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Archiv "Zenta Maurina oder: Das Unmögliche ist möglich" (03.04.1975)

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Spektrum der Woche Aufsätze • Notizen FEUILLETON

Die Lebensdaten spiegeln das Schicksal einer Vertriebenen. Es ist kein seltenes Schicksal in diesem Jahrhundert, das D. H. Lawrence seinem Wesen nach tragisch ge- nannt hat, aber es ist ein glühen- des Beispiel von der Bekämpfung des körperlichen Leidens durch den Geist.

1897 wird Zenta Maurina in Lejasci- ems in Lettland geboren. Der Vater ist ein lettischer Kreisarzt, die Mut- ter eine deutschstämmige Piani- stin. Aufwachsend im Doktorhaus zu Grobina, gleich vertraut mit der let- tischen, der russischen und der deutschen Sprache, erkrankt das temperamentvolle Kind mit fünf Jahren an Poliomyelitis und ist seit dieser Zeit an den Rollstuhl gefes- selt.

Gegen den Willen der Eltern er- zwingt sie. die Aufnahme ins Gym- nasium und besteht das Abitur mit Auszeichnung. Wieder gegen den Rat aller bezieht sie die Universität Riga, studiert baltische Philologie, hört in Heidelberg bei Gundolf und Rickert, promoviert 1938 zum Dr.

phil. habil. summa cum laude.

Dazwischen unternimmt sie Reisen nach Wien, nach Florenz und nach Litauen. 1919 beginnt die reiche schriftstellerische Tätigkeit, ab 1927 vor allem zahllose Vorträge über literarische und philosophische Themen.

Sie gründet ein Progymnasium (1918), ist Lektorin an der Pädago- gischen Hochschule in Riga (1927 bis 1928), errichtet eine private Li- teratur-Akademie in Riga (1929 bis 1940) und wird zur Mitbegründerin

der VolkshochschLfle in Sidrabene (1930 bis 1940). 1935 begegnet sie ihrem Schutzengel Albatros, dem lettischen Romancier und Kultur- kritiker Konstantin Raudive, der sie seit dem Jahre 1936 nicht mehr ver- läßt.

Beim Ausbruch des Zweiten Welt- krieges bildet Zenta Maurina in Lettland ein hochgeachtetes, gei- stiges Zentrum. 1940 marschieren die Bolschewisten ein, 1941 er- scheint ihr gesammeltes Werk in zehn Bänden. Dann besetzen die Deutschen ihr Land und werden schließlich von den Bolschewisten wieder verdrängt. Ihre Flucht im Rollstuhl beginnt 1944, führt in zwei Jahren über Hermsdorf, Sayda nach Detmold und endlich 1946 nach Uppsala in Schweden, wo Zenta Maurina heute noch lebt.

In Uppsala schreibt sie ihre große Autobiographie, Essays, Romane, Erzählungen und beginnt 1951 er- neut eine ausgedehnte Vortragstä- tigkeit in Deutschland, Österreich und in der Schweiz. Bis 1972 zählte man über 550 Vorträge. Ihr heute vorliegendes Werk gliedert sich in vier Teile: die Essays, die Autobio- graphie, Romane und Erzählungen, die Vorträge und die Übersetzun- gen.

„Das Essay", sagt Zenta Maurina einmal, „ist meine liebste Aus- drucksform." Und ihre Essay-Bän- de beweisen das. Ihr erstes deut- sches Buch ist eine Essay-Samm- lung und zugleich eines ihrer be- kanntesten: „Das Mosaik des Her- zens" (1947). 1972 hatte dieses Buch schon die zwölfte Auflage er- reicht!

Die eigene dichterische Pro- duktion des Autors wurde im Feuilleton des DEUTSCHEN ÄRZTEBLATTES schon vor- gestellt (in der Kolumne

„Arzt — und Poet dazu" in Heft 36/1971 und Heft 15/

1974; „Eine Totenmesse für den Homo ludens" in Heft 3/

1973, Seite 175; „Die Insel des Lanzarotto" in Heft 46/

1973, Seite 3223-3227). Die- sen Aufsatz über die letti- sche, in Schweden lebende Essayistin und Dichterin Zen- ta Maurina, die seit ihrem fünften Lebensjahr an den Rollstuhl gefesselt ist, hat er als ein Thema angekündigt, das für Ärzte interessant sein könnte, weil es um eine Frau geht, die „ihr Leiden mit un- faßbarer Geisteskraft über- wunden hat": „Das Ganze ist ein großes menschliches Bei- spiel von der Überwindung des körperlichen Leidens durch die geistige Tat."

Sie schreibt Essays über philoso- phische Themen, besonders aber über die Literatur. Zuerst über die lettischen Dichter Rainis, Aku- raters, Poruks, Bardas und Anna Brigardere. Später über Pascal, Stendhal, Sillanpää, Baudelaire, Ib- sen, Kivi, das Kalevala-Epos, ein Dante-Buch und immer wieder die Russen.

Selbst in Lettland, jenem Grenz- land zum russischen Reich, gebo- ren, ist es ihr selbstverständlich, daß die Balten das Licht aus dem Osten auffingen und in den Westen leiteten. Diese Mittlerposition hat Zenta Maurina auch aus dem schwedischen Exil beispielhaft fort- gesetzt. Sowjetrußland konnte sie an dieser Aufgabe und dieser Liebe nicht hindern, denn sie ist fest da- von überzeugt, daß die Dichter die Wegweiser des Volkes sind und daß wir sie studieren müssen, wenn wir ein Volk von innen ken- nenlernen wollen. So schreibt sie

Zenta Maurina oder:

Das Unmögliche ist möglich

Christoph Lippelt

DEUTSCHES .ARZTEBLATT Heft 14 vom 3. April 1975 1001

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Zenta Maurina Foto: Ingeborg Inhoffen Spektrum der Woche

Aufsätze Notizen Zenta Maurina

über Lomonossow, Tschechow, die Achmatowa, über Andrej Sinjaws-

kij, Julij Daniel, Maximow, Valerij Tarsis, Solschenizyn u. a.

„Man sieht

nur mit dem Herzen gut"

Ihr Herz aber, sagt sie, ist ihr Do- stojewskij-Buch. Es erscheint 1933 in Riga, die deutsche überarbeitete und erweiterte Fassung 1952 bei Maximilian Dietrich in Memmingen.

Man lernt in diesem frühen Buch geradezu programmatisch den Stil,

die Arbeitsweise und die Absicht dieser gelehrten Frau kennen, und man findet sie in allen ihren späte- ren Büchern wieder. Eine klare Gliederung, Zeittafel, Bibliographie, Register und eine virtuose Durch- führung. Feste, wissenschaftlich anmutende Kapitel von schönster Klarheit über das Leben des Dich-

ters und seine Verbindungen mit Europa umschließen die langen Passagen sorgsamer auf Ergriffen- heit und Gläubigkeit basierender Interpretation. Diese vorsichtigen Deutungsversuche zerstören das Kunstwerk nicht. Es sind keine phi- lologischen Vivisektionen, die zwi- schen leblosen Fetzen enden, son- dern eine Art Mitleben und Mit- schwingen im Werk des Dichters, wodurch eine tiefere Werkkenntnis erreicht werden kann. Hierbei ver- bindet sich wissenschaftliche Exaktheit mit der Liebe zum Kunst- werk. „Der Feind der Liebe ist Schlamperei", sagt Zenta Maurina an anderer Stelle.

Wir lernen in diesem Dostojewskij- Buch ihre tiefe, im Christentum wur- zelnde Gläubigkeit, ihre phänome- nale Belesenheit und ihren ganz ei- genen Stil kennen. Man möchte von emotionaler Sachlichkeit spre- chen, und man denkt an das Ge- heimnis des Fuchses in Saint-Exu- pärys „Kleinem Prinzen": „Man sieht nur mit dem Herzen gut. Das Wesentliche ist für die Augen un- sichtbar."

In der Dostojewskij-Studie findet man Auseinandersetzungen mit Stefan Zweig, Thomas Mann, Mar- cel Proust u. a., deren Diktion kei- nen Widerspruch zu dulden scheint. Und man findet bekennt- nishafte Sätze zu den Grundfragen des Menschseins. „Unter allen Qualen", schreibt Zenta Maurina über den großen Russen, „die der Mensch für den Menschen erdacht hat, ist der Verlust der persönli- chen Freiheit die größte. Das Be- wußtsein des Menschseins besteht in der Freiheit, und das Bewußtsein der Unfreiheit ist qualvoller als die schwerste Arbeit ... durch das Be- wußtsein der Unfreiheit verküm- mert der Mensch mehr als durch mangelhafte Nahrung, Schmutz und Kälte."

Das sind stolze Sätze, und das sind angreifbare Sätze, aber es ist die unverwechselbare Sprache der let- tischen Essayistin. Zenta Maurina hat Erzählungen — „Der nicht ab- gesandte Brief" (1940), „Birkenbor-

ke" (1967), „Tod im Frühling"

(1972) — und Romane — „Im Zuge des Lebens" (1941), „Drei Brüder", (1946), „Francesca" (1952) — ge- schrieben, aber ihr bedeutendster Roman ist ihr eigenes Leben, nie- dergelegt in der sechsbändigen Autobiographie.

Eine Autobiographie und eine

Kulturgeschichte

Die ersten drei Bände dieses Hauptwerkes — „Die weite Fahrt' (1951), „Denn das Wagnis ist schön" (1953) und „Die eisernen Riegel zerbrechen" (1957) — ha- ben den Ruhm der Dichterin fest begründet. Ihre Jugend in Grobina, ihre Lehrjahre und ihr Aufstieg in Riga, schließlich ihre Flucht bis nach Schweden sind der Inhalt.

Und dieser Inhalt ist ergreifend und stellenweise atemberaubend. Wird man doch Zeuge eines Vorganges, für den das Wort Vergeistigung ei- nen neuen Klang bekommt. Nichts von Esoterik und süßlicher Verklä- rung, sondern ein sehr hiesiger, ein sehr realer und erbitterter Kampf.

Man erlebt eine gelähmte, an den Rollstuhl gebundene Frau, die sich mit aller Energie gegen das schein- bar ausweglose Schicksal stemmt.

Sie, die sich bezeichnenderweise Amata nennt, schildert kompromiß- los ihr Aufbegehren, ihre Verzweif- lung, ihren Zorn, ihre Willensstärke und ihren Glauben an die Welt des Geistes.

Man erfährt von lettischen Mythen und lettischer Natur, man lernt ihre Freunde kennen und ihre Widersa- cher, das politische Geschick Lett- lands und seine Menschen, die gei- stige Landschaft der Heimat und Europas. Porträt auf Porträt malt die Dichterin, schenkt uns und der Literatur unvergeßliche Figuren und Geschichten. So entsteht eine Autobiographie und eine Kulturge- schichte von größter Bedeutung, da sie vom äußersten westlichen Bollwerk aus geschrieben ist. >

1002 Heft 14 vom 3. April 1975 DEUTSCHES ÄRZTEBLATT

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Spektrum der Woche Aufsätze • Notizen Zenta Maurina

Von besonderer Spannung ist der dritte Band „Die eisernen Riegel zerbrechen", der den Kampf gegen Bolschewisten und Nationalsoziali- sten und die Flucht bis nach Det- mold beschreibt. Die Lektüre die- ser Trilogie ist nichts für Garten- laubengemüter. Es ist der mutma- chende Bericht eines Menschen, der aus dem Dunkel der Krankheit sich im unzerstörbaren Glauben an das Gute im Menschen und an die geistige Kraft auf die Lichtseite hinüberkämpfen will.

Die nüchternen Gedanken Kants und die kühlen Gesetze der Mathe- matik haben ihr dabei ebenso ge- holfen wie die Liebe der Menschen, die sich immer wieder um sie scharten. „Wo aber Gefahr ist, wächst das Rettende auch." Dieses Hölderlin-Wort aus der Patmos- Hymne könnte man über das auto- biographische Werk der Dichterin setzen.

Die Vorträge und Übersetzungen Eng mit den Essays hängen ihre Vorträge zusammen. Stets spricht sie frei über ihre Gedanken, und die Resonanz aus dem Zuhörer- raum modifiziert ihre Improvisatio- nen. Viele der Gedankengänge fin- den sich dann früher oder später in ihren Essays wieder.

Erstmals spricht Zenta Maurina 1927 in Riga, im Laufe der Jahre in Paris, Florenz, Kaunas, Helsinki und in Schweden. 1946 spricht sie in Detmold, und seit 1951 macht sie jährlich ausgedehnte Vortragsrei- sen in Deutschland, Österreich und der Schweiz. Sie spricht über „Das unverlierbare Erbe des Abendlan- des" (1952), über „Sinn und Wider- sinn der Liebe" (1955), über „Die Langeweile und der gehetzte Mensch" (1961), und sie spricht vor allem über die Literatur. Über „Un- sterbliche Bücher der Weltlitera- tur" (1951), über „Licht und Finster- nis im russischen Schrifttum von Puschkin bis Pasternak" (1959), über „Die hingemordete russische Literatur" (1966), über Gogol, Do- stojewskij, Tschechow, Turgen-

jew, Solschenizyn, Bulgakow, Osip Mandelstam u. a.

Mit ihrer Feinfühligkeit, ihrer Liebe zur Weltliteratur und ihrer Mehr- sprachigkeit ist Zenta Maurina zur Übersetzerin prädestiniert. Aus dem Lettischen ins Deutsche sind es die lettischen Dichter und be- sonders das Werk des Freundes Konstantin Raudive, aus dem Fran- zösischen ins Lettische Romain Rolland und Albert Camus, aus dem Russischen ins Lettische Do- stojewskijs „Der Idiot", aus dem Englischen ins Lettische Carlyle und Thomas Hardy, aus dem Nor- wegischen ins Lettische Sigrid Undset.

Manchmal lebte sie nur von diesen Übersetzungen, manchmal waren auch sie Abenteuer wie die Glanz- tat der Übersetzung Romain Rol- lands unter den Bolschewisten.

Arno ergo sum, lautet das Bekennt- nis der Zenta Maurina. Und wenn sie über die große russische Lyri- kerin Anna Achmatowa schreibt:

„Sie trug jene unsichtbare Krone, die auch die zartesten Frauen vor dem Zusammenbruch bewahrt.

Aus empfangener und verströmen- der Liebe schmiedete sie einen Panzer der Unversehrbarkeit"

so ahnt man, warum sich Zenta Maurina dieser Dichterin innerlich verwandt fühlt.

Sie weiß mit Raskolnikow, daß

„Leiden und Schmerz für einen weiten Geist und ein tiefes Herz unumgänglich sind", und sie fragt selbst, ob das Tragische nicht das eigentlich Menschliche sei. Aber sie weiß auch, daß eine „Intensität im Leid zur Lebensbejahung führt", sie glaubt unbeirrt daran, daß „das irdische Paradies nicht ein soziali- stischer Ameisenstaat, nicht eine humanistische Utopie, sondern die Wiederkunft Christi ist" und daß

„das Gute nur dann seinen absolu- ten Wert besitzt, wenn es seinen Uranfang in Gott hat".

„Drei Dinge", schreibt sie in „Jahre der Befreiung" (1965), „sind für mich lebensnotwendig: Weltweite,

Widerhall, Wechselwirkung." Sie ist davon überzeugt, daß keine geisti- ge Tat sinnlos ist, „daß der Sinn des Lebens dort erst beginnt, wo wir die Kraft und die Ausdauer auf- bringen, scheinbar Unnützes zu tun". (Porträts russischer Schrift- steller, 1968.) „Das scheinbar Un- mögliche gehört zum Mensch- sein."

Der Stil ihrer Prosa fließt breit, ist ganz gewiß nicht modernistisch und frei von sprachlichen Experi- menten. Der Inhalt ist wichtiger als die Form. Die Beschreibung von Greueltaten geschieht nicht anders als die von Kunstwerken. Bei aller Gelehrsamkeit wird die Gefühlswelt des Lesers stark angesprochen.

Dabei fällt eine gewisse Humorlo- sigkeit und Unduldsamkeit bei der Darlegung geistiger Erkenntnisse auf, Urteile mit Absolutheitsan- spruch.

„Der Dichter ist unentbehrlich"

„Das weiße Gewand der lettischen Dichtkunst" soll frei von Flecken bleiben. „Eine Versuchung zum äu- ßersten Hochmut", meinte Luise Rin- ser feststellen zu können. In dem Essay-Band „Die Aufgabe des Dichters in unserer Zeit" (1965) geht sie mit vielen zeitgenössi- schen Autoren streng ins Gericht.

Die „Modernisten", „Homunkulus- Produzenten" und „Spalthirnigen"

würden weitgehend die literarische Welt beherrschen.

Zenta Maurina ist ständig auf der Suche nach den hellsten Sternen der Dichtung. Sie hat sich ihr Bild vom gottsuchenden menschenge- staltenden Dichter gemacht, und sie weicht von diesem Bilde, das sie unter anderen etwa in Alexan- der Solschenizyn, Giorgos Seferis, Dag Hammarskjöld, in Pound, Eliot und auch Ingeborg Bachmann ver- wirklicht sieht, nicht ab. Aus dieser besonderen Sicht mag man ihre Abneigung gegen Brecht, Hoch- huth, Grass, Dürrenmatt, Ingmar Bergman, Beckett, Paul Celan, Johnson, Ionesco, Henry Miller und andere verstehen.

DEUTSCHES .ÄRZTEBLATT Heft 14 vom 3. April 1975 1003

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Spektrum der Woche Aufsätze • Notizen

Zenta Maurina

Aber sie macht es ihrem Leser nicht leicht, wenn sie sagt, der Dichter künde „zeitlose Wahrheit", die Welt habe sich nicht geändert, und das Fehlen einer Interpunktion zeige die Sinnlosigkeit eines Wer- kes an.

Hier liegen einige Schwierigkeiten, die dem Werk dieser großen Dich- terin bei der jüngeren Generation begegnen können. Aber sie verdun- keln unserer Ansicht nach nicht den Glanz der Wahrhaftigkeit, der aus ihren Büchern leuchtet. Ihr Satz: „Der Dichter ist nicht nütz- lich, er ist unentbehrlich", trifft auf sie selbst zu.

Für die Freiheit des Geistes

Sie weiß sehr genau, daß sie ideali- siert wurde. Aber es war ihr keine Last, sondern ein hohes Ziel, so zu werden, wie die Freunde sie sa-

hen.

In diesem angeschmiedeten Dasein gab es nur zwei Möglichkeiten:

entweder den latenten Kräften des Untergangs nachzugeben oder der körperlichen Erbärmlichkeit die Kraft größter geistiger Stilisierung entgegenzustemmen. Die ganze Bösartigkeit, die sich gegen sie er- hob, ist daraus zu verstehen, daß die, die ihren persönlichen Kampf verloren haben, die Helligkeit eines solchen Sieges nicht ertragen kön- nen. Auch das gehört mit zu den tragischen Grundzügen des Men- schen.

Zenta Maurina hat ihre eigene In- terpretationsform gefunden. Meist wird diese etwas abschätzend als subjektiv bezeichnet. Tatsache ist aber, daß ihre Deutungen, weil sie schlicht sind und weil man ein Herz in ihnen schlagen fühlt, eine größe- re Anzahl von Menschen erreichen können als die Ergebnisse aus den professoralen Hochburgen.

Otto Schempp vergleicht Zenta Maurina nicht ohne Grund mit den großen Frauen der Romantik, mit

Dorothea Schlegel, mit Rahel Le- vin-Varnhagen. Und wie gut hat die Dichterin selbst über große Frauen geschrieben, über Anna Achmato- wa, über die „Seelenkönigin" Eleo- nora Duse, über Elly Ney, aber auch über Anna Grigorjewna Snit- kina, die zweite Frau Dostojews- kijs, über die Schwester Masi, über die Freundin Anna-Antigone und über die lettische Freiheitskämpfe- rin Marta Jura.

Eine der einzigartigen, zeitgenössi- schen Leistungen der Zenta Mauri- na liegt in ihrem mutigen Eintreten für die Freiheit des Geistes. Nicht aus dem Geist des Hasses sondern aus dem Geist der Liebe. Sie weiß, daß diese Freiheit dort am stärk- sten verteidigt wird, wo sich das Künstlertum der Wahrheit ver- schrieben hat. Deswegen wurden und werden in allen Diktaturen die- ser Erde jene Künstler unter faden- scheinigen Vorwänden liquidiert.

Sie sind die Märtyrer unserer Zeit und Beispiele dafür, wie sehr die Mächtigen die Wahrheit und die Freiheit fürchten. Wie sagte doch Chruschtschow beim ungarischen Aufstand 1956: „Nichts dergleichen wäre geschehen, wenn man recht- zeitig ein paar Schriftsteller er- schossen hätte."

Sie weiß, daß das Irrenhaus heute in der Sowjetunion zum Sammel- platz der besten russischen Intelli- genz geworden ist. Sie schreibt über die Geächteten, Gefangenen und Verjagten: neben den schon genannten über Alexander Gins- burg, Amalrik, die Tschukowskaja, Pasternak und viele andere.

Der Kampf der Mutigen gegen die Gewalt

Und wer die Diktion dieser Frau kennt, weiß, daß hier nicht irgend- eine Form des kalten Krieges be- trieben wird, sondern daß Mecha- nismen in voller Klarheit aufgezeigt werden, die überall auf der Welt gegen den Menschen in Gang ge- setzt werden: Der Wissenschaftler,

der Dichter, der Intellektuelle wird zur Gefahr für die Herrschenden, sofern er sein Gehirn nicht ver-

kauft. Er muß eliminiert oder um- gepolt werden. Ist das geschehen, und hört das Volk nicht mehr die Stimmen der Mutigen und Wahrhaf- tigen, wird man ohne Mühe heran- gehen können, das Volk selbst zu versklaven. Ein bestechend einfa- cher und sicher auch funktionie- render Gedanke. Ein Ziel, das wir alle sind!

Nur wenn wir wach werden, nur wenn wir den geistigen Terror überall auf der Welt erkennen, nur wenn wir die Hilfe der Dichter auf diesem Weg annehmen, können wir hoffen.

In seiner nie gehaltenen, aber ver- öffentlichten Nobelpreisrede sagt Alexander Solschenizyn: „Laßt uns, meine Freunde, in dieser Stunde nicht mutlos werden, sondern der Welt helfen. Laßt uns nicht trotz un- serer Waffenlosigkeit aufgeben, sondern in den Kampf hinauszie- hen. Allem kann vielleicht die Lüge in der Welt widerstehen, aber nicht der Kunst. Kaum ist die Lüge auf- gedeckt worden, da zeigt sich die Gewalt in ihrer gesamten Nacktheit und fällt machtlos zusammen."

Anschrift des Verfassers:

Dr. med. Christoph Lippelt 7 Stuttgart 50

Tannenbergstraße 5

Neue

Lyrik-Anthologie geplant

Der Herausgeber der „Lyrik deutschsprachiger Ärzte der Gegenwart 1971" und der

„Prosa deutscher Ärzte der Gegenwart 1974" teilt mit, daß er 1975 eine neue Lyrik- Anthologie herausgibt. Ein- sendungen mit frankiertem Rückkuvert erbittet bis zum 1. April 1975 Dr. med. Armin Jüngling, 8211 Unterwös-

sen. DÄ

1004 Heft 14 vom 3. April 1975 DEUTSCHES ÄRZTEBLATT

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