Deutsches Ärzteblatt
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Jg. 109|
Heft 22–23|
4. Juni 2012 A 1131Blick über die Grenzen
Der New Yorker Neurochirurg über die Beliebtheit von Barack Obamas Gesundheits- reform und was man von Deutschen Ärztetagen lernen kann
Herr Dr. Carmel, Sie haben bereits zum zweiten Mal einen Deutschen Ärztetag besucht. Was interessiert Sie beson- ders?
Carmel: Das deutsche Gesund- heitswesen interessiert uns in den USA sehr. Es ist immerhin das größte und erfolgreichste System in Europa. Interessant fand ich die De- batte darüber, ob dieser Erfolg von einer möglichst großen Zahl an All- gemeinärzten abhängt, die die Grundversorgung sicherstellen. Im Plenum wurde gesagt, dass sich nur 15 Prozent der Ärztinnen und Ärzte für die Allgemeinmedizin entschei- den, und es wurde die Frage ge- stellt, ob diese Zahlen gesteigert werden müssen.
Allerdings muss man einräu- men, dass es keine validen Daten
über das ideale Verhältnis zwi- schen Primärversorgern und Spe- zialisten gibt. Das hängt immer vom Land, von der finanziellen Ausstattung des Gesundheitssys- tems und den Wünschen der Bevöl- kerung ab.
Wenn Sie das deutsche und das US- amerikanische Gesundheitssystem vergleichen, welche Vor- und Nachteile sehen Sie?
Carmel: Das größte Problem des amerikanischen Gesundheitswe- sens sind die Kosten. Wir geben in- zwischen etwa 19 Prozent unseres Bruttosozialprodukts für die Ge- sundheitsversorgung aus. Das kann so nicht weitergehen. Die beiden staatlichen Programme Medicare für Ältere und Medicaid für sozial Schwache sind unterfinanziert. Me- dicaid zahlt so schlecht, dass sich kaum noch Ärzte finden, die Pa- tienten aus diesem Programm be- handeln. Das Problem des Kran- kenversicherungsschutzes haben sie in Deutschland besser gelöst.
Dagegen haben sowohl Deutsch- land als auch die USA Schwierig- keiten, genügend Ärzte zu motivie- ren, auf dem Land zu arbeiten. Ein wirksames Rezept haben wir noch nicht gefunden.
Sie haben den fehlenden Krankenversi- cherungsschutz für viele Amerikaner erwähnt. Ist die Gesundheitsreform von Präsident Barack Obama ein richtiger Schritt zur Lösung dieses Problems?
Carmel: In den USA leben zurzeit mehr als 50 Millionen Menschen, die nicht krankenversichert sind.
Das Reformgesetz von Präsident Obama wird dafür sorgen, dass von diesen Menschen 32,5 Millionen
künftig versichert sind. Das ist ein großer Schritt vorwärts.
Wenn man die Zeitungen liest, könnte man den Eindruck gewin- nen, die Reform sei extrem unpopu- lär. Aber das stimmt nicht. Die Be- völkerung will den universellen Krankenversicherungsschutz, und die Ärzte wollen das auch. Jeder Amerikaner sollte Zugang zur Ge- sundheitsversorgung haben.
Ist das auch die Position der American Medical Association?
Carmel: Wir sprechen uns klar für eine Versicherungspflicht für alle aus. Menschen, die sich keine Krankenversicherung leisten kön- nen, muss der Staat unterstützen.
Wenn der Oberste Gerichtshof En- de Juni entscheidet, dass die univer- selle Versicherungspflicht, wie sie Obamas Reform vorsieht, gegen die Verfassung verstößt, wird das die Gesundheitsversorgung in den USA in eine ihrer größten Krisen stürzen.
Was nehmen Sie denn vom Ärztetag mit nach Hause?
Carmel: Ich fand es schon im letz- ten Jahr in Kiel beeindruckend, wie sich die deutschen Ärzte für die Freiberuflichkeit einsetzen und für ihre Selbstständigkeit in eigener Praxis kämpfen. Das ist nicht das, was Amerikaner mit dem deutschen Gesundheitswesen verbinden. Das gängige Vorurteil gegenüber den Sozialsystemen in Europa ist, dass es sich um monolithische Blöcke handelt, die staatlich kontrolliert werden. Das Gespräch mit Ärzteor- ganisationen in anderen Ländern öffnet einem die Augen.
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INTERVIEW
mit Peter W. Carmel M.D., Präsident der American Medical Association
Nach fast 30 Jah- ren in der Berufs- politik steht Peter W. Carmel seit Juni 2011 an der Spitze der American Medi- cal Association. An- sonsten leitet er an
der Medizinischen Fakultät der Univer- sität New Jersey die Abteilung für Neuro- chirurgie. Carmel lebt in Manhattan.
Das Gespräch führten Heike Korzilius und Falk Osterloh.