ich muss, auf Erfahrung gestützt, behaupten , dass die Mehrzahl dieser Erkrankungs-fälle
immer
ihren erstenKeim
aus den Schuljahren datirt.Und wenn
ich vorhinvon
einer angeborenen oder schon früherworbenen
Disposition des Nervensystems alsvon
einer
nothwendigen Bedingung
zu derartigenErkrankungen
gesprochen habe, so habe ich eben für die erworbene Dispo-sition gerade diese
abnormen
Einflüsse der Schuleim
Sinne gehabt. Entwickelt sich unter diesen nicht schon gleich die fertige Hysterie oder Neurasthenie, so giebt sie denarmen Mädchen
doch mindestens die Disposition dazu für’sLeben
mit.Noch
eines Umstandes, der auch in gewisser Beziehung zur Schule steht,muss
ich hier bei der Prophylaxis noch erwähnen. Es ist das die Artund Weise,
wie in unserer Zeit, namentlichvon
der weiblichen Jugend dieMusik
getrieben wird. Diese populärste aller Künste, die zweifellos den bildendsten, genussreichsten
und
schönsten Einfluss auf diegesammte
menschliche Gesellschaft, besonders aber auf die gebildeten Classen derselben ausübt, die also so recht eine Kunst für’sLeben und
für’sHaus
ist, kann doch zu einer höchst gefährlichen Klippe für unsere jungenMädchen
werden.Und zwar
liegt die Geflthr darin, dass einmal inden Fällen,
wo
es sichum
berufsmässige Ausbildung für die Kunst handelt, schonvon
frühester Jugend an ein grossesMaass an technischer
Uebung
geradezunothwendig
ist—
es handelt sich in den meisten Fällen ja
um
das Clavier- spiel. Ein solches ist aber mit den heutigenAnforderungen
der Schule ganz unvereinbar. Es
kann
also nur durch eine verdoppelteAnspannung
desNervensystems
geleistet werden.\\'as ist die Folge
davon?
Dass ein grosser Theil der jungen Künstlerinnen, sobald sievon
der Schule befreit, sichnun
ganz dieserKunst
(sc. Clavierspiel)widmen,
nicht nurvom
Clavierspielerkrampf befallenwerden,
sondern auch überhaupt ihr ganzesNervensystem
so heruntergebracht haben, dass sie in derKunst
ebendoch
nicht das leistenkönnen
,
was
ihnen
in ihren Idealen vorschwebte, dass sie sich für verfehlte Existenzen haltenund
dadurch erst recht nervös werden.Diesem
Uebelstande lässt sich freilich ärztlicherseitsschwer steuern.
Einem
zweiten in derMusik
bedingten aberwohl
eher. Es ist dasmoderne
Bestreben, jedesKind
durchausim
Clavierspiel unterriditen zu lassen, ganz
ohne
Berücksichtigung des
Umstandes,
ob das betreffendeKind
auch irgend eine musikalischeAnlage
hat oder nicht. Ist letzteres der Fallund
wirddem Kinde
die schwierigeTechnik
der
Musik
ohne Lustund Anlage
dazuaufgezwungen,
sokönnen
die Schädigungen desNervensystems
dadurch ganz unberechenbar grosse sein. DieInanspruchnahme
desGe-
hirns nach einer Seite hin
, nach welcher es
wenig
ent- wickelungsfähig ist, greift da.sselbeund
damit weiter auch das ganzeNervensystem
thatsächlich in vielhöherem Grade
an.
Nun
steht es aber fest, dass gerade inBezug
auf dieTalente
das menschliche Gehirn,mehr
als bei irgend einer anderen Geistesthätigkeit,von Hause
aus ganz verschieden beanlagt, verschieden organisirt ist.— Aufgabe
des Arztesmuss
es also sein,wenn
er bei seinen Schutzbefohlenen die24
Entstehung der allgemeinen Nervosität verhindern will, da- hin zu wiiken, dass
man
musikalisch nicht beanlagten Kin- dein nicht den Unterricht in derMusik
aufzwingt.Wenn
ich hiermitmeine
Besprechung der Prophylaxis der uns beschäftigenden Krankheitsformen beschliesse, so glaube ich nicht, sie erschöpft zu haben. Ichmuss
nur das übrige der Hygieine überhauptund
speciell derSchulhygieinc überlassenund
habe hier nur diejenigen Punkteerwähnen
wollen, die mir ganz besonders wichtig erscheinen, die aber, wie ich meine, an anderenOrten
zuwenig
Berücksichtigunggefunden haben.
Bei Besprechungder
Therapie der Hysterie und
derNeurasthenie
selbstmuss
ich mit derpsychischen
Be-handlung
beginnen. Sie ist meinerMeinung
nach der beiweitem
wichtigste Factor dieser Krankheitsgruppe gegenüber.Den
Ausspruchvon Gerhardt (Volkm.
klin. Vortr. Nr. 209):»Diese Krankheit (sc. die allgem. Nervosität) heilt niclit die Arzenei, sondetn der Arzt«, halte ich für durchaus wahr.
Und
doch ist diesenKranken wohl
durch nichts so vielSchaden zugefügt worden, als durch eine vermeintliche psy- chische
Behandlung sowohl von
Aerzten alsvon
Laien.Dieser
Umstand
findet seine Erklärung nur darin, dass dieseKranken
eben nur zu oft nicht alsKranke
anerkannt wer- denund dem
entsprechend auch nicht alsKranke
behandelt werden, sondern als ungezogene, launenhafteund
energielose Individuenund
dass die sogen, psychischeBehandlung
eben nur dieser Auffassung entspricht, das heisst entweder in Lächerlichmachen desKranken
oder in rücksichtsloser Strengeund
in der ewigen Predigt, sich nichtgehen
zu lassen, sichzusammenzunehmen,
sich zuzwingen
zu dem,was
verlangt wird, etc. besteht. Mit solcher psychischer Beliandlungwird nicht nur nichts erreicht, sondern sehr wesentlich geschadetund daraus endlich der Schluss gezogen, »solchen eigen- sinnigen
Nervösen
ist überhaupt nicht zu helfen«.Der
Scha- den, der auf diese \\^eise gestiftet wird, besteht aber darin, dass die so behandeltenKranken
einestheils indem
Gefühle der Gekränktheit, dassman
ihren wirklichvorhandenen
Leiden keinen Glauben schenkt, hineinforcirtwerden
in das Bestreben, ihre Leiden zu übertreiben,um
nurAnerkennung und
Mitleid zu erwerben. Anderentheils aber wiederkann
dieses Verhalten den
Kranken
gegenüber sie dazu bringen, dass sie, gewissenhaft mit sich kämpfend,immer
nur zeigen wollen, wie unrecht es sei, ihnen denVorwurf
des Sich- gehenlassens zumachen und nun
wirklich ihre Krankheit überwinden wollenund
in der unsinnigstenWeise
alles for- ciren,was
für ihren Zustand factischunmöglich
ist. Natür-lich ist das ein vergebliches
Ansinnen
, sie erreichen damit nichts, als dass sie endlich,
wenn
dasMaass
ihre Kräfte überstiegen hat, ganz liegen bleibenund dann
erst recht verbittertwerden gegen
Diejenigen, die ihnenimmer
noch vorwerfen, sie liessen sich nur gehen. Ja, ich finde geradezu, dass bei solchenKranken
zuweilen dieFurcht vor dem
Sichgehenlassen
zu einer fixen Idee wird, dass sieohne Grund von
allerWelt
diesen \'orwurf voraussetzen, dass sie ich kannmich
nicht anders ausdrücken—
sich zuletzt wirklich maasslos gehen lassen in der Furcht vordem
Sich- gehenlassen. Mir sindmanche
Fälle in der Erinnerung,wo
es mir die grösste
Mühe
gekostet hat, erst dieses Gespenst auszutreibenund wo
erst,nachdem
das gelungen, eine wirk-lich
zum
Ziele führende ps}xhischeBehandlung
eintreten konnte.Eine wirklich heilsame
psychische Behandlung
hat vielmehr darin zu bestehen, dass der Arztdem
Patienten volleAnerkennung
seines wirklich vorhandenen Krankheits-26
Zustandes,
Theilnahme und
wissenschaftliches Interesse für denselben zeigt. Volles blindesVertrau en zum
Arzte isteine conditio sine qua
non
zu gedeihlicher Behandlung.Das
ist abernoch
nicht genügend, der Arztmuss dem
Pa- tienten imponiren, ermuss
beiihm
in strengemRes pect
stehen.
Nur
so ist es möglich, dass er einen umfassenden persönlichen Einfluss über ihn gewinnt.Der
Patientmuss
sich durchaus abhängig fühlen
von
seinem Arzte.Er muss ihm
blindund
bis ins Kleinste hinein gehorchen.Nur
beieinem
solchen Verhältniss ist es möglich, dass die frappiren- denWirkungen
eines festund
sicher ausgesprochenen »Stehe aufund wandle«
wirklichVorkommen
können.Und zwar
sind diese Fälle
—
natürlich nichtimmer
wörtlich zu fassen—
keineswegsweder
Charlatanerieund
Schwindelvon
Seiten des Arztes,noch
auchvon
Seiten des Patienten ein Beweis, dass es sich beiihm
nurum
Simulation gehandelt habe. Sie beweisen vielmehr nur, wie weitKrankheitssymptome
, spe- ciell solche, die sich auf den Einfluss des Willens, auf die
motorische Sphäre beziehen,
von
der Psyche abhängig sind,wie dieLeistungsfähigkeit
von dem
Bewusstsein der Leistungs- lahigkeit abhängt. Sie beweisen andererseits aber auch, welchen Einfluss die Person des Arztes eben auf die Psyche desKranken
hatund
dass der erstere diesen in tactvollerWeise
auch nuram
richtigen Orte zu benutzen gewussthat. Bleibt aber der Erfolg aus, so ist es mit der Autorität des Arztes diesem
Kranken
gegenüber vorbeiund
er wird niemehr
beiihm was
leisten können.Der von
Laien so oft gebrauchte Ausdruck, solche Pa- tienten dürfen sich nichtgehen
lassen, eskömmt
nur auf den festen Willen an, dieser alsomuss
nur gestählt werden, hat also ingewissem
Sinne seine volle Richtigkeit.Nur
aber darf sich das in erster Reihe blos auf das Verhältniss
27
zum
Arzte beziehen.Diesem
gegenüber darfvon einem
Sich- gehenlassen gar keineRede
sein, diesem gegenüber darf der Patientgar keineneigenenWillen haben. SolcheKranke müssen
in der
That
streng erzogenwerden,
aber nurvon
ihrem Arzte, der ein volles Verständniss für die Objectivität der Krankheit hat, der ganzgenau
weiss,was
ervon
seinemKranken
fordern kann, das Gefordertedann
aber auch mit eisernerConsequenz
durchsetzt.Nie
aber darf diese Erzie-hung von Angehörigen
oder anderen Laien, nie aber auchvon dem Kranken
an sich selbstohne
ärztliche Anleitung geübt werden. Hier geht nämlich das Urtheil ab über die Grenze, biswohin
dasSichzusammennehmen,
das Forcirengehen
darf,und
dadurch wird schliesslichmehr
geschadet als genützt.Eine solche Erziehung
isteben schlechter
alsgar keine Erziehung.
Es ist ein Factum, dass die an den functioneilen allge-
meinen
Neurosen
leidendenKranken
in den allermeisten Fällen sehr gequält sind durch eine innereUnruhe,
durch fortwährendesSchwanken im
Entschluss, durch denKampf
zwischen guten Vorsätzen
und dem Mangel
an Kraftund
Energie sie auszuführen
, sie sind unstät
und
zerfahren injhrem
ganzenWesen. Darum
besteht ein wesentlicher Factor bei der Erziehung dieserKranken
darin, sie anRe- gelmässigkeit, Consequenz und Ausdauer
zugewöh-
nen.
Das
ist aber nur zu erreichen,
wenn
ihnen ihre Lebensweise bis aufdas kleinste Detailgenau
vorgeschrieben wird. Diese Vorschrift, die ich solchenKranken
ineinem
förmlichen Stundenzettel schriftlich zu geben pflege, aufwelchem
ihnen Aufstehenund
.Schlafengehen, Spazierengehen und Liegen, alle Mahlzeitenund
jede einzelne vorzuneh-mende
Beschäftigung genau angegeben i.st,muss
peinlich streng eingehalten werden. Sie mü.ssen inAllem
genau28
nach der
Uhr
leben.' Es istmerkwürdig, was
eine solcheVerordnung
für einen wohlthiienden Einfluss ausübt. In den meisten Fällendanken
mir dieKranken
schon nach den erstenTagen
ganz besonders für diesen Stundenzettel. Sie fühlen sich befreitvon
ihrer beunruhigenden ^^Unsicherheit, sie brauchen nichtmehr
indem
Entschluss zu schwanken, ob sie dies oder das thun sollen, sie haben eben nichts zu entscheiden. Sie fühlen einen höheren Willen über sichund
das thut ihnen wohl. Besonders aber sind sie befreit
von
der ewigen beunruhigenden Furcht, dieser oder jener könntemeinen
, sie Hessen sich
gehen
,denn
sie handeln ja beiAllem
nur nach strenger ärztlicher Vorschrift. Durcli diese Sicherheit sindmanche Kranke
wievon
einemBanne
befreit.
Ganz
besonderserwähnen mussich
bei dieserpsychi- schen Diät
abernoch
eines Umstandes.Der
Arzt ist auf dieseWeise im
Stande, auch die geistige Thätigkeit solcherKranken
in eine ganz bestimmteBahn
zu lenken.Und zwar
ist es besonders nützlich, das Gehirn in einer ganz anderen Richtung hin zu bethätigen, als es nach den früherenGewohnheiten und
Beschäftigungen derKranken
der Fall war. Diesen practischen Grundsatz hebt auchMöbius
in seiner vortreft'lichen Schrift »Die Nervosität«, Leipzig 1882, hervor. Es Hesse sich die unleugbar günstigeWirkung
dieser Maassregel vielleicht dadurch erklären, dassman
bei einergewohnheitsmässigen einseitigen Beschäftigung eben eine bestimmte Region des Gehirns in einen besonderen Er- schöpfungszustand versetzt
und
diese entlastet wird durchdie zeitweilige