9. UND 10. JAHRHUNDERTS UND IHRE BEDEUTUNG FÜR DIE
ERFORSCHUNG DER BYZANTINISCHEN HYMNOGRAPHIE
von Helene Metreveli, Tiflis
Sowohl die aus anderen Sprachen übersetzte als auch die originale georgische
Hymnographie hat einen langen und komplexen Entwicklungsweg durchgemacht.
Die ältesten Denkmäler der georgischen Hymnographie sind uns in georgischen
Handschriften des 9. und 10. Jahrhunderts überliefert.
Die liturgischen Bücher, die im Lauf dieser Jahrhunderte ins Georgische über¬
setzt wurden, haben schon seit längerer Zeit die Aufmerksamkeit der georgischen Gelehrten und der Byzantinisten und Orientahsten im Ausland auf sich gezogen.
Eine erste wissenschafthche Darstellung der alten liturgischen Denlönäler fmdet
sich im Werk des Mitglieds der Akademie der Wissenschaften K. Kekelidze , JDie ge¬
orgischen Liturgiehandschriften in den Nationalbibliotheken" (1908).
Im Vorwort zu seinem Buch schreibt K. Kekelidze: „Die wissenschaftliche Welt
ist seit langem davon überzeugt, daß die Geschichte des Gottesdienstes der ortho¬
doxen Kirche nach ihren ältesten Quellen geschrieben werden sollte. Dies ist der
Grund, weswegen die Gelehrten des Westens aber auch unsere Landsleute die reli¬
giösen Denkmäler zum ersten Mal edieren oder verbesserte Neueditionen veranstal¬
ten. Will man wirkliche Früchte dieser Arbeit sehen, dann stellt man fest, daß be¬
stimmte Fragen der Liturgiewissenschaft, vor allem was die älteste Epoche der
christlichen Kirche (bis zum 9.—10. Jahrhundert) betrifft, nur schwierig gelöst
werden können, wenn man allein von den (byzantinischen) Originalhandschriften ausgeht. Die Gelehrten haben daher gehofft, in den Übersetzungen in verschiedene Sprachen, wie sie m verschiedenen Epochen angefertigt worden sind, das zu finden,
was die Originalfassung, soweit sie uns erhalten ist, nicht mehr bieten kann. So
wurden die liturgischen Denkmäler der verschiedenen christlichen Völker des
Orients, sowohl der Orthodoxen als auch der Monophysiten, der Syrer, der Araber,
der Kopten und der Armenier durchforscht. Leider waren diejenigen sehr wenig
zahlreich, die die Gelegenheit gehabt haben, die Reichtümer der sehr alten ortho¬
doxen georgischen Kirche benutzen zu können. Einer der Hauptgründe dafiir, daß
man diese alten georgischen Handschriften so wenig beachtete, lag in der Schwierig¬
keit, diese Denkmäler heranzuziehen, wenn man die einzige wenig systematische
Sammlung, die davon ediert worden ist, nicht einmal zur Hand hatte" (S. V). , J'ast alle alten liturgischen Denkmäler bis zum 10. Jahrhundert emschließlich sind außer¬
dem in den Bibliotheken des Athos, des Sinai und von Jerusalem konzentriert"
(S. V).
Trotz der oben genannten Schwierigkeiten bietet das Werk von K. Kekelidze die
erste wissenschaftliche Beschreibung der ersten georgischen liturgischen Handschrif-
XX. Deutscher Orientalistentag 1977 in Erlangen
ten. Es ist ein Werk, das von einem großen Spezialisten der Liturgiewissenschaft geschrieben ist, und zu gleicher Zeit ein Versuch, die Bedeutung der georgischen Übersetzungen fiir das Studium der Geschichte der Liturgie im allgemeinen aufzu¬
zeigen.
Diese Arbeit hat darum auch in wissenschaftlichen Kreisen großen Beifall gefun¬
den und hat ein lebhaftes Interesse für die georgischen liturgischen Handschriften hervorgerufen.
Im Jahre 1950 hat eine wissenschaftliche Expedition der UNESCO die Samm¬
lung der georgischen Handschriften des Berges Sinai voUständig auf Mikrofilm auf¬
genommen, dazu einen Teil der Handschriften von Jerusalem. Dadurch sind sie fiir
die Gelehrten zugänglich geworden, und auf diese Weise hat eine neue Periode für
das Studium der alten georgischen liturgischen Denkmäler begonnen.
Seit 1951 hat G. Garitte, der Chef der wissenschaftlichen Expedition auf den
Berg Sinai, ein eindringliches Studium der Sammlung vom Sinai begonnen und
für die Edition einiger Texte und für Untersuchungen bestimmter Handschriften gesorgt. 1956 hat er eine ausführliche Beschreibung der 36 Handschriften vom Sinai veröffentheht.
Im übrigen sind die Mikrofilme der Handschriften vom Mont Sinai, die nach
Georgien gekommen waren, sofort in den wissenschaftlichen Gebrauch genommen
worden. Man publiziert seit dieser Zeit nach den Handschriften vom Sinai die geor¬
gischen Übersetzungen der patristischen, hagiographischen und liturgischen Lite¬
ratur.
Das Studium der Sammlung der georgischen Handschriften vom Sinai hat ans
Tageslicht gebracht, daß die wichtigste Sektion dieser Sammlung, nämUch die litur¬
gischen Denkmäler des 9. bis 10. Jahrhunderts, ein äußerst seltenes und kostbares Material enthalten, um mit ilirer Hilfe die georgischen Lectionarien, HomUiarien und Hymnarien (ladgari)*, die die Epoche von Jerusalem reflektieren, zu studieren.
Diese Epoche wird ja gleichzeitig als „alte byzantinische Epoche" (4.-9. Jahrhun¬
dert) in der Geschichte der byzantirüschen liturgischen Literatur geführt. Diese
Epoche ist wenig bekannt und wenig oder sehr schlecht in den griechischen Hand¬
schriften vertreten.
1959 bis 1960 hat M. TarchnischviU, ein georgischer Gelehrter, der un Ausland lebte, das georgische Lectionar veröffentlicht*. Es ist das wichtigste Verdienst dieser Ausgabe, daß im Unterschied zur ersten Edition von K. Kekelidze im Appen¬
dix die Troparien des Lectionars von Jerusalem erscheinen, deren vollständiger Text uns nur in der Handschrift Nr. 37 vom Sinai erhalten ist.
Diese Veröffentlichung hat ein lebhaftes Interesse bei den Spezialisten für die
byzantinische Hymnographie und Musikgeschichte hervorgerufen. In seinem Buch
,Ä History of Byzantine Music and Hymnography" bemerkt E. Wellesz anläßlich
1 Der „Terminus Hymnarium" ist nur gewählt, um den „ladgaii" konventionell einzuordnen.
An sich gibt es kein exaktes Äquivalent für das georgische ladgari in den griechischen liturgi¬
schen Handschriften.
2 Le grand lectionnaire de I'eglise de Jerusalem, edite par M. Tarchnischvili, CSCO, vol'. 204, Paris 1959-1960.
der ersten Ausgabe des georgischen Lectionars, daß die Übersetzung des vollständi¬
gen Textes des georgischen Lectionars einen wertvollen Dienst fiir das Studium der griechischen Hymnographie der älteren byzantinischen oder vorislamischen Periode leisten könnte (S. 130) . Die zweite Ausgabe des Lectionars, die nun die vollständi¬
gen Texte der Troparien und ihre lateinische Übersetzung enthält, konnte darum
auch nicht außerhalb des Blickfeldes von Spezialisten fih die byzantinische Hymno¬
graphie bleiben, besonders, da es sich herausstellte, daß das georgische Lectionar
sich wesenthch, gerade in dieser Hinsicht, vom armenischen Lectionar, das in der
Wissenschaft schon lange bekannt war, und in dem sich im Hymnenteil nur Psalmen
befinden, unterschied. Dank dieser zweiten Ausgabe des georgischen Lectionars
haben die Forscher ein neues und reiches Universum der geistlichen Dichtung der
älteren byzantinischen Epoche entdecken können.
1970 veröffenthchte der österreichische Gelehrte H. Leeb ein Buch: ,JDie Ge¬
sänge im Gemeindegottesdienst in Jemsalem (vom 5.-8. Jahrhundert)"*. Bei sei¬
nem Studium der Psalmodie der abendländischen Kirche interessierte sich H. Leeb
auch für die morgenländische kirchliche Praxis. Bei seinem vertieften Studium des
georgischen Lectionars kam er zum Schluß, daß die orientalische Kirche ein viel
reichhaltigeres Material für die Frage, die ihn interessierte, bewahrt hat als die
abendländischen Quellen. Das georgische Lectionar nimmt in dieser Hinsicht einen
einmaligen Platz em.
Die Denkmäler der griechischen Liturgie mit hymnographichem Inhalt sind uns
nur in späten Kopien erhalten und haben uns keinerlei Material bewahrt, das die
Entwicklung der byzantinischen Hymnographie in der alten Epoche (5.-10. Jahr¬
hundert) beschreiben ließe. Damm nehmen die Forscher in jüngster Zeit immer
mehr Zuflucht zu den alten Übersetzungen der griechischen Liturgiedenkmäler.
Am Handschrifteninstitut der Akademie der Wissenschaften der Georgischen
Sozialistischen Sowjetrepublik arbeitet man ständig und intensiv am Studium der
georgischen hymnographischen Literatur, möge sie übersetzt oder original sein.
Dieses ganze reiche hymnographische Material (das in den liturgischen Codices
enthalten ist) wurde, nachdem es entstanden war, von georgischen Übersetzern und
Hymnoden, die im St. Sabas-Kloster arbeiteten, ins Georgische übersetzt. Die grie¬
chischen Originale haben seitdem durch den starken Einfluß der liturgischen Praxis
von Konstantinopel gelitten und sind dadurch erheblich geändert worden. Be¬
stimmte Texte sind schrittweise völlig eliminiert worden und sind in einigen Fällen
vollständig aus der Überliefemng verschwunden, ohne irgendwelche Spuren, außer
in den alten Übersetzungen, zu hinterlassen. Und zu diesen Übersetzungen gehört
dann in mehreren Fällen die georgische Übersetzung der alten liturgischen Denk¬
mäler.
3 The History of Byzantine Music and Hymnography by E. Wellesz, Oxford 1962, S. 130 ff 4 Helmut Leeb, Die Gesänge im Gemeindegottesdienst von Jerusalem (vom 5.-8. Jahrhun¬
dert), Wien 1970.
5 Vgl. die Kritik dieser Monographie von L. Chevsuriani, ein neues Werk über den Gesang im georgischen Lectionar (in: „Matsne", Serie für Sprache und Literatur, 1973 Nr. 2 - in geor¬
gischer Sprache).
Die synchronische und diachronische Untersuchung der Texttradition von be¬
stimmten literarischen Gattungen der liturgischen Denkmäler in der Sammlung der
Handschriften vom Sinai hat uns die Möglichkeit gegeben, die Entwicklungsge¬
schichte von bestimmten liturgischen Büchern, aber auch von ganzen hymnographi¬
schen Traditionen und bestimmten poetischen Formen, zu überschauen. Unter
diesem Gesichtspunkt hat man die ältesten Versionen des georgischen Hirmologion studiert und veröffentheht*. Man hat außerdem für die Publikation vorbereitet:
a) eine ausführliche Version des georgischen pneumatischen Hirmologion
des 10. Jahrhunderts und b) ein altes Hymnarium nach vier Handschriften des 10.
Jahrhunderts vom Sinai'. In der Untersuchung, die diese Textedition begleitet, wird die Bedeutung des alten georgischen Hymnariums für das Studium der griechischen
Hymnographie der Jerusalemer Periode aufgezeigt. Dabei hat man festgestellt, daß
die Sammlung georgischer liturgischer Codices vom Sinai uns zwei Versionen eines alten Hymnariums überliefert hat. Die erste Version, die in vier Handschriften des
10. Jahrhunderts enthalten ist, erinnert in ihrer Stmktur an das georgische Lectio¬
nar (das man in das 5 .-7. Jahrhundert datiert). Doch im Unterschied zum letzteren ist diese Sammlung reich an Troparien tmd Kanon-Dichtungen.
Der Festkalender dieses Hymnariums ist sehr begrenzt. Vor allem sind die Her¬
renfeste vertreten. Der Jahreskalender beginnt mit dem Fest von Maria Verkündi¬
gung (25. März). Einen analogen Kalender hat man auch in bestimmten anderen
georgischen liturgischen Handschriften feststellen können, z.B. in den alten georgi¬
schen Homiliarien, die man in der wissenschaftlichen Literatur in das 5.-6. Jahr¬
hundert datiert*. Man muß annehmen, daß die erste Fassung des alten georgischen Hymnariums dämm nicht später als ins 6. Jahrhundert zu datieren ist.
Trotz der Ähnlichkeit in der Struktur der ersten Version des Hymnariums und
des Lectionariums sind die Lesungen aus dem Alten und Neuen Testament hier
nicht vertreten. Das Hymnarium enthält nur Oden, die der Form nach sehr verschie¬
den sind, die dazu bestimmt sind, das Officium mit hymnographischem Material
zu komplettieren, das in den Lectionarien nur durch Psalmen und eine sehr geringe
Zahl von Prosa-Troparien vertreten war. Hingegen erstaunt das Hymnarium uns
dureh das reichliche Vorhandensein von poetischen Troparien. Das Wortgefleeht
der Troparien ist sehr einfach und gibt uns oft den Eindruek, daß es sich um eine
Paraphrase vorrausgehender Troparien handelt. Nichts desto trotz tragen sie doch
eine individuelle konkrete Prägung, vor allem eine poetische Emotionalität. Dies
gilt insbesondere von den Troparien für Ostern und der großen Fastenzeit. Die
stereotypen poetischen Formen der Bußtroparien erinnern häufig an bestunmte
Passagen im Großen Kanon des Andreas von Kreta. Wenn man das reiche poetische
Universum der alten geistlichen byzantinischen Poesie kennt, dann versteht man,
welches vielfältige Repertoire poetischer Formen von den berühmten griechischen
Hymnoden der Schule von St. Saba benutzt werden konnte - von Kosmos von
Jerusalem, Johannes Damaszenus und den anderen.
6 Deux versions anciennes de l'Hirmologue georgien, d'apres les manuscrits des X^-Xie sie¬
cles. Publication et etude par H. Metreveli, Tbilissi, 1971.
7 Publikation vorbereitet durch H- Metreveli und L. Chevsuriani.
8 M. van Esbroeck, Les plus anciens homeliaires georgiens, Louvain-la-Neuve, 1975.
In dem alten Hymnarium fmdet man neben den poetischen Troparien und den
Stichera schon die neue poetische Form: den hymnographischen Kanon in seiner
einfachsten Form. Sowohl bei den Troparien als auch bei den Kanones sind die
Melodien nach emem Acht-Tonartensystem angegeben. Der Kanon des alten Hym¬
nariums ist in Prosa geschrieben, trotzdem ist er deutlich in Strophen (Troparien)
abgesetzt. Seine poetischen Merkmale bestehen im Refrain, der der Komposition
einer Ode oder mehrerer Strophen des Kanons einen bestimmten Rhythinus ver¬
leiht. Der alte Kanon kennt den Heirmos noch nicht, die rhythmische und melo¬
dische Modellstrophe der Ode. Sowohl in seiner Form als auch in seinem Inhalt
ist der Kanon innigst an die bibhschen Vorlagen der Cantica gebunden. Im Unter¬
schied zum klassischen Kanon des 7.-8. Jahrhunderts ist im alten Kanon die Zahl
der Troparien nicht festgelegt. Ihre Zahl variiert vielmehr von 3 bis 7. Die poeti¬
schen Mittel und die Wortwahl des alten Kanons ist sehr einfach und klar. Es feh¬
len dogmatische Äußerungen, wie sie nachher fiir die Schule des Damaszenus
charakteristisch werden.
Das Alter der Kanones ün georgischen Hymnarium wird auch durch die Tatsache
bestätigt, daß diese Kanones tatsächlich aus 9 Oden bestehen. Die zweite Ode, die
später aus dem Kanon elüniniert wurde, nimmt hier ihren legitimen Platz ein.
Wenn die Datierung, die wir für das alte georgische Hymnarium (in seiner ersten Version) vorschlagen, zutrifft, muß die Datierung, die in der wissenschaftlichen Literatur für das Auftreten der Gattung des poetischen Kanons allgemein angenom¬
men wud (7. Jahrhundert) aufgegeben werden und schon in das 6. Jahrhundert
verlegt werden. Außerdem ist es notwendig, ausgehend vom Material, das das alte
Hymnarium liefert, die Bande, die den poetischen Kanon mit den bibhschen Canti¬
ca verbindet, viel enger zu sehen.
So hat also die alte Version des georgischen Hymnariums in den Handschriften
des 10. Jahrhunderts vom Berg Sinai und den ältesten Typ des griechischen Hym¬
nariums überliefert. Es ist ohne Zweifel Ende des 6. Jahrhunderts oder zu Beginn
des 7. Jahrhunderts schon ins Georgische übersetzt worden. In der Folgezeit hat er
verschiedene Modifikationen erlebt, die durch die Zeiterfordernisse bedingt waren:
Man hat verschiedene Ergänzungen hinzugefügt und den Text revidiert, genauso wie
man es in den alten georgischen Lectionarien und Homüiarien getan hat. Damm ist
es eine Hauptaufgabe der Herausgeber dieses einzigartigen Hymnariums und derer,
die es dann weiter untersuchen werden, die historische Füiation des Textes genau
festzustellen, wobei man alle vier Versionen des alten Hymnariums untersuchen und
miteinander konfrontieren muß. Wie ich schon sagte, ist die griechische Vorlage der
ersten Version des alten georgischen Hymnariums nicht erhalten. Und dieses Hym¬
narium ist dann vom 10. Jahrhundert an aus der palästinischen liturgischen Praxis
durch die zweite Version verdrängt worden, eine Version nach der Liturgiereform.
Die Existenz des alten Hymnariums ist im Griechischen nur durch einige vereinzelte Hinweise und Zitate in den griechischen Paterika und durch seine voUständige Über¬
setzung ins Georgische dokumentiert. Die georgische Übersetzung des alten Hymna¬
riums kann uns helfen, das vergessene poetische Universum der alten griechischen,
byzantinischen Hymnographie des 6.-7. Jahrhunderts zu durchdringen. In der
georgischen Handschriftensammlung des Sinai fmdet man die zweite Version des
georgischen Hymnariums (ladgari) ebenfalls reich repräsentiert. Auch seine grie-
chische Vorlage ist verschwunden. Diese zweite Version ist ebenfalls in Palästina,
im Kloster St. Saba im Lauf des 7.-8. Jahrhunderts hergestellt worden. Sie fällt
in die Periode der Erneuerung, in der die geistliche Dichtung durch die berühmten
Hymnoden der hymnographischen Schule von St. Saba - Kosmos von Jerusalem
und Johannes Demaszenus auf eine neue Stufe gehoben worden war. Dadurch wird
die neue poetische Form des Kanon und der Stichera bestimmt, die auf der Einfüh¬
rung des Heirmos und von Troparien (= Folge-Strophen) basiert und die eine neue
Entwicklungsstufe der byzantinischen Hymnographie darstellt.
Zum Schluß dieser kurzen Darstellung der ersten und der zweiten Version des
alten georgischen Hymnariums möchte ich nochmal unterstreichen, daß die reiche
georgische hymnographische Übersetzungsliteratur und vor allen Dingen die zwei
Versionen des alten georgischen Hymnariums mit einer gewissen Fülle die ersten
Entwicklungsetappen der byzantinischen Hymnographie des 5.-10. Jahrhunderts
in der Praxis der palästinischen Liturgie zeigen können.
Natürlich ist der Kreis der Probleme, die mit dem Studium dieser alten liturgi¬
schen und hymnographischen Denkmäler verbunden sind, unermeßlich groß. Meh¬
rere Generationen von Forschern werden noch an diesen Problemen zu rätseln ha¬
ben. Aber um die Untersuchung mit Erfolg vorzunehmen, ist vor allem eine kriti¬
sche Edition des Textes notwendig (wie wir sie vorbereiten).
von Erik ten Napel, Roden (Niederlande)
Emmanuel bar Shahhare soll in der zweiten Hälfte des zehnten Jahrhunderts
gelebt haben. Viele Einzelheiten über sein Leben sind nicht bekannt. Weder Asse¬
mani noch Wright und Baumstark wissen in ihrer Literaturgeschichte mehr zu be¬
richten, als daß er als Exeget tätig gewesen sein soll im „Daira Ellaita", dem ,, obe¬
ren Kloster" bei Mosul'. Es handelt sich dabei um das Kloster des Mar Gabriel und
des Mar Abraham, das im sechsten Jahrhundert gegründet wurde. In seiner langen
Existenz ist die Gestalt ISo'yabh's III. (gest. 657/8) sehr bedeutend gewesen, weil er das Kloster zum Mittelpunkt einer liturgischen Reform machte*.
Diesem Emmanuel werden 28 MßmrS zugeschrieben, von denen die ersten 15
sich direkt mit der Schöpfung befassen, während die letzten 13 die Rettung und
Erlösung des Menschen durch den Tod Christi behandeln. Wie bekannt, stehen
Schöpfung und Erlösung in der syrischen Theologie miteinander in engster Verbin¬
dung, weshalb eine derartige Struktur der Texte nicht verwunderlich ist. Die über
die Schöpfung handelnden Abschnitte sind folgendermaßen zu verteilen:
MSmrä 1 : Abhandlung über den Prolog des Johannesevangeliums.
Mlmrä2 : fehlt.
MSmrS 3, 4, 5, 6, 7: Schöpfung der Engel und des Lichtes am ersten Tag. Schöpfung des Himmelsgewölbes, des Samens, der Bäume, des Paradieses.
M^mre 8,9,10: Schöpfung der Himmelskörper, der Meeres- und der Landtiere.
Memre 11,12,13: Schöpfung des Mannes und später des Weibes. Der Sündenfall.
Memra 14: Urteile den Sündenfall anbelangend.
MImra 15: Der Ruhetag.
In semer Literaturgeschichte nennt Baumstark elf Manuskripte dieses Sechstage¬
werkes', von denen vier Mss. heute leider nicht mehr vorhanden smd, weil sie verlo¬
rengingen oder nicht zugänglich sind. Zwei dieser vier gehören zu den ältesten Ma¬
nuskripten. Es sind Urmia 33 (13./14. Jahrhundert) und Seert 119 (1437). Neben
diesen zwei Handschriften ist auch NdSem 33 (von Baumstark irrtümlicherweise als
35 bezeichnet) unzugänglich. Die übrigen sieben Handschriften sind: Jer. Patr. 34.
1 J. S. Assemani, Bibliotheca Orientalia III, 1 Roma 1725, 277. - W. Wright, A short History of Syriac Literature, London 1894, 231/232. - A. Baumstark, Geschichte der syrischen Literatur, Bonn 1922, 238. - J. B. Chabot, Literature Syriaque, Paris 1935, 117.
2 Vgl. A. Rücker, Das „obere Kloster" bei Mosul und seine Bedeutung für die Geschichte der ostsyrischen Liturgie, O. C. dritte Serie 7-8, 1932/33, 180-187. - Vgl. W. C. van Unnik, Nestorian Questions on the Administration of the Eucharist by Isho'yabh IV, Diss. Amster¬
dam 1937, 16-64.
3 A. Baumstark, Geschichte der syrischen Literatur, Bonn 1922, 238.
XX. Deutscher Orientalistentag 1977 in Erlangen