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Subtypen und Propagationsmuster der thorakalen Form der Amyotrophen Lateralsklerose

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Universitätsklinikum Ulm Klinik für Neurologie Prof. Dr. med. Albert C. Ludolph

Subtypen und Propagationsmuster der thorakalen Form der Amyotrophen Lateralsklerose

Dissertation zur Erlangung des Doktorgrades der Medizin

der Medizinischen Fakultät der Universität Ulm

vorgelegt von Konstantin Lucca Eder

Ludwigsburg

2021

(2)

Amtierender Dekan: Prof. Dr. T. Wirth 1. Berichterstatter: Prof. Dr. A. Ludolph 2. Berichterstatter: Prof. Dr. D. Rothenbacher Tag der Promotion: 24. Juni 2021

(3)

Für meine Mama.

(4)

Inhaltsverzeichnis

INHALTSVERZEICHNIS ... I ABKÜRZUNGSVERZEICHNIS ... III

1. EINLEITUNG ... 1

1.1 Amyotrophe Lateralsklerose ... 1

1.1.1 Definition und Epidemiologie ... 1

1.1.2 Klinik und Diagnosestellung ... 2

1.1.3 Therapie und Prognose ... 3

1.2 Neuropathologische Stadieneinteilung ... 4

1.3 Propagationsmuster ... 5

1.4 Fragestellung und Zielsetzung ... 7

2. PATIENTEN UND METHODEN ... 8

2.1 Patienten ... 8

2.2 Methoden ... 9

2.2.1 Charakteristika der thorakalen ALS ... 9

2.2.2 Untersuchung des Propagationsmusters ... 10

3. ERGEBNISSE ... 11

3.1 Charakteristika der thorakalen ALS ... 11

3.1.1 Demographische Verteilung ... 11

3.1.2 Klinische Präsentation ... 13

3.1.3 Gewichtsentwicklung ... 15

3.2 Untersuchung des Propagationsmusters ... 17

3.2.1 Überblick über die Propagation bei thorakalen ALS-Patienten ... 17

(5)

3.2.2 Primäre Affektion der Atemmuskulatur ... 18

3.2.3 Primäre Affektion der autochthonen Rückenmuskulatur ... 19

3.3 Typische Fallvignetten der thorakalen ALS-Patienten ... 22

3.3.1 Primäre Affektion der Atemmuskulatur ... 22

3.3.2 Primäre Affektion der autochthonen Rückenmuskulatur ... 23

3.3.3 Besonders schwere Verlaufsform ... 24

4. DISKUSSION ... 25

4.1 Besonderheiten der thorakalen ALS-Patienten ... 25

4.1.1 Männliche Vulnerabilität ... 25

4.1.2 Zusammenhang zwischen Geschlecht und Erkrankungsalter ... 26

4.1.3 Rolle der Beatmung bei der Lebenserwartung ... 27

4.1.4 Gründe für den ungewollten Gewichtsverlust ... 28

4.2 Das Propagationsmuster der Erkrankung bei thorakalen ALS-Patienten ... 30

4.2.1 Keine klaren Hinweise für kortikales Spreading ... 30

4.3 Limitationen der Studie ... 33

4.4 Ausblick ... 33

5. ZUSAMMENFASSUNG ... 35

6. LITERATURVERZEICHNIS ... 36

7. DANKSAGUNG ... 46

8. LEBENSLAUF ... 47

(6)

Abkürzungsverzeichnis

ALS Amyotrophe Lateralsklerose

COPD Chronic Obstructive Pulmonary Disease C9orf72 chromosome 9 open reading frame 72

DTI Diffusion-Tensor-Imaging

ED Erstdiagnose

EM Erstmanifestation

fALS familiäre ALS

FTD Frontotemporale Demenz

FUS fused in sarcoma

NIPPV non-invasive positive pressure ventilation NIV non-invasive ventilation

pTDP-43 phosphoryliertes TDP-43

RKU Rehabilitations- und Universitätsklinikum Ulm

sALS sporadische ALS

SD Standardabweichung

SOD-1 zytosolische Cu/Zn-Superoxiddismutase-1 TARDBP TAR DNA binding protein

TDP-43 transactive response DNA binding protein 43 kDa

vgl. vergleiche

(7)

1. Einleitung

1.1 Amyotrophe Lateralsklerose 1.1.1 Definition und Epidemiologie

Die Amyotrophe Lateralsklerose (ALS) ist eine der wichtigsten altersabhängig auftretenden neurodegenerativen Erkrankungen.

Seit der Erstbeschreibung 1869 durch den französischen Neurologen Jean-Martin Charcot (Charcot & Joffroy, 1869) hat das Wissen um die Erkrankung enorm zugenommen und doch kann man diese Krankheit bis heute nicht heilen. Definiert wird sie über die Degeneration des Nervensystems. Im Vordergrund steht die Erkrankung des ersten und des zweiten Motoneurons. Das erste Motoneuron beschreibt die Betz-Zellen im

motorischen Cortex und den Tractus corticospinalis, das zweite Motoneuron die

Vorderhornzellen des Rückenmarks und die bulbären motorischen Hirnnervenkerne und ihre Axone. Das Spektrum der Erkrankung umfasst nicht nur die klassische Form der ALS, sondern auch die Unterformen primäre Lateralsklerose, progressive Bulbärparalyse, die progressive Muskelatrophie und das Flail-Arm-/Flail-Leg-Syndrom (Ludolph et al., 2015a).

Es kann zwischen einer sporadisch auftretenden Form (sALS) und einer familiären Form (fALS) unterschieden werden, wobei die sALS deutlich häufiger ist (ca. 95%) (Kiernan et al., 2011; Rosenbohm et al., 2017). Als häufigste Ursache der fALS wird in Europa eine

Mutation im C9orf72-Gen (chromosome 9 open reading frame 72) angesehen (Hübers et al., 2013). Weitere Mutationen betreffen unter anderem die Gene der zytosolischen Cu/Zn-Superoxiddismutase-1 (SOD-1), FUS (fused in sarcoma) und TARDBP (TAR DNA binding protein) (Andersen & Al-Chalabi, 2011). Intrazelluläre Einschlüsse des durch TARDBP kodierten Proteins TDP-43 (transactive response DNA binding protein 43 kDa) spielen sowohl bei der ALS als auch bei etwa der Hälfte der Patienten, die an einer Frontotemporalen Demenz (FTD) leiden, eine entscheidende Rolle in der Pathogenese (Neumann et al., 2006). Aus diesem molekularen Grund wird heute auch von einer ALS- FTD-Spektrumserkrankung gesprochen (Hübers et al., 2016).

In Süddeutschland tritt die ALS mit einer Inzidenz von etwa 3 pro 100 000 Einwohner pro Jahr auf (Rosenbohm et al., 2017). Sie stellt somit die häufigste Form der

(8)

Motoneuronerkrankungen dar.Männer sind häufiger betroffen als Frauen. Der

alterskorrigierte Erkrankungsgipfel liegt bei 70 bis 75 Jahren (Rosenbohm et al., 2017).

1.1.2 Klinik und Diagnosestellung

Klinisch manifestiert sich die Erkrankung meist durch eine initial distal betonte, fokale Atrophie der Extremitätenmuskulatur. Man spricht in diesem Fall von einer spinalen Form der ALS. In bis zu einem Drittel der Fälle entwickeln die Patienten primär eine bulbäre Symptomatik, welche initial mit Sprech- oder Schluckstörungen einhergeht. Eine

Beteiligung der Atemmuskulatur stellt für die meisten Patienten den lebenslimitierenden Faktor dar (Kiernan et al., 2011).

Während sich eine Beteiligung der Atemmuskulatur in den meisten Fällen erst in späteren Stadien der Erkrankung zeigt, sind Patienten mit isoliertem respiratorischem Beginn selten (de Carvalho et al., 1996; Oh et al., 2017; Shoesmith et al., 2007). Erste Symptome dieser Patienten reichen von einer milden Belastungsdyspnoe bis hin zu Orthopnoe, sodass Betroffene lediglich im Sitzen schlafen können (Shoesmith et al., 2007). Hyperkapnie- assoziierte Symptome wie morgendliche Kopfschmerzen, Schlafstörungen oder

Konzentrationsschwierigkeiten können ebenfalls auftreten (Shoesmith et al., 2007). Noch seltener tritt die Erkrankung durch primäre Paresen der autochthonen Rückenmuskulatur auf. Erste Symptome dieser Subgruppe sind oftmals lediglich eine Rumpfhalteschwäche oder eine Schwäche der Nackenmuskulatur (Talbot, 2009).

Zusammengefasst werden diese beiden Subformen unter dem Begriff der thorakalen Form der ALS. Sie tritt nur bei etwa 3% aller ALS-Patienten auf (Rosenbohm et al., 2017;

Shoesmith et al., 2007). Aufgrund der Seltenheit dieser Subform und der zum Teil sehr unspezifischen Symptomatik ist es nicht verwunderlich, dass Betroffene meist erst über Umwege zum Neurologen gelangen (Chio, 1999).

Typischerweise beginnen die Symptome der ALS fokal und breiten sich im Verlauf der Erkrankung kontinuierlich auf angrenzende Körperteile oder Regionen (bulbär, thorakal) aus (Ravits & La Spada, 2009; Ravits et al., 2007b). Klinisch spricht man von einem

Spreading (Ravits & La Spada, 2009). Im Mittelpunkt der Symptomatik stehen Zeichen der Degeneration des ersten und des zweiten Motoneurons. Klinische Zeichen für eine

(9)

Schädigung des ersten Motoneurons sind gesteigerte Muskeleigenreflexe,

Pyramidenbahnzeichen und ein spastisch erhöhter Muskeltonus. Für eine Schädigung des zweiten Motoneurons sprechen atrophische Paresen und Faszikulationen. Zunehmende Bedeutung kommen auch den kognitiven Beeinträchtigungen und Verhaltensänderungen im Rahmen des ALS-FTD-Spektrums zu. Bis zu 50% der ALS-Patienten entwickeln im Laufe ihrer Erkrankung milde kognitive Defizite, etwa 5% weisen sogar das Vollbild einer FTD auf (Lule et al., 2015).

Unterschiedliche Verläufe, individuelle Paresemuster sowie eine individuelle

extramotorische Beteiligung führen zu einer großen Heterogenität des Phänotyps(van Es et al., 2017). Dies stellt auch die klinische Diagnostik vor einige Herausforderungen. Die Diagnosestellung erfolgt grundsätzlich anhand des klinischen Bildes nach den

überarbeiteten El-Escorial Kriterien(Brooks et al., 2000). Da die dort vorgeschlagene Einteilung in klinisch vermutet, klinisch möglich, klinisch wahrscheinlich, laborgestützt- wahrscheinlich und klinisch definitiv sich für den klinischen Alltag als zu wenig sensitiv herausgestellt hat (Agosta et al., 2015), existiert seit 2015 ein neuer Versuch einer

Überarbeitung (Ludolph et al., 2015b). In dieser wird besonders die Heterogenität der ALS und deren enge Beziehung zur FTD genauer berücksichtigt. Außerdem ist der alleinige Befall von einzelnen Regionen (bulbär, thorakal) als Diagnosekriterium anerkannt.

1.1.3 Therapie und Prognose

Bis heute ist die Ätiologie der Erkrankung weitestgehend ungeklärt. Eine kausale Therapie existiert nicht. Das einzige in Europa zugelassene Medikament ist der Glutamat-Antagonist Riluzol, für den eine lebensverlängernde Wirkung von zwei bis drei Monaten bei einer verbleibenden Lebenserwartung von 12 Monaten beschrieben ist (Miller et al., 2012).

Ins Zentrum des Therapiekonzeptes rückt somit eine symptomorientierte Therapie und die Vermeidung negativ prognostischer Faktoren. Als prognostisch ungünstig gelten ein

bulbärer Beginn, hohes Alter bei Krankheitsbeginn und ungewollter Gewichtsverlust (Chiò et al., 2009; Steyn et al., 2018).Lebensverlängernd hingegen wirkt eine nicht-invasive Beatmung (NIV) (Bourke et al., 2006; Dorst et al., 2019). Außerdem scheinen moderate sportliche Aktivität sowie erhöhte Lipidspiegel im Blut einen positiven Einfluss auf das Überleben zu haben (Dorst et al., 2011; Dupuis et al., 2008; Lisle & Tennison, 2015).

(10)

Die bestmögliche Betreuung eines ALS-Patienten wird durch ein multidisziplinäres Team aus Ärzten, Therapeuten und Angehörigen erreicht (Traynor et al., 2003; Van Den Berg et al., 2005).

Trotz allen Bemühungen ist die Prognose schlecht. Die Erkrankung verläuft meist rasch progredient und führt nach durchschnittlich zwei bis drei Jahren nach Symptombeginn zum Tod durch respiratorische Insuffizienz (Gordon, 2013).

1.2 Neuropathologische Stadieneinteilung

Studien haben gezeigt, dass fehlgefaltete, zytoplasmatische Einschlüsse von

phosphoryliertem TDP-43 (pTDP-43) eine entscheidende Rolle in der Pathogenese der ALS und der FTD spielen (Neumann et al., 2006). TDP-43 ist ein hoch konserviertes Protein, welches physiologischerweise im Zellkern vorkommt und dort als RNA-Bindungs-Protein eine wichtige Rolle bei der Transkription spielt (Brettschneider et al., 2013; Lee et al., 2011). In erkrankten Zellen wird TDP-43 aus dem Zellkern in das Zytoplasma umverteilt, wo es anschließend zur Bildung phosphorylierter Einschlusskörperchen kommt (Neumann et al., 2006). Etwa 97% aller ALS-Patienten weisen diese Proteinopathie auf (Hardiman et al., 2017).

Auf dieser Grundlage erstellten Brettschneider, Braak et al vier neuropathologische Stadien der ALS (Brettschneider et al., 2013). Dazu untersuchten sie post mortem die Gehirne von 76 ALS-Patienten.

Im Anfangsstadium (Stadium 1) sind die pathologischen Einschlusskörperchen auf den agranulären Motorkortex, die a-Motoneurone im Vorderhorn des Rückenmarks und die bulbären Hirnnervenkerne V, VII und X-XII beschränkt. In Stadium 2 breitet sich die

Erkrankung entlang kortikaler Assoziationsfasern auf den präfrontalen Neokortex und von dort monosynaptisch auf die präcerebellären Kerne und die Formatio reticularis aus. In Stadium 3 sind der supraorbitale Kortex, der postzentrale Neokortex und monosynaptisch angebundene Neurone des Striatums (vor allem Nucleus accumbens) betroffen. Im Endstadium (Stadium 4) haben sich die Einschlüsse bis in anteromediale Anteile des Temporallappens einschließlich des Hippocampus ausgebreitet.

(11)

Diese neuropathologische Stadieneinteilung konnte bereits in vivo mittels Diffusion- Tensor-Imaging (DTI) bestätigt werden (Kassubek et al., 2014; Schulthess, 2016). Dadurch soll es in Zukunft möglich sein, Patienten individueller und je nach Progression der

Erkrankung spezifischer zu behandeln.

1.3 Propagationsmuster

Es ist klinisch bekannt und durch die Untersuchungen zum Staging der ALS

neuropathologisch belegt, dass sich die Erkrankung kontinuierlich in Hirnarealen und damit sekundär in der damit verbundenen Muskulatur ausbreitet (Brettschneider et al., 2013;

Kanouchi et al., 2012; Ravits & La Spada, 2009). Zugrundeliegend ist die oben beschriebene Propagation von pathologischen pTDP-43-Einschlusskörperchen in Neuronen und

Gliazellen (Brettschneider et al., 2013).Klinisch äußert sich dies in einem progressiven Paresemuster (Ravits & La Spada, 2009).Außerdem konnte gezeigt werden, dass das Fortschreiten der Erkrankung mit der Größe der Proteinaggregate und der Zahl der betroffenen Zellen assoziiert ist (Brettschneider et al., 2015; Mori et al., 2008). Ähnliche Beobachtungen wurden bereits bei anderen neurodegenerativen Erkrankungen wie der Alzheimer-Demenz oder dem Morbus Parkinson gemacht (Guo & Lee, 2014). Auch hier führen fehlgefaltete Proteinaggregate und deren Propagation zum Fortschreiten der Erkrankung (Braak & Braak, 1991; Braak et al., 2002, 2003).

Die Arbeiten von Brettschneider und Braak liefern Hinweise für eine primär kortikale Läsion mit Ausbreitung der pTDP-43-Einschlusskörperchen auf kortikofugaler sowie kortikaler Ebene (Braak et al., 2013; Brettschneider et al., 2013). Es wird davon ausgegangen, dass sich die Erkrankung zuerst kortikofugal entlang bestehender

synaptischer Verbindungen ausbreitet (Ravits, 2014). Dabei erscheinen monosynaptisch angebundene, subkortikale Kerngebiete besonders vulnerabel zu sein (Braak et al., 2013).

Dies gilt vor allem für den Tractus corticospinalis und monosynaptisch angebundene a- Motoneurone des Rückenmarks (Braak et al., 2017).

Experimentelle Studien zeigen, dass TDP-43 sowohl anterograd als auch retrograd zwischen synaptisch verbundenen Neuronen transportiert wird (Fallini et al., 2012; Feiler et al., 2015). Klinisches Korrelat ist eine kontinuierliche Ausbreitung der Paresen auf direkt

(12)

angrenzende Körperregionen (Ravits, 2014; Ravits & La Spada, 2009; Ravits et al., 2007a).

Die deutliche Mehrzahl der ALS-Patienten weist dieses Ausbreitungsmuster auf(Kanouchi et al., 2012).

Aktuelle Studien zeigen jedoch, dass sich die Erkrankung nicht immer nur kontinuierlich entlang synaptischer Verbindungen auf Ebene des Rückenmarks ausbreitet. So konnte beobachtet werden, dass es bei einem nicht geringen Anteil der Patienten zu direkten Folgesymptomen an nicht direkt angrenzenden Körperregionen gekommen ist (Fujimura- Kiyono et al., 2011; Gargiulo-Monachelli et al., 2012). Beispiel hierfür war unter anderem die direkte Ausbreitung der Symptome von der bulbären Muskulatur auf die untere Extremität mit Aussparung der oberen Extremität (Fujimura-Kiyono et al., 2011). Da die Erkrankung in diesen Fällen von einer Region zur anderen „springt“ und dabei direkt angrenzende Körperregionen ausspart, spricht man von einem diskontinuierlichen Ausbreitungsmuster (Kanouchi et al., 2012).Dieses kann nicht durch die Anatomie des Rückenmarks alleine erklärt werden, sondern deutet vielmehr auf eine zusätzliche kortikale Ausbreitung hin.

Es lässt also darauf schließen, dass die pTDP-43-Propagation im Laufe des

Krankheitsprozesses nicht auf kortikofugale Signalwege beschränkt bleibt, sondern sich auch über die Zellgrenzen hinweg in benachbarte Hirnregionen ausbreitet (Gargiulo- Monachelli et al., 2012; Kanouchi et al., 2012; Ravits, 2014; Ravits & La Spada, 2009).

Jedoch ist der genaue Propagationsmechanismus bis heute unklar. Man geht von einem Prionen-ähnlichen Verhalten aus, vergleichbar mit der Propagation des tau-Proteins bei der Alzheimer-Demenz oder des a-synuclein bei Morbus Parkinson (Kanouchi et al., 2012;

Ludolph & Brettschneider, 2015; Smethurst et al., 2015). Neuere Überlegungen schließen auch den zerebrospinalen Liquor als möglichen Ausbreitungs- und Transportweg des pTDP- 43 mit ein (Smith et al., 2015).

(13)

1.4 Fragestellung und Zielsetzung

Bis heute ist die ALS nicht heilbar. Erkenntnisse zur Ausbreitung der Erkrankung sind essentiell, um gezielte Therapien entwickeln und die Progression der Erkrankung stoppen zu können.

Bisherige Arbeiten haben sich bereits mit dem Propagationsmustersowie dem Muster der Paresen an den häufigen Subformen (spinale und bulbäre Form) der ALS

auseinandergesetzt (Fujimura-Kiyono et al., 2011; Gargiulo-Monachelli et al., 2012;

Kanouchi et al., 2012; Ravits, 2014; Ravits & La Spada, 2009; Sekiguchi et al., 2014).

Aufgrund mangelnder Fallzahlen sind diese Untersuchungen jedoch noch nicht an

Patienten mit thorakaler ALS durchgeführt worden. Dabei ist das Ausbreitungsmuster der Erkrankung bei dieser Form besonders interessant. Da zuerst zentrale Regionen des Körpers betroffen sind, kann die Untersuchung Hinweise auf eine mögliche sekundäre Bevorzugung von spezifischen Körperteilen bieten.

Ziel dieser Arbeit ist es, den klinischen Phänotyp der thorakalen Form der ALS möglichst detailliert zu beschreiben und die Untersuchungen zum Propagationsmuster der

Erkrankung an dieser seltenen Subform durchzuführen.

Dazu wurde in einer der weltweit größten Kohorten untersucht, ob

1. Patienten, die an der seltenen thorakalen Form der ALS erkranken, bestimmte Charakteristika hinsichtlich Alter bei Erstmanifestation, Geschlecht, diagnostischem Delay und Überlebenszeit im Vergleich zu den häufigen Subformen aufweisen 2. das Propagationsmuster der thorakalen Form der ALS in Einklang mit den

bisherigen Untersuchungen der häufigeren Subformen steht und

3. ob es auch bei dieser Subform Hinweise für ein kortikales Spreading gibt.

(14)

2. Patienten und Methoden

2.1 Patienten

In die Studie eigeschlossen wurden

• Männer und Frauen über 18 Jahre

• mit sporadischer oder familiärer, diagnostizierter Amyotropher Lateralsklerose (ALS) nach den überarbeiteten El-Escorial-Kriterien (Ludolph et al., 2015b)

• mit primärer Affektion der Atemmuskulatur oder der autochthonen Rückenmuskulatur (thorakale Form der ALS)

• und mindestens einer weiteren befallenen Region des Körpers (cervical, bulbär, lumbal).

Dabei wurden 2 Patientenkollektive angesehen:

1. Patienten, die mindestens einmalig in der neurologischen Klinik des Rehabilitations- und Universitätsklinikum Ulm (RKU) vorstellig waren und somit in der hauseigenen Datenbank oder

2. in der Datenbank des ALS-Registers Schwaben registriert sind.

Zum Zeitpunkt der Vorstellung der Patienten konnte sich die Symptomatik bereits auf andere Körperregionen (bulbär, spinal) ausgebreitet haben, das Initialsymptom musste jedoch eindeutig der thorakalen Region zuzuordnen sein.Alle Patienten, die diesen Kriterien entsprachen, wurden unter der Gruppe der thorakalen ALS-Patienten zusammengefasst.

Aus der Studie ausgeschlossen wurden alle anderen ALS-Patienten mit bulbärer, spinaler oder unklarer Erstsymptomatik. Ebenfalls ausgeschlossen wurden Patienten mit

Erstsymptomatik an der Atemmuskulatur mit vordiagnostizierter anderer möglicher Ursache einer chronisch respiratorischen Insuffizienz, wie zum Beispiel COPD (Chronic Obstructive Pulmonary Disease) oder Asthma bronchiale.

In die Studie eingeschlossen wurden insgesamt 59 Patienten/-innen, davon 47 Männer und 12 Frauen. Die Studie wurde von der Ethikkomission der Universität Ulm genehmigt

(Referenz Ethikantrag Nummer 28/14).

(15)

2.2 Methoden

Es handelt sich um eine retrospektive Analyse der Patientendaten aus den Datenbanken der neurologischen Klinik der Universität Ulm und des ALS-Registers Schwaben aus den Jahren 2002 bis einschließlich 2018.

Nach erster Durchsicht der Patientenakten konnten zwei Gruppen der thorakalen Form der ALS unterschieden werden. Die erste Gruppe bestand aus allen Patienten mit primärer Affektion der Atemmuskulatur (N = 37). Die zweite Gruppe bestand aus allen Patienten mit primärer Affektion der autochthonen Rückenmuskulatur (N = 22). Diese Gruppe ließ sich wiederum in Patienten mit einer Rumpfhalteschwäche (N = 16) und Patienten mit einer Nackenmuskelparese (N = 6) unterteilen.

Im Folgenden wurden die zwei Gruppen (Atemmuskulatur, autochthone Rückenmuskulatur) einmal zusammen und einmal separat ausgewertet.

2.2.1 Charakteristika der thorakalen ALS

Zuerst wurde die gesamte Gruppe der thorakalen ALS-Patienten (N = 59) mit allen anderen, nicht-thorakalen Patienten des ALS-Registers Schwaben (N = 1435) hinsichtlich der wichtigen Kennzeichen der Erkrankung (Geschlecht, Alter bei Erstmanifestation, diagnostischer Delay, Überlebenszeit) verglichen. Die Daten der nicht-thorakalen ALS- Patienten wurden hierzu aus der klinischen Datenbank des ALS-Registers Schwaben bezogen. Dabei wurden alle nicht-thorakalen Subformen miteinbezogen, sprich die klassische Form der ALS mit spinalem oder bulbärem Beginn, die progressive

Bulbärparalyse, die primäre Lateralsklerose, die progressive Muskelatrophie sowie das Flail-Arm-/Flail-Leg-Syndrom.

Der Vergleich dieser beiden Gruppen sollte Aufschluss über mögliche Charakteristika der Patienten geben, die an der thorakalen Form der ALS erkrankt sind. Die statistische Auswertung erfolgte mit der Statistiksoftware SPSS, Version 25.0. Die deskriptiven Daten wurden mittels absoluter und relativer Häufigkeit sowie Mittelwert und

Standardabweichung dargestellt.

Des Weiteren wurde untersucht:

• ob und in welcher Form (nicht-invasiv, invasiv) eine Beatmung eingeleitet wurde

• ob und in welchem Ausmaß ein ungewollter Gewichtsverlust stattgefunden hat.

(16)

2.2.2 Untersuchung des Propagationsmusters

Um das Propagationsmuster der Erkrankung bei den thorakalen ALS-Patienten klinisch zu erfassen, wurde eine Figur erstellt (Abbildung 1). Diese spiegelt die vier Extremitäten sowie die bulbäre und die thorakale Region wider.

Die Patienten wurden von erfahrenen ALS-Spezialisten der neurologischen Abteilung der Universität Ulm untersucht. Mit Hilfe von aufsteigenden Zahlen wurde dann die

Reihenfolge der betroffenen Regionen eingetragen. Die Zahl 1 steht demnach für die Onset-Region. Informationen über die genaue Ausbreitung der Symptomatik wurden anhand der Patientenanamnese erhoben.

Da alle in die Studie eingeschlossenen Patienten an der thorakalen Form der ALS erkrankt sind, wurde diese Region aus Gründen der Übersicht in den folgenden Abbildungen entfernt.

Es wurden nur Patienten in die Studie aufgenommen, bei denen mindestens zwei Regionen des Körpers (cervical, bulbär, thorakal, lumbal) betroffen waren, einschließlich der Onset-Region.

Abbildung 1: Anhand dieser Figur wurde die Reihenfolge der betroffenen Regionen beschrieben. Die sechs blauen Regionen indizieren die vier Extremitäten sowie die bulbäre (zentral oben) und die thorakale (zentral) Region. Aus Gründen der Übersicht wurde in den weiteren Abbildungen auf die thorakale Region verzichtet.

(17)

3. Ergebnisse

3.1 Charakteristika der thorakalen ALS

Verglichen wurden alle primär nicht-thorakalen ALS-Patienten des ALS-Registers Schwaben (N = 1435) mit den primär thorakalen ALS-Patienten (N = 59) aus den Datenbanken der neurologischen Klinik der Universität Ulm und des ALS-Registers Schwaben aus den Jahren 2002 bis einschließlich 2018.

3.1.1 Demographische Verteilung

Zuerst wurden die demographischen Unterschiede betrachtet (Tabelle 1). Von den insgesamt 1435 nicht-thorakalen ALS-Patienten aus dem Register waren 842 (58,7%) männlich und 593 (41,3%) weiblich. Interessanterweise waren bei der thorakalen Form deutlich mehr Männer als Frauen betroffen. 47 der insgesamt 59 Patienten (79,7%) waren männlich, nur 12 (20,3%) weiblich. Somit liegt das Verhältnis von Männern zu Frauen bei der thorakalen Form bei 3,9:1, bei den nicht-thorakalen Patienten bei 1,4:1 (vgl. Abbildung 2).

Abbildung 2: Geschlechterverteilung. Vergleich zwischen Patienten mit primär nicht-thorakaler Form der Amyotrophen Lateralsklerose (ALS) des ALS-Registers Schwaben (links, N = 1435) und primär thorakalen ALS-Patienten aus den Datenbanken der neurologischen Klinik der Universität Ulm und des ALS-Registers Schwaben aus den Jahren 2002 bis einschließlich 2018 (rechts, N = 59). Blau = männlich, Rot = weiblich. ALS = Amyotrophe Lateralsklerose.

Das durchschnittliche Alter der nicht-thorakalen Patienten bei Erstmanifestation (EM) lag bei 66,5 (± 11,9) Jahren mit einem Erkrankungsgipfel zwischen 70 und 75 Jahren (vgl.

Abbildung 3). Die betroffenen Frauen waren mit 67,9 (± 11,0) Jahren durchschnittlich etwa

Geschlechterverteilung der nicht- thorakalen ALS-Patienten

männlich weiblich

Geschlechterverteilung der thorakalen ALS-Patienten

männlich weiblich

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zweieinhalb Jahre älter als betroffene Männer. Bei diesen lag das durchschnittliche Erkrankungsalter bei 65,6 (± 12,4) Jahren (Tabelle 1).

Abbildung 3: Altersverteilung der Patienten mit primär nicht-thorakaler Form der Amyotrophen Lateralsklerose (ALS) (N = 1369) des ALS-Registers Schwaben bei Erstmanifestation. EM = Erstmanifestation.

Bei den thorakal erkrankten Patienten lag das durchschnittliche Erkrankungsalter bei 63,2 (± 10,5) Jahren mit einem Erkrankungsgipfel bei 65 bis 75 Jahren (vgl. Abbildung 4).

Auffällig war, dass betroffene Frauen (57,2 (± 12,7) Jahre), anders als bei den nicht- thorakalen Patienten, im Schnitt deutlich jünger zum Zeitpunkt der EM waren als betroffene Männer (64,8 (± 9,5) Jahre) (vgl. Tabelle 1).

Abbildung 4: Altersverteilung der Patienten mit primär thorakaler Form der Amyotrophen Lateralsklerose (ALS) (N = 59) bei Erstmanifestation. Die Patientendaten stammen aus den Datenbanken der neurologischen Klinik der Universität Ulm und des ALS-Registers Schwaben aus den Jahren 2002 bis einschließlich 2018. EM = Erstmanifestation.

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Tabelle 1: Demographische Daten. Vergleich zwischen Patienten mit primär nicht-thorakaler Form der Amyotrophen Lateralsklerose (ALS) des ALS-Registers Schwaben (N = 1435) und primär thorakalen ALS-Patienten aus den Datenbanken der neurologischen Klinik der Universität Ulm und des ALS-Registers Schwaben aus den Jahren 2002 bis einschließlich 2018 (N = 59). EM = Erstmanifestation, ED = Erstdiagnose, SD = Standardabweichung.

NICHT-THORAKAL THORAKAL

N 1435 59

MÄNNLICH, N (%) 842 (58,7) 47 (79,7)

WEIBLICH, N (%) 593 (41,3) 12 (20,3)

N

ALTER BEI EM IN JAHREN, MITTELWERT (SD)

1369 66,5 (± 11,9)

59 63,2 (± 10,5)

MÄNNLICH 65,6 (± 12,4) 64,8 (± 9,5)

WEIBLICH 67,9 (± 11,0) 57,2 (± 12,7)

N

ALTER BEI ED IN JAHREN, MITTELWERT (SD)

1358 67,2 (± 11,8)

59 64,5 (± 10,5)

MÄNNLICH 66,1 (± 12,2) 66,1 (± 9,4)

WEIBLICH 68,6 (± 11,0) 58,2 (± 12,9)

3.1.2 Klinische Präsentation

Tabelle 2 zeigt die klinische Präsentation der zwei Patientengruppen.

Informationen über die Onset-Region konnten bei 1228 (85,6%) der nicht-thorakalen Patienten erhoben werden. Bulbärer (N = 422; 34,4%) und lumbosakraler (N = 419; 34,1%) Beginn stellten dabei die häufigsten Formen dar. Cervicaler Onset wurde bei 321 (26,1%) Patienten festgestellt. Bei 66 Patienten (5,4%) konnte die Onset-Region retrospektiv nicht eindeutig zugeordnet werden.

Die durchschnittliche Dauer zwischen Beginn der Erkrankung und Diagnosestellung

(diagnostischer Delay) lag bei den nicht-thorakalen ALS-Patienten bei 8,7 (± 9,2) Monaten.

Bei den thorakalen ALS-Patienten verging fast doppelt so viel Zeit bis zur Diagnosestellung.

Hier lag die Verzögerung bei durchschnittlich 14,9 (± 17,0) Monaten.

Überraschenderweise war die verbleibende Lebenserwartung der thorakalen ALS- Patienten ab dem Auftreten der ersten Symptome höher (27,3 (± 20,3) Monate) als bei den nicht-thorakalen ALS-Patienten (23,4 (± 14,7) Monate) (Tabelle 2).

(20)

Tabelle 2: Klinische Präsentation der Erkrankung bei Patienten mit primär nicht-thorakaler Form der Amyotrophen Lateralsklerose (ALS) des ALS-Registers Schwaben und primär thorakalen ALS-Patienten aus den Datenbanken der neurologischen Klinik der Universität Ulm und des ALS-Registers Schwaben aus den Jahren 2002 bis einschließlich 2018.

1 Fehlend: N = 207, 2 Zum Zeitpunkt der Datenakquisition konnte nicht bei allen Patienten festgestellt werden, ob sie noch leben oder bereits verstorben waren.

NICHT-THORAKAL THORAKAL N

ONSET-REGION, N (%)

1228 1

BULBÄR 422 (34,4)

CERVICAL 321 (26,1)

LUMBAL 419 (34,1)

UNKLAR 66 (5,4)

N

DIAGNOSTISCHER DELAY IN MONATEN, MITTELWERT (SD)

N = 1358 8,7 (± 9,2)

N = 59 14,9 (± 17,0) N

ÜBERLEBEN 2 AB ONSET IN MONATEN, MITTELWERT (SD)

N = 890 23,4 (± 14,7)

N = 26 27,3 (± 20,3) N

ÜBERLEBEN 2 AB DIAGNOSE IN MONATEN, MITTELWERT (SD)

N = 883 15,7 (± 12,9)

N = 26 13,2 (± 16,0)

Deutliche Unterschiede gab es hinsichtlich der Beatmung der Patienten (Tabelle 3).

Während bei den nicht-thorakalen Fällen im Laufe der Behandlung nur 11,4% der Patienten (N = 116) nicht-invasiv oder invasiv beatmet wurden, waren es bei den thorakalen Patienten 93,8% (N = 45).

Tabelle 3: Beatmungsmethoden. Vergleich zwischen Patienten mit primär nicht-thorakaler Form der Amyotrophen Lateralsklerose (ALS) des ALS-Registers Schwaben und primär thorakalen ALS-Patienten aus den Datenbanken der neurologischen Klinik der Universität Ulm und des ALS-Registers Schwaben aus den Jahren 2002 bis einschließlich 2018.

1 Fehlend: N = 416, 2 Fehlend: N = 11

NICHT-THORAKAL THORAKAL N

BEATMUNG, N (%)

1019 1 48 2

NICHT-INVASIV 111 (10,9) 41 (85,4)

INVASIV 5 (0,5) 4 (8,3)

KEINE 899 (88,2) 3 (6,3)

NICHT-ERHOBEN 4 (0,4)

(21)

3.1.3 Gewichtsentwicklung

Bei der Durchsicht der Daten fiel auf, dass ein hoher Anteil der thorakalen ALS-Patienten deutlich an Gewicht verlor.

46 der 51 (90,2%) befragten thorakalen ALS-Patienten haben bis zur Diagnosestellung an Gewicht verloren, durchschnittlich 14,3 (± 9,8) Kilogramm (Tabelle 4). Das Spektrum reichte dabei von drei Kilogramm bis zu 40 Kilogramm (Abbildung 5).

Bei den nicht-thorakalen Patienten verlor nur knapp ein Viertel der Patienten (N = 333, 23,2%) an Gewicht, diese im Durchschnitt 4,8 (± 3,5) Kilogramm (Tabelle 4). Die Werte reichten hier von einem Kilogramm bis zu 24 Kilogramm (Abbildung 5). Die deutliche Mehrheit der Patienten (N = 1102, 76,8%) gab keinen Gewichtsverlust an. Diese Daten beziehen sich allerdings nur auf die drei Monate vor der letzten Vorstellung der Patienten in der neurologischen Klinik der Universität Ulm.

Tabelle 4: Gewichtsverlust im Vergleich zwischen Patienten mit primär nicht-thorakaler Form der Amyotrophen Lateralsklerose (ALS) des ALS-Registers Schwaben und primär thorakalen ALS-Patienten aus den Datenbanken der neurologischen Klinik der Universität Ulm und des ALS-Registers Schwaben aus den Jahren 2002 bis einschließlich 2018.

1 Die Daten beziehen sich auf die drei Monate vor der letzten Vorstellung der Patienten in der neurologischen Klinik der Universität Ulm, 2 Fehlend: N = 8, 3 N = 2 Patienten gaben einen Gewichtsverlust an, konnten aber keine konkrete Zahl benennen. SD = Standardabweichung

NICHT-THORAKAL 1 THORAKAL N

GEWICHTSVERLUST

1435 51 2

JA, N (%) 333 (23,2) 46 (90,2) 3

MITTELWERT IN KILOGRAMM (SD) 4,8 (± 3,5) 14,3 (± 9,8)

NEIN, N (%) 1102 (76,8) 5 (9,8)

(22)

Abbildung 5: Boxplot-Darstellung des Gewichtsverlustes im Vergleich zwischen Patienten mit primär thorakaler (links, N = 44) und primär nicht-thorakaler (rechts, N = 333) Form der Amyotrophen Lateralsklerose (ALS). Dargestellt sind Median, Mittelwert (Kreuz), oberes und unteres Quartil sowie Maximal-, Minimal- und Extremwerte. Die Daten der thorakalen ALS-Patienten beziehen sich dabei auf den Gewichtsverlust bis zur Erstdiagnose, die Daten der nicht-

thorakalen ALS-Patienten auf die drei Monate vor der letzten Vorstellung in der neurologischen Klinik der Universität Ulm.

Thorakale ALS-Patienten 0

5 10 15 20 25 30 35 40 45

Gewichtsverlust in Kilogramm

Nicht-thorakale ALS-Patienten 0

5 10 15 20 25 30 35 40 45

Gewichtsverlust in Kilogramm

(23)

3.2 Untersuchung des Propagationsmusters

Um das Propagationsmuster der thorakalen Form der ALS zu untersuchen, wurde die Reihenfolge der aufgetretenen Symptome bei 59 thorakalen ALS Patienten erfasst. Dabei wurden je nach Erstsymptomatik zwei Subgruppen unterteilt. Die erste Subgruppe bestand aus allen Patienten mit primärer Affektion der Atemmuskulatur (N = 37), die zweite

Subgruppe aus den Patienten mit primärer Affektion der autochthonen Rückenmuskulatur (N = 22). Es mussten mindestens zwei Regionen betroffen sein, einschließlich der Onset- Region.

3.2.1 Überblick über die Propagation bei thorakalen ALS-Patienten

Abbildung 6 zeigt zunächst einen Überblick aller thorakaler ALS Patienten und deren Propagation der Symptome auf sekundäre Regionen. Hauptsächlich breitete sich die Erkrankung sekundär auf die obere Extremität aus (N = 32, 54,2%). Interessant war, dass insgesamt 15 Patienten (25,4%) direkte Folgesymptome an der unteren Extremität entwickelten. 12 Patienten (20,3%) entwickelten sekundär bulbäre Symptome. Im Folgenden werden nun die beiden Subgruppen der thorakalen ALS separat betrachtet.

Abbildung 6: Überblick über die Propagation der Erkrankung bei Patienten mit primär thorakaler Form der Amyotrophen Lateralsklerose (ALS). Die Patientendaten stammen aus den Datenbanken der neurologischen Klinik der Universität Ulm und des ALS-Registers Schwaben aus den Jahren 2002 bis einschließlich 2018. Dargestellt ist die Ausbreitung der Erkrankung auf sekundäre Regionen. Die Zahl in den Kreisen indiziert die Anzahl der jeweils betroffenen Patienten in diesen Regionen. Ein Patient mit gleichzeitiger, sekundärer Affektion beider oberer Extremitäten wurde in dieser Grafik nicht berücksichtigt.

(24)

3.2.2 Primäre Affektion der Atemmuskulatur

Bei 37 Patienten (62,7%) mit thorakaler Form der ALS konnte eine primäre Affektion der Atemmuskulatur festgestellt werden. Diese Subgruppe machte somit den Hauptteil der thorakal erkrankten Patienten aus.

Die Patienten klagten vor allem über eine sekundäre Ausbreitung auf die bulbäre

Muskulatur (N = 11, 29,7%) und die rechte obere Extremität (N = 11, 29,7%) (Abbildung 7).

Interessanterweise entwickelten fast ein Fünftel der Patienten (N = 7, 18,9%) direkte Folgesymptome an der unteren Extremität.

Abbildung 7: Propagation der Erkrankung bei primärer Affektion der Atemmuskulatur bei N = 37 Patienten. Die Patientendaten stammen aus den Datenbanken der neurologischen Klinik der Universität Ulm und des ALS-Registers Schwaben aus den Jahren 2002 bis einschließlich 2018. Die roten Pfeile zeigen die häufigsten Ausbreitungsmuster auf sekundäre Regionen an. Die Zahl in den Kreisen indiziert die Anzahl der jeweils betroffenen Patienten in diesen Regionen.

Ein Patient mit gleichzeitiger, sekundärer Affektion beider oberer Extremitäten wurde in dieser Grafik nicht berücksichtigt.

Nach bulbärer Beteiligung (N = 11, Abbildung 8a) breitete sich die Erkrankung bei 5 Patienten (45,5%) als nächstes auf die rechte obere Extremität aus. Bei zwei Patienten (18,2%) sprang die Erkrankung nach bulbärer Beteiligung an die untere Extremität. Einer dieser zwei Patienten gab eine gleichzeitige Affektion beider unterer Extremitäten an. Er wurde deshalb in der Abbildung 8a nicht berücksichtigt.

Bei drei Patienten konnte keine dritte betroffene Region festgestellt werden, da sich die Patienten entweder noch in einem Frühstadium der Erkrankung befanden oder bereits verstorben waren.

(25)

Patienten mit sekundär betroffener rechter oberer Extremität (N = 11, Abbildung 8b) berichteten vor allem über einen Befall der kontralateralen linken oberen Extremität (N = 9, 81,8%). Ein Patient entwickelte Folgesymptome an der rechten unteren Extremität.

Auch hier konnte bei einem Patienten keine dritte betroffene Region festgestellt werden.

Abbildung 8: Darstellung der am Häufigsten sekundär betroffenen Regionen nach primärer Affektion der Atemmuskulatur.

Die Patientendaten stammen aus den Datenbanken der neurologischen Klinik der Universität Ulm und des ALS-Registers Schwaben aus den Jahren 2002 bis einschließlich 2018. Die blauen Pfeile zeigen die häufigsten Ausbreitungsmuster auf tertiäre Regionen an. Die Zahl in den Kreisen indiziert die Anzahl der jeweils betroffenen Patienten in diesen Regionen.

a) Propagation der Erkrankung nach sekundär betroffener bulbärer Region. Ein Patient mit gleichzeitiger, tertiärer Affektion beider unterer Extremitäten wurde in dieser Grafik nicht berücksichtigt. Bei drei Patienten konnte keine dritte betroffene Region festgestellt werden. b) Propagation der Erkrankung nach sekundär betroffener rechter oberer Extremität. Bei einem Patienten konnte keine dritte betroffene Region festgestellt werden.

3.2.3 Primäre Affektion der autochthonen Rückenmuskulatur

Bei 22 Patienten (37,3%) mit thorakaler Form der ALS konnte eine primäre Affektion der autochthonen Rückenmuskulatur festgestellt werden.

Nach Onset war bei diesen Patienten vor allem die linke obere Extremität als nächstes betroffen (N = 9, 40,1%). 5 Patienten (22,7%) berichteten, dass nach Onset als nächstes die linke untere Extremität betroffen war (Abbildung 9). Auch in dieser Subgruppe

entwickelten insgesamt 8 Patienten (36,4%) direkte Folgesymptome an der unteren Extremität.

(26)

Abbildung 9: Propagation der Erkrankung bei primärer Affektion der autochthonen Rückenmuskulatur bei N = 22 Patienten. Die Patientendaten stammen aus den Datenbanken der neurologischen Klinik der Universität Ulm und des ALS- Registers Schwaben aus den Jahren 2002 bis einschließlich 2018. Die roten Pfeile zeigen die häufigsten

Ausbreitungsmuster auf sekundäre Regionen an. Die Zahl in den Kreisen indiziert die Anzahl der jeweils betroffenen Patienten in diesen Regionen.

Alle Patienten mit sekundär betroffener linker oberer Extremität entwickelten Folgesymptome an der kontralateralen rechten oberen Extremität (Abbildung 10a).

Patienten mit sekundär betroffener linker unterer Extremität (N = 5, Abbildung 10b) berichteten vor allem über einen Befall der kontralateralen rechten unteren Extremität (N = 3, 60%). 2 Patienten (40%) berichteten über eine Propagation in die ipsilaterale linke obere Extremität.

(27)

Abbildung 10: Darstellung der am Häufigsten sekundär betroffenen Regionen nach primärer Affektion der autochthonen Rückenmuskulatur. Die Patientendaten stammen aus den Datenbanken der neurologischen Klinik der Universität Ulm und des ALS-Registers Schwaben aus den Jahren 2002 bis einschließlich 2018. Die blauen Pfeile zeigen die häufigsten

Ausbreitungsmuster auf tertiäre Regionen an. Die Zahl in den Kreisen indiziert die Anzahl der jeweils betroffenen Patienten in diesen Regionen. a) Propagation der Erkrankung nach sekundär betroffener linker oberer Extremität. b) Propagation der Erkrankung nach sekundär betroffener linker unterer Extremität.

(28)

3.3 Typische Fallvignetten der thorakalen ALS-Patienten 3.3.1 Primäre Affektion der Atemmuskulatur

I) „Herr H., 64 Jahre alt, berichtet, dass er seit etwa 8 Monaten an einer progredienten Belastungsdyspnoe einhergehend mit Schlafstörungen, Tagesmüdigkeit, vermehrter körperlicher Erschöpfbarkeit und teilweise Kopfschmerzen leide. Es erfolgte primär eine pulmonale und kardiologische Diagnostik ohne wegweisenden Befund. Im Verlauf habe er zudem generalisierte Muskelkrämpfe sowie generalisierte Faszikulationen bemerkt. Auf Nachfrage bestehe in letzter Zeit eine Kraftlosigkeit und Feinmotorikstörung im Bereich der rechten Hand. Sehr diskret sei ihm eine Veränderung des Sprechens sowie intermittierendes Verschlucken aufgefallen. Es bestehe eine ungewollte Gewichtsabnahme von etwa 8 Kilogramm im letzten Jahr.“

II) „Herr B., 79 Jahre alt, klagte im Aufnahmegespräch über eine seit einem halben Jahr bestehende, progrediente Dyspnoe vor allem bei Belastung. Zusätzlich bemerke er eine zunehmende Kraftminderung, insbesondere beim

Treppensteigen und beim Gehen. Seit einem Monat benötige er einen Rollstuhl, momentan könne er nur noch 10m ohne Gehhilfe gehen. Außerdem bemerke er seit etwa drei Monaten eine verwaschene und zunehmend leisere Sprache.

Anamnestisch war zu erfahren, dass Herr B. vor sechs Wochen wegen eines hyperkapnischen Komazustandes stationär behandelt worden sei. Nach initialer Versorgung wurde eine restriktive Ventilationsstörung mit Hyperkapnie ohne Anhalt für eine metabolische oder kardiale Ursache festgestellt. Ein MRT des Kopfes wurde durchgeführt; dieses zeigte keine Auffälligkeiten. Bei ausgeprägter Dysarthrophonie sowie Faszikulationen in den oberen Extremitäten wurde eine weitere neurologische Abklärung empfohlen.“

Patienten mit primärer Affektion der Atemmuskulatur machen den Großteil der thorakalen ALS-Patienten aus. Typischerweise sieht man bei diesen Patienten eine sich langsam entwickelnde Belastungsdyspnoe als erstes Zeichen der Erkrankung. Dies merken Betroffene oft zuerst beim Treppensteigen oder beim Spazierengehen anhand abnehmender Leistungsfähigkeit. Aufgrund nächtlicher Hyperkapnie, welche der

(29)

Ventilationsstörung geschuldet ist, kann es bei diesen Patienten auch zu weiteren Symptomen wie Schlafstörungen, morgendlichen Kopfschmerzen oder

Konzentrationsschwierigkeiten kommen.

Die folgenden Besuche beim Hausarzt, Pulmonologen oder Kardiologen bleiben meist ohne wegweisenden Befund. Es kann oft nur eine restriktive Ventilationsstörung

nachgewiesen werden; die genaue Ursache bleibt jedoch zunächst unbekannt. Erst nach dem Auftreten weiterer ALS-typischer Symptome wie Muskelfaszikulationen, -krämpfe oder einem allgemeinen Kraftverlust, rückt eine mögliche neurodegenerative Erkrankung in den Fokus. Bis hierhin sind jedoch meist schon mehrere Monate seit Symptombeginn vergangen.

3.3.2 Primäre Affektion der autochthonen Rückenmuskulatur

III) „Frau M., 66 Jahre alt, berichtet, sie habe vor 8 Monaten zunächst eine

Schwäche im Bereich der Rückenmuskulatur bemerkt. Ihr sei es schwergefallen, sich aufzurichten. Sie leide auch unter gelegentlichen lumbalen Schmerzen, diese stünden aber nicht im Vordergrund. Im Verlauf sei auch eine Schwäche der Beine hinzugekommen, dies habe sie insbesondere beim Treppensteigen

bemerkt. Eine orthopädische Abklärung habe bisher keinen wegweisenden Befund ergeben, jedoch habe der Orthopäde bereits den Verdacht auf eine Motoneuronerkrankung geäußert. Im Verlauf sei die linke Hand schwächer geworden. Dies habe sie bemerkt, da sie das Garagentor in letzter Zeit nicht mehr öffnen könne. An Gewicht habe sie seit einem Monat etwa 5 Kilogramm verloren. Aufgrund ihrer schnellen Ermüdbarkeit sei eine

Herzkatheteruntersuchung erfolgt. Diese zeigte einen unauffälligen Befund.“

Nur etwa ein Drittel der thorakal erkrankten ALS-Patienten weist eine primäre Affektion der autochthonen Rückenmuskulatur auf. Typischerweise sind auch hier deutlich häufiger Männer betroffen. Erste Symptome dieser Patienten sind oft nur eine unspezifische Rumpfhalteschwäche. Betroffenen fällt es schwer, sich aus liegender Position aufzurichten oder sie bemerken beim Gehen, dass der Oberkörper oder der Kopf nach vorne „kippt“.

Auch diese Patienten suchen aufgrund ihrer unspezifischen Beschwerden zunächst oft den

(30)

Weg zum Physiotherapeuten oder Orthopäden. Eine neurologische Vorstellung erfolgt meist erst nach progressiven Paresen.

Eine häufige klinische Begleiterscheinung der thorakalen ALS-Patienten ist ein zum Teil enormer, ungewollter Gewichtsverlust. Dies trifft sowohl für die primär an der

autochthonen Rückenmuskulatur erkrankten, als auch für die primär an der

Atemmuskulatur betroffenen Patienten zu. Ein hoher Gewichtsverlust stellt zugleich auch ein erstes Anzeichen für einen prognostisch ungünstigeren Verlauf dar.

3.3.3 Besonders schwere Verlaufsform

IV) „Bei Herrn S. war es bereits seit etwa 4 Monaten zu einer Gewichtsabnahme von circa 40 Kilogramm gekommen. Die durchgeführten Untersuchungen

(Gastroskopie und Koloskopie) waren ohne pathologischen Befund. Seit 6 Monaten zeige sich eine progrediente muskuläre Schwäche. Bei Verdacht auf eine schwere depressive Episode wurde Herr S. in eine psychiatrische Klinik aufgenommen. Dort kam es zu einer rapiden Verschlechterung der

Atemsituation bis zu einer Sauerstoffsättigung von 63%. Der hinzugezogene Notarzt stellte eine Tachykardie sowie Hebungen über der Hinterwand fest. Der Patient wurde daraufhin intubiert und beatmet in eine Fachklinik verlegt. Dort konnte in der durchgeführten Koronarangiographie eine Ischämie

ausgeschlossen werden. Neurologisch wurden eine Encephalitis und eine Myasthenie ausgeschlossen, das EEG erbrachte keinen wegweisenden Befund.

Nach Stabilisierung der Beatmungssituation erfolgte die Extubation. Bei erneut verschlechterter Atemsituation und respiratorischer Erschöpfung mit

Vigilanzminderung musste Herr S. jedoch wieder reintubiert werden. Im Verlauf wurde der Patient wiederholt ex- und wieder reintubiert. Eine nicht-invasive Beatmung brachte eine kurzfristige Besserung, aufgrund der zunehmenden muskulären Erschöpfung musste jedoch wieder auf eine invasive

Beatmungsform gewechselt werden. In der folgenden Woche wurde der Patient deshalb in eine Lungenfachklinik zur Einstellung auf ein Heimbeatmungsgerät überwiesen.“

(31)

4. Diskussion

4.1 Besonderheiten der thorakalen ALS-Patienten

In diese Studie wurden insgesamt 59 Patienten eingeschlossen, die an der seltenen thorakalen Form der ALS erkrankt sind. Da es bisher kaum spezifische Untersuchungen zu diesen Patienten gab, wurden sie zunächst mit den klassischen ALS-Patienten des ALS- Registers Schwaben verglichen. Zu den klassischen Patienten zählen vor allem diejenigen mit spinalem oder bulbärem Beginn, welche zusammen etwa 95% aller ALS-Patienten ausmachen (Kiernan et al., 2011; Rosenbohm et al., 2017). Durch diesen Vergleich

erhofften wir uns, Unterschiede und Gemeinsamkeiten zwischen der seltenen thorakalen Form und den häufiger auftretenden Subformen herauszufinden.

4.1.1 Männliche Vulnerabilität

In der Gruppe der thorakalen ALS-Patienten ergab sich ein Geschlechterverhältnis männlicher zu weiblicher Patienten von 3,9:1 (vgl. Abbildung 2).Es liegt somit deutlich über der beschriebenen Verteilung für die häufigsten Subformen mit spinalem und bulbärem Beginn. Bei diesen liegt das Verhältnis von männlich zu weiblich bei 1,1 - 1,4:1 (Logroscino et al., 2010; Rosenbohm et al., 2017; Uenal et al., 2014).

In diesem Zusammenhang stellt sich die Frage, inwieweit die vorliegende

Studienpopulation als repräsentativ erachtet werden kann und wie die hier beschriebene Geschlechterverteilung einzuordnen ist. Mit 59 thorakalen ALS-Patienten ist es die bisher größte Untersuchung an dieser Patientengruppe. Vergleichbare Studien mit weniger Patienten beschrieben ebenfalls ein vermehrtes Auftreten der thorakalen ALS bei Männern mit einem Verhältnis von bis zu 4:1 (de Carvalho et al., 1996; Shoesmith et al., 2007). Es lässt sich somit die Vermutung bestätigen, dass Männer deutlich vulnerabler für die thorakale Form der ALS sind.

Interessanterweise wurde eine solche Geschlechterpräferenz auch bei den anderen Subformen der ALS beschrieben. An der bulbären Form erkranken vor allem ältere Frauen, Männer hingegen scheinen vor allem an der spinalen Form und der Unterform, dem Flail- Arm-Syndrom, zu erkranken (Chiò et al., 2009; Gordon, 2013; Hildenbrandt, 2015;

Logroscino et al., 2010; Ravits et al., 2013). Man geht davon aus, dass das Geschlecht eine Rolle in der phänotypischen Ausprägung der Erkrankung spielt(Blasco et al., 2012).

(32)

Welche Rolle dieses jedoch genau bei der Ausbildung der Erkrankung spielt und wieso bestimmte Geschlechter vulnerabler für bestimmte Subformen der ALS sind, ist bisher unklar und muss in weiterführenden Studien untersucht werden. Es wäre interessant zu wissen,ob es für diese Geschlechterselektivität möglicherweise molekulare, genetische oder auch hormonelle Erklärungen gibt.Die Prognose scheint unabhängig vom Geschlecht zu sein (Blasco et al., 2012; Mandrioli et al., 2006).

4.1.2 Zusammenhang zwischen Geschlecht und Erkrankungsalter

In großen multizentrischen Studien wird ein mittleres Erkrankungsalter der ALS über alle Subformen hinweg von 62 bis 65 Jahren angegeben (Chio et al., 2013; Logroscino et al., 2010). Damit liegen sowohl die hier untersuchten thorakalen (63,2 Jahre) als auch die nicht-thorakalen Patienten des ALS-Registers Schwaben (66,5 Jahre) in etwa im Bereich der Gesamtkohorte.

Des Weiteren beschrieben Logroscino et al einen Unterschied im Erkrankungsalter zwischen Männern und Frauen (Logroscino et al., 2010). So warenFrauen zum Zeitpunkt der Erstmanifestation durchschnittlich zwei Jahre älter als Männer.Diese Gegebenheit konnte auch bei den nicht-thorakalen Patienten des ALS-Registers Schwaben beobachtet werden (vgl. Tabelle 1). Interessanterweise unterschieden sich die thorakalen Patienten hier deutlich von der Vergleichskohorte. Primär thorakal erkrankte Frauen waren zum Zeitpunkt der Erstmanifestation im Schnitt 7,5 Jahre jünger als die primär thorakal

erkrankten Männer (vgl. Tabelle 1). Im Vergleich zu den nicht-thorakal erkrankten Frauen waren sie sogar über zehn Jahre jünger.

Diese Werte sollten allerdings mit Vorsicht interpretiert werden. Es wurden lediglich 12 thorakal erkrankte Frauen registriert und in die Studie aufgenommen, sodass es durch diese niedrige Fallzahl zu einer Verfälschung der Ergebnisse kommen kann.

Eine andere plausible Erklärung für einen früheren Krankheitsbeginn der thorakalen ALS bei Frauen lässt sich zum aktuellen Zeitpunkt nicht finden. Es werden weitere Studien mit größeren Fallzahlen benötigt, um dies zu überprüfen und eine mögliche Ursache zu finden.

(33)

4.1.3 Rolle der Beatmung bei der Lebenserwartung

Bei der ALS ist die Lähmung der Atemmuskulatur der lebenslimitierende Faktor (Kiernan et al., 2011). Todesursache ist meist eine durch respiratorische Insuffizienz bedingte

Kohlendioxid-Narkose.

Vor diesem Hintergrund würde man erwarten, dass die verbleibende Lebenserwartung der primär thorakal erkrankten Patienten deutlich unter jener klassischer ALS-Patienten liegt.

Für diese wird eine mittlere verbleibende Lebenserwartung ab Beginn der Erkrankung von etwa 30 Monaten beschrieben (Chio et al., 2002; del Aguila et al., 2003; Gordon, 2013;

Rosenbohm et al., 2017).

Die hier untersuchten klassischen ALS-Patienten aus dem ALS-Register Schwaben lagen mit durchschnittlich 23,4 Monaten nach Beginn etwa 6 Monate unter diesem Wert (vgl.

Tabelle 2). Für die thorakalen ALS-Patienten ergab sich eine verbleibende Überlebenszeit von 27,3 Monaten ab dem Auftreten der ersten Symptome (vgl. Tabelle 2). Trotz primär zentralem Befall lebten sie somit rund 4 Monate länger als die Vergleichsgruppe aus dem ALS-Register Schwaben und nur 3 Monate kürzer als die durchschnittliche Überlebenszeit aller ALS-Patienten. Die Daten beziehen sich dabei auf 26 verstorbene thorakale ALS- Patienten. Zum Zeitpunkt der Datenakquisition konnte nicht bei allen Patienten festgestellt werden, ob sie noch leben oder bereits verstorben waren. Diese geringe Fallzahl sollte aber bei weiteren Interpretationen der Überlebenszeit berücksichtigt werden.

Nichtsdestotrotz ist eine vergleichbare Überlebenszeit zwischen thorakalen und

klassischen ALS-Patienten erstaunlich. Eine mögliche Erklärung hierfür bietet die häufige Einleitung einer Beatmung. Insgesamt fast 94% der thorakalen ALS-Patienten wurden im Laufe ihrer Erkrankung nicht-invasiv oder invasiv beatmet (vgl. Tabelle 3). Im Vergleich dazu waren es bei den klassischen ALS-Patienten lediglich etwa 11% (vgl. Tabelle 3).

Eine Studie untersuchte in diesem Zusammenhang die Unterschiede zwischen beatmeten und nicht-beatmeten thorakalen ALS-Patienten hinsichtlich der verbleibenden

Überlebenszeit. Es konnte gezeigt werden, dass thorakale ALS-Patienten, die keine supportive Beatmung im Sinne einer NIPPV (non-invasive positive pressure ventilation) erhielten, durchschnittlich 15 Monate früher verstarben als diejenigen mit Beatmung (Shoesmith et al., 2007). Die Erklärung für das unerwartet lange Überleben dieser Patientengruppe ist die konsequente Einleitung der Beatmungstherapie.

(34)

Als alternative oder auch zusätzliche Therapieoption zur nicht-invasiven Beatmung ist die Möglichkeit einer elektronischen Zwerchfellstimulation untersucht worden (McDermott et al., 2016). Ausschlaggebend war die Erkenntnis, dass meist eine Parese des Diaphragmas ursächlich für respiratorisches Versagen bei ALS-Patienten ist (de Carvalho et al., 1996;

McDermott et al., 2016; Oh et al., 2017; Similowski et al., 2000). Die durchgeführten multizentrischen Studien von McDermott et al zur Implantation eines Zwerchfell-

Schrittmachers bei ALS-Patienten mit respiratorischer Insuffizienz wurden jedoch vorzeitig abgebrochen. Patienten mit zusätzlicher elektronischer Zwerchfellstimulation zeigten eine deutlich verkürzte Lebenserwartung im Vergleich zu Patienten, die nur mit einer NIV behandelt wurden (McDermott et al., 2016).

Im Moment verbleibt somit vor allem die nicht-invasive Beatmung als wichtigste lebensverlängernde sowie Lebensqualität erhaltende Maßnahme, insbesondere bei thorakalen ALS-Patienten (Bourke et al., 2006; Dorst et al., 2019). Mit Hilfe der Beatmung kann die verbleibende Lebenserwartung der primär thorakalen Patienten auf etwa das gleiche Niveau der durchschnittlichen Überlebenszeit aller ALS-Patienten gehoben werden.

Der in anderen Studien beschriebene gravierende, negativ prognostische Effekt einer primär thorakalen ALS (Chiò et al., 2009; Talbot, 2009) lässt sich somit nur teilweise bestätigen. Thorakale ALS-Patienten haben mit einer angepassten Therapie, die eine frühzeitige supportive Beatmungmiteinschließt, nicht notwendigerweise eine schlechtere Prognose als klassische ALS-Patienten.

4.1.4 Gründe für den ungewollten Gewichtsverlust

Es ist bekannt, dass ein ungewollter Gewichtsverlust eine häufige klinische

Begleiterscheinung in frühen oder auch späteren Stadien der ALS ist. Studien berichten, dass bis zu 60% der ALS-Patienten bis zur Diagnosestellung an Gewicht verlieren (Korner et al., 2013; Marin et al., 2016). Dabei stellt dieser ungewollte Gewichtsverlust einen streng negativ prognostischen Faktor dar (Ahmed et al., 2018; Chiò et al., 2009; Dupuis et al., 2011; Limousin et al., 2010; Moglia et al., 2019).

90 % der hier untersuchten thorakalen ALS-Patienten berichteten von einem ungewollten Gewichtsverlust bis zur Diagnosestellung; im Durchschnitt von mehr als 14 Kilogramm (vgl.

Tabelle 4). Höchstwerte reichten sogar bis zu 40 Kilogramm (vgl. Abbildung 5). Im Vergleich

(35)

dazu verloren nur knapp ein Viertel der klassischen ALS-Patienten aus dem ALS-Register Schwaben an Gewicht (vgl. Tabelle 4). Zu beachten ist jedoch, dass sich diese Werte nur auf die drei Monate vor der letzten Vorstellung in der neurologischen Klinik der Universität Ulm beziehen.

Es stellt sich die Frage, wieso gerade die thorakalen ALS-Patienten gehäuft und in diesem Ausmaß an einem Gewichtsverlust leiden.

In der Literatur werden viele mögliche Gründe für einen Gewichtsverlust diskutiert.

Bulbäre Beteiligung mit Dysphagie und daraus folgend verminderter Nahrungsaufnahme stellt dabei einen der häufigsten Erklärungsansätze dar (Onesti et al., 2017). Dies kann jedoch nicht die einzige Erklärung sein, denn auch bei Patienten ohne bulbäre Beteiligung wurde ein Gewichtsverlust beobachtet (Korner et al., 2013; Moglia et al., 2019).

Weiterführende Studien fanden heraus, dass es bei bis zu 50% der ALS-Patienten im Verlauf der Erkrankung zu einer hypermetabolischen Stoffwechsellage kommt (Ahmed et al., 2016; Bouteloup et al., 2009; Desport et al., 2001; Marin et al., 2016; Steyn et al., 2018). Diese kann unter anderem durch unkontrollierte Faszikulationen oder auch

mitochondriale Dysfunktionen bedingt sein (Ahmed et al., 2018). Neuere Untersuchungen schließen auch zentrale Strukturen mit in die Diskussion ein. In zwei unabhängigen Studien konnte gezeigt werden, dass es mit Fortschreiten der Erkrankung zu einer Atrophie des Hypothalamus kommen kann (Ahmed & Farooqi, 2017; Gorges et al., 2017). Als Zentrum der Nahrungs- und Flüssigkeitsaufnahme kann es bei dessen Beteiligung zu einer Störung der Regelkreise und folgend zu unkontrolliertem Gewichtsverlust kommen.

Betrachtet man speziell die Unterschiede zwischen thorakalen und klassischen ALS- Patienten hinsichtlich deren klinischer Präsentation, kommt auch eine vermehrte

Atemarbeit als Ursache für den Gewichtsverlust in Betracht (Korner et al., 2013). Allerdings gibt es zu dieser Fragestellung bis heute differenzierte Meinungen. Es ist noch nicht

abschließend geklärt, ob und inwieweit sich die vermehrte Atemarbeit auf den

Gewichtsverlust auswirkt (Korner et al., 2013). Fest steht jedoch, dass es bei etwa 50% der ALS-Patienten mit respiratorischer Beteiligung zu einem Appetitverlust und somit

verringerter Nahrungsaufnahme kommt (Holm et al., 2013).

(36)

Die hier untersuchten thorakalen ALS-Patienten liefern einen weiteren Anhalt dafür, dass es eine Korrelation zwischen verminderter respiratorischer Funktion und unkontrolliertem Gewichtsverlust gibt. Ungeklärt ist, ob der Hypermetabolismus ein Nebenprodukt der Erkrankung ist oder ob er die Neurodegeneration verstärkt und somit ein mögliches Therapietarget darstellt (Ahmed et al., 2018). Um diese Frage endgültig beantworten zu können, braucht es prospektive Studien, die die Gewichtsentwicklung der ALS-Patienten nach eingeleiteter Beatmung beobachten.

4.2 Das Propagationsmuster der Erkrankung bei thorakalen ALS-Patienten Die Studie untersuchte zudem das Propagationsmuster der ALS bei primär thorakal erkrankten Patienten. Ziel war es, zu überprüfen, ob das Ausbreitungsmuster der

Erkrankung bei dieser speziellen Subform in Einklang mit den bisherigen Erkenntnissen zur Ausbreitung bei den häufigeren Subformen steht (Kanouchi et al., 2012; Ravits, 2014;

Ravits & La Spada, 2009; Ravits et al., 2007a,b). Außerdem sollte untersucht werden, ob es auch bei dieser Form konkrete Hinweise für ein kortikales Spreading gibt.

4.2.1 Keine klaren Hinweise für kortikales Spreading

Die Mehrzahl der thorakalen ALS-Patienten berichtete über eine kontinuierliche Ausbreitung der Symptome auf benachbarte Körperregionen (vgl. Abbildung 6-10). Sie zeigten somit ein ähnliches Ausbreitungsmuster wie die klassischen ALS-Patienten (Gargiulo-Monachelli et al., 2012; Ravits, 2014; Ravits & La Spada, 2009; Ravits et al., 2007a,b). Anders als bei spinalen Onset Patienten konnte dabei jedoch keine sekundäre Bevorzugung spezifischer Körperregionen festgestellt werden (Menon et al., 2017; Turner et al., 2011).

In neueren Studien zum Ausbreitungsmuster der Erkrankung konnte allerdings auch eine

„sprunghafte“, diskontinuierliche Ausbreitung der Symptome beobachtet werden (Kanouchi et al., 2012; Ravits, 2014). Diese kann nur durch ein Spreading der pTDP-43- Einschlusskörperchen auf kortikaler Ebene erklärt werden. Die entscheidende Rolle im kortikalen Spreading spielt vermutlich eine Übererregbarkeit der kortikalen Neurone (Eisen et al., 2017; Menon et al., 2017). Diese entsteht zum einen durch die Degeneration

(37)

inhibitorischer Neurone, zum anderen durch eine Hyperaktivität glutamaterger,

exzitatorischer Neurone (Vucic et al., 2013a,b; Zhang et al., 2016). Darüber hinaus deutet auch die enge Verbindung der ALS zur FTD auf ein kortikales Spreading der Erkrankung hin.

Bei kognitiv beeinträchtigten Patienten konnte eine Ausbreitung der TDP-43-Pathologie auf den präfrontalen Kortex nachgewiesen werden (Brettschneider et al., 2012; Cykowski et al., 2017). Außerdem konnte ein Zusammenhang zwischen TDP-43-Pathologie und dem Untergang kortikaler Synapsen im präfrontalen Kortex gezeigt werden (Henstridge et al., 2017).

Auch in dieser Studie entwickelten insgesamt 15 Patienten nach thorakalem Beginn direkte Folgesymptome an der unteren Extremität (vgl. Abbildung 6), darunter sieben Patienten mit primärer Affektion der Atemmuskulatur, sieben Patienten mit primärer

Rumpfhalteschwäche und ein Patient mit primärer Nackenmuskelparese (Data not shown).

Zwei weitere Patienten entwickelten nach sekundärer bulbärer Beteiligung Symptome an der unteren Extremität (vgl. Abbildung 8a).

Zeigen sich in dieser Studie also auch Hinweise für ein diskontinuierliches Propagationsmuster?

Wie bereits zuvor beschrieben, ist in den meisten Fällen eine Zwerchfellparese ursächlich für die primäre Atemnot der thorakalen ALS-Patienten (de Carvalho et al., 1996;

McDermott et al., 2016; Oh et al., 2017; Similowski et al., 2000). Geht man davon aus, dass das Zwerchfell motorisch vom zervikal entspringenden Nervus phrenicus innerviert wird, handelt es sich bei Patienten mit sekundärer Beteiligung der unteren Extremität um ein diskontinuierliches Propagationsmuster. In diesem Zusammenhang gilt es auch die Frage zu beantworten, ob das Zwerchfell monosynaptisch oder polysynaptisch innerviert wird.

Bis heute gibt es darüber noch keine genauen Erkenntnisse. Erinnert man sich hierzu jedoch, dass vor allem monosynaptisch angebundene a-Motoneurone des Rückenmarks besonders vulnerabel für die Ausbreitung der pTDP-43-Einschlusskörperchen sind (Braak et al., 2013, 2017; Brettschneider et al., 2013), legt dies die Vermutung nahe, dass auch das Zwerchfell über diesen Mechanismus innerviert wird. Einen ersten Hinweis dafür könnte diese Studie liefern.

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Nimmt man hingegen den unwahrscheinlicheren Fall an, dass vor allem eine Parese der Interkostalmuskulatur im Sinne der Musculi intercostales externi mit ihrer Innervation aus dem Thorakalmark hauptursächlich für die primäre Atemlähmung ist, dann spräche dies eher für eine kontinuierliche Ausbreitung der Pathologie entlang der synaptischen Kontakte.

Noch schwieriger verhält es sich bei Patienten mit primärer Affektion der autochthonen Rückenmuskulatur. Während bei einer primären Nackenmuskelparese mit nachfolgender Ausbreitung auf die untere Extremität durchaus ein diskontinuierliches

Ausbreitungsmuster im Sinne eines kortikalen Spreadings vorliegen kann, ist es bei Patienten mit primärer Rumpfhalteschwäche praktisch unmöglich, eine genaue

Lokalisation der ursächlichen Läsion festzustellen. Bei dieser Patientengruppe lässt sich somit keine eindeutige Aussage zum Ausbreitungsmuster der Erkrankung treffen.

Es ist schwer zu entscheiden, ob diese Studie ein weiteres Argument für ein kortikales Spreading der Erkrankung darstellt. Die hier durchgeführten Untersuchungen zum Propagationsmuster der Erkrankung bei thorakalen ALS-Patienten konnten nur weniger klare Hinweise liefern. Das beste Argument für ein kortikales Spreading bleibt die diskontinuierliche Ausbreitung der Symptomatik von der bulbären Muskulatur auf die untere Extremität mit Aussparung der oberen Extremität (Fujimura-Kiyono et al., 2011;

Gargiulo-Monachelli et al., 2012; Kanouchi et al., 2012; Menon et al., 2017). Diese Konstellation konnte in der hier durchgeführten Studie immerhin bei zwei Patienten festgestellt werden (vgl. Abbildung 8a).

Der genaue Propagationsmechanismus ist bis heute nicht endgültig geklärt.

Zusammenfassend ist davon auszugehen, dass sich die Erkrankung primär vom motorischen Kortex ausgehend kortikofugal entlang synaptischer Kontakte hin zum Rückenmark ausbreitet (Brettschneider et al., 2013; Fogarty et al., 2016; Ravits, 2014).

Hinzu kommt eine individuell unterschiedlich stark ausgeprägte zusätzliche Propagation der pTDP-43-Einschlusskörperchen auf kortikaler Ebene. Dies führt klinisch zu dem

beschriebenen diskontinuierlichen Ausbreitungsmuster der Paresen und stellt eine weitere Facette des heterogenen Erscheinungsbildes der ALS dar (Kanouchi et al., 2012; Ravits, 2014; van Es et al., 2017).

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4.3 Limitationen der Studie

Die hier beschriebene Studie stellt eine vorläufige, retrospektive Analyse der

Patientendaten aus den Datenbanken der neurologischen Klinik der Universität Ulm und des ALS-Registers Schwaben dar. Retrospektive Analysen sind aufgrund von

unvollständigen Daten oft fehleranfälliger als prospektive Studien.

Schlussfolgernd müsste man das Propagationsmuster der Erkrankung in prospektiven Studien untersuchen. Schwierig dabei ist allerdings, dass thorakale ALS-Patienten einerseits sehr selten sind, andererseits zunächst vor allem in internistischen Kliniken auftreten und sich erst in Spätstadien beim Neurologen vorstellen. Hinzu kommt, dass die Diagnosestellung einer thorakalen ALS oft schwierig ist. Zentrale und periphere

Schädigungszeichen sind bei dieser Subform nicht so eindeutig wie bei der klassischen Form der ALS. Die Diagnosestellung erfolgt primär anhand des klinischen Bildes (Ludolph et al., 2015b).

Ein weiterer Unsicherheitsfaktor ist, dass die Erkenntnisse über das Ausbreitungsmuster der Paresen vor allem auf der Patientenanamnese beruhen. Ein schlechtes Gedächtnis oder Unsicherheiten in der Wahrnehmung könnten das Ergebnis der Studie verfälschen.

Zuletzt stellt die geringe Größe des Patientenkollektivs mit nur 59 thorakalen ALS- Patienten einen möglichen Kritikpunkt der Studie dar. Obwohl es sich um die bisher umfassendste Studie an diesem seltenen Patientengut handelt, ist die Aussagekraft bei solchen Fallzahlen eingeschränkt

4.4 Ausblick

Die ALS bleibt nach wie vor eine Erkrankung mit vielen offenen Fragen.

Grundsätzlich muss es das Hauptziel sein, die genauen Mechanismen hinter der typischen klinischen Ausbreitung der Erkrankung zu verstehen (Ravits & La Spada, 2009). Wenn diese einmal verstanden sind, können gezielte Therapien entwickelt werde, um die Progression der Erkrankung zu stoppen. Eine Prionen-ähnliche Ausbreitung der pTDP-43-

Einschlusskörperchen scheint aktuell der vielversprechendste Ansatz auf diesem Gebiet zu sein (Ludolph & Brettschneider, 2015; Smethurst et al., 2015).

Bis der Ausbreitungsmechanismus der Erkrankung vollständig verstanden ist, sollte es das primäre Ziel sein, eine individuelle Risikostratifizierung für jeden ALS-Patienten zu

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