Zur Fortbildung Aktuelle Medizin
AUSSPRACHE
Die statistischen Untersuchungen der Professoren Wulf und Martius über die Situation der bundesdeut- schen Entbindungskliniken zeigen, wie erschreckend hoch die Zahlen von „Risikogeburten", auch die von Verlegungen von Neugeborenen auf Intensivabteilungen, sind.
Sosehr von daher die Forderungen nach einer Verbesserung des peri- natalen Versorgungssystems be- rechtigt erscheinen, sollte dennoch im Rahmen solch einer Erhebung auch die Frage gestellt werden, wo- durch es zu dieser großen Zahl von
„Risikogeburten" (37 Prozent in Kli- niken der Zentralversorgung) und Verlegungen (11,4 Prozent) kommt.
Denn eine vorbeugende Verhütung von „Risikogeburten" wäre sicher- lich wesentlich besser (auch billiger) als die nachträgliche Intensivversor- gung. Hier müßte meines Erachtens als erstes daran gedacht werden, daß Risikogeburten häufig die Fol- ge von „Risikoschwangerschaften"
sind, die ihrerseits oft von Anfang an unerwünschte Schwangerschaften waren oder solche, die in schweren sozialen Notlagensituationen ausge- tragen wurden. Dasselbe dürfte für Frühgeburten mehr oder weniger oft zutreffen.
Es müßte auch daran gedacht wer- den, daß vor allem auch Risikokin- der durch die frühe und lange Tren- nung von der Mutter besonders ge- fährdet sind, in ihrer Sozialentwick- lung geschädigt zu werden — mit all den zu erwartenden psychischen und sozialen Folgeschäden, die un- sere Gesellschaft ja tatsächlich im- mer stärker belasten. Eine echte Prävention erscheint daher drin- gend geboten.
Was die Arbeit auch vermissen läßt, ist der Vergleich der Zahlen von Risi-
kogeburten und notwendigen Verle- gungen zwischen technologisch ausgerichteten Entbindungskliniken und anderen Einrichtungen, die „na- türliche" beziehungsweise „sanf- te" Geburtsmethoden praktizieren.
Wenn man solche Zahlen vergleicht, wird es — abgesehen von der mögli- chen „positiven Auslese" in Einrich- tungen nicht-konventioneller Art — doch deutlich, daß es auch die tech- nischen Geburtsmethoden selbst sein müssen, die zu diesem hohen Gefährdungspotential der Neugebo- renen beitragen. Ein Beispiel: seit ein mir gut bekannter Geburtshelfer die „sanfte Geburt" nach Leboyer praktiziert, sind die Zahlen der Ge- burtskomplikationen und der not- wendigen Verlegungen auf nur etwa ein Zehntel zurückgegangen.
Mir persönlich stellt sich tatsächlich in letzter Zeit immer häufiger die Frage, ob wir heute wieder vor ei- nem neuen „Semmelweis-Phäno- men" stehen. Semmelweis hatte durch die von ihm angeordnete sy- stematische Waschung der Hände mit Chlorwasser vor jeder gynäkolo- gischen Untersuchung einer Krei- ßenden die Sterblichkeit durch Kind- bettfieber auf ein Zehntel herunter- drücken können. Es stellt sich heute die Frage, wieviele Kinder noch ge- schädigt werden, bevor die „Ge- burtshilfe" ihre neuerlichen Fehler erkennen und beseitigen kann.
Die „Medizin" ist gerade durch die Technisierung in den letzten Jahren zunehmend ins Kreuzfeuer der Kritik geraten, nicht zuletzt auch durch die direkt mit der Technisierung zusam- menhängende galoppierende Ko- stenentwicklung. Eine „humane"
Medizin, die eher die persönlichen, oft hinter den „medizinischen"
Krankheiten steckenden „menschli- chen" Probleme und Konflikte der
Patienten berücksichtigen würde, wäre sicherlich wesentlich effektiver und auch billiger als die nur an den Symptomen kurierende technische Medizin. Ich persönlich glaube, daß die „Humanisierung" der Medizin in der Geburtshilfe beginnen müßte — bei den hilflosesten und bedürftig- sten aller Menschen — den Neugebo- renen. Eine in echt humaner Weise erneuerte Medizin würde wieder das zunehmend im Verschwinden be- griffene Vertrauen der Bevölkerung wiedergewinnen.
Dr. med. Hans Rausch Cranachstraße 6 5470 Andernach
Schlu ßwort
Ziel unserer Erhebungsaktion war es, den Standard der perinatologi- schen Betreuung geburtshilflicher Abteilungen zu erfragen, mögliche Engpässe aufzudecken und gegebe- nenfalls Verbesserungsvorschläge zu erstellen. Das ist geschehen. Die Analyse von Risikoschwangerschaf- ten und Risikogeburten mit dem Ziel ihrer Verhütung ist eine ebenso wichtige perinatologische Aufgabe, aber eine ganz andere. Der Anteil an Risikogeburten ist in den letzten Jahren nicht größer geworden, er nimmt natürlich zu mit dem Versor- gungsgrad der Kliniken, als Hinweis für eine sinnvolle Selektion beson- ders gefährdeter Schwangerschaf- ten. Die Bemerkung aus der Feder eines Kollegen: — Wieviele Kinder noch geschädigt werden, bevor die Geburtshilfe ihre neuerlichen Fehler erkennen und beseitigen kann, ist ebenso bedauerlich wie falsch.
Schwangerschaft und Geburt waren für Mutter und Kind noch nie so si- cher wie heute unter dem Einsatz aller Möglichkeiten der modernen Geburtshilfe und Perinatologie. Das betrifft nicht nur die Mortalität son- dern auch die Morbidität.
Professor Dr. med.
Karl-Heinrich Wulf
Frauenklinik und Poliklinik der Universität Würzburg Josef-Schneider-Straße 4 8700 Würzburg
Die perinatologische Betreuung geburtshilflicher Abteilungen
Zum Beitrag von Professor Dr. med. Karl-Heinrich Wulf und Dr. med. Joachim Martius in Heft 25/1981, Seite 1255 ff.
DEUTSCHES ÄRZTEBLATT Heft 42 vom 15. Oktober 1981 1991