A 182 Deutsches Ärzteblatt
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Jg. 112|
Heft 5|
30. Januar 2015KASUISTIK
Beendigung einer Beatmung bei
amyotropher Lateralsklerose mit rasch progredienter Bulbärsymptomatik
Ein 67-jähriger stets vollständig orientierter, beatmungspflichtiger Patient entscheidet nach einem 6-monatigen Krankheitsverlauf einer amyotrophen Lateralsklerose (ALS) mit rasch progredienter respiratorischer Insuffizienz, Dysarthrie und schweren Schluckstörungen über die Beendigung der Respiratortherapie.
D
er Patient wird von seinem Hausarzt und seinen behan- delnden Neurologen im Zentrum für Beatmungsmedizin vorgestellt.In der Vorgeschichte seit drei Mo- naten progrediente klinische Symp- tomatik mit initial Dysarthrie, im Verlauf zunehmende Dyspnoe und Schluckstörungen. Therapieeinlei- tung mit Riluzol bei Diagnose einer ALS mit primärer bulbärer Sympto- matik. Bei rascher Progredienz der Erkrankung mit respiratorischer Globalinsuffizienz bestand die In - dikation zur Einleitung einer Be - atmungstherapie. Es erfolgten meh- rere ausführliche Gespräche mit dem Patienten und seiner Ehefrau über die Prognose der inkurablen Grunderkrankung sowie die Opti- on, die Dyspnoe durch eine zu- nächst intermittierende nicht-inva- sive Ventilationstherapie (NIV) zu lindern. Ebenso wurden die mögli- chen Eskalationsstrategien mit Tra- cheotomie, kontinuierlicher Beat- mung und PEG-Anlage thematisiert.
Ausführlich wurde bereits initial die zu jedem Zeitpunkt grundsätzli- che Reversibilität dieser invasiven Maßnahmen dargestellt. Die Kom- munikation mit dem Patienten er- folgte schriftlich, da er sich auf- grund der Dysarthrie nicht mehr verständlich artikulieren konnte.
Seitens des Patienten bestand zu- nächst ein dringender Therapie- wunsch, da er sich „von dem ra- schen Krankheitsverlauf überrollt fühlte“. Im weiteren Verlauf wur- den bei gravierenden Problemen mit der Beatmungsmaske unter der NIV eine Tracheotomie sowie bei
schweren Schluckstörungen die Anlage einer PEG erforderlich, der der Patient zustimmte. Drei Monate nach Erstaufnahme im Beatmungszentrum verfügte der bewusstseinsklare Patient schrift- lich, dass er sein Leben ohne Luft- not beenden wolle und dass das Be- atmungsgerät ausgeschaltet werden solle. Der Patient verstarb unmittel- bar nach Beendigung der Respira- tortherapie unter symptomatischer Behandlung mit sedierenden Medi- kamenten und Gabe von Opioiden.
Fragestellung
Für die behandelnden Ärzte und das Behandlerteam stellt sich die Frage, ob eine Beendigung der zunächst durch den Patienten zugestimmten Beatmungsbehandlung medizinisch und ethisch vertretbar und rechtlich zulässig ist, da allen bewusst ist, dass der Patient ohne die invasive Beatmung unmittelbar versterben würde.
Kommentar aus medizin - ethischer und medizinrecht - licher Sicht und Fazit
Die Entscheidung über die Einlei- tung, die weitere Durchführung oder Beendigung einer ärztlichen Maßnahme wie eine nicht-invasive oder invasive Respiratortherapie wird im Falle eines einwilligungsfä- higen Patienten in einem gemeinsa- men Entscheidungsprozess von Arzt und Patient getroffen. Das Behand- lungsziel, die Indikation der daraus abgeleiteten Maßnahmen, die Frage der Einwilligungsfähigkeit des Pa- tienten und der maßgebliche Patien-
tenwille müssen im Gespräch zwischen Arzt und Patient unter Berücksichtigung des Verlaufes der Grunderkrankung stets aufs Neue aktualisiert werden. Auf aus- drücklichen Wunsch eines einwilli- gungsfähigen und ärztlich ausführlich beratenen Patienten mit respiratori- scher Insuffizienz muss eine Beat- mung unter konsequenter symptoma- tischer Therapie beendet und seinem Wunsch nach einem würdevollen Sterben ohne Dyspnoe oder Schmer- zen entsprochen werden.
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Expertenteam: Erik Bodendieck, Dr. med. Michael Hamm, Prof. Dr. jur Volker Lipp, Prof. Dr. med. Frie- demann Nauck, Prof. Dr. phil. Alfred Simon, Dr. med. Martina Wenker
LITERATUR
Janssens U, Burchardi H, Duttge G, Erchin- ger R, Gretenkort P, Mohr M, Nauck F, Roth- ärmel S, Salomon F, Schmucker P, Simon A, Stopf kuchen H, Valentin A, Weiler N, Neitz- ke G (2012): Therapiezieländerung und Therapie begrenzung in der Intensivmedizin.
Positionspapier der Sektion Ethik der DIVI.
MedR 30: 647–50 (siehe auch: http://www.
divi.de/images/Dokumente/Empfehlungen/
Therapiezielaenderung/Positionspapier_
Ethik_2012.pdf).
Unter www.aerzteblatt.de/umgangmitsterben hat das Deutsche Ärzteblatt ein Glossar der wichtigsten Begriffe sowie weitere Beiträge zum Thema „Umgang mit Sterben“
zusammengestellt. Die Seite wird sukzessive um die Beiträge der Serie mit palliativmedizinischen Kasuistiken ergänzt. Die wichtigsten Artikel aus den letzten Jahren stehen als PDF-Ausgabe zur Verfügung.