• Keine Ergebnisse gefunden

Archiv "Sozialpsychiatrie in der DDR: Die unvollendete Reform" (20.09.2013)

N/A
N/A
Protected

Academic year: 2022

Aktie "Archiv "Sozialpsychiatrie in der DDR: Die unvollendete Reform" (20.09.2013)"

Copied!
2
0
0

Wird geladen.... (Jetzt Volltext ansehen)

Volltext

(1)

A 1732 Deutsches Ärzteblatt

|

Jg. 110

|

Heft 38

|

20. September 2013

SOZIALPSYCHIATRIE IN DER DDR

Die unvollendete Reform

Vor 50 Jahren wurden die „Rodewischer Thesen“ formuliert. Ihr Ziel war die Öffnung der großen Anstalten in der DDR – es wurde jedoch nicht überall erreicht.

W

ährend die Psychiatrie-En- quete des Bundestages von 1975 bis heute noch zurate gezogen wird, wenn es um die psychiatrische Versorgung geht, sind die Rodewi- scher Thesen der DDR-Psychiatrie aus 1963 allenfalls Fachkreisen be- kannt. Zu Unrecht, handelt es sich doch um einen relativ frühen und ambitionierten sozialpsychiatrischen Ansatz, die Verwahr-Psychiatrie zu überwinden. Mit den Thesen knüpf- te die DDR zumindest theoretisch an angelsächsische und skandinavi- sche Vorbilder an, auch das sowjeti- sche Dispensaire-System spielte her ein. Der Rodewischer Ansatz, die großen Anstalten zu öffnen und die Patienten soweit als möglich ambulant oder halbstationär zu be- treuen und eine „aktive therapeuti- sche Einstellung“ zu fördern, wirkt auch heute noch modern. Zeitbe- dingt erscheint hingegen, dass die Thesen stillschweigend von der An- stalt als der Basis jeglicher Versor- gung ausgehen.

Das Treffen im Mai

Vom 23. bis 25. Mai 1963 trafen sich Vertreter der 22 Psychiatrischen Groß-Anstalten („Fachkrankenhäu- ser“) und einiger Universitätsklini-

ken der DDR in Rodewisch mit Kol- legen aus sozialistischen und westli- chen Ländern, darunter auch der Bundesrepublik Deutschland, zum

„1. Internationalen Symposium über psychiatrische Rehabilitation“. Ro- dewisch, südwestlich von Chemnitz, damals Karl-Marx-Stadt, gelegen, war wegen seines Fachkrankenhau- ses für Psychiatrie und Neurologie gewählt worden, einer zeittypischen Mammutanstalt mit (seinerzeit) um die 1 500 Betten. Das Treffen, hinter dem auch das DDR-Gesundheitsmi- nisterium stand, endete mit zehn Thesen. Zehn Jahre später, im Janu- ar 1974, ergänzten drei Ärzte aus der Bezirksnervenklinik Branden- burg die Rodewischer Thesen um die neun „Brandenburger Thesen“.

Die Rodewischer Reformer for- derten unter anderem

eine „komplexe Therapie“, die

„von den neuroleptischen Psycho- pharmaka über die vielfältigsten Methoden der Arbeitstherapie bis zu den gruppenpsychotherapeuti- schen Verfahren“ reicht.

die Öffnung der Krankensta- tionen für den überwiegenden Teil der Kranken. Entscheidend dafür seien „ein durchdachtes rehabilita - tives Heilregime, der fürsorgliche

Geist des Personals, die damit ge- schaffene Heilatmosphäre und die aktive Einstellung zur komplexen Therapie“.

die Trennung der Stationen für akut Erkrankte von denen für chro- nisch Kranke sowie die Differen- zierung von Jugend- und Alterssta- tionen.

ein umfassendes System der Außenfürsorge, zu organisieren vom Fachkrankenhaus, mit Beto- nung der nachgehenden Fürsorge.

ärztlich verordnete Arbeits- therapie, eingeschlossen „engste Verbindungen zu den Produktions- betrieben“, daneben Übergangslö- sungen zwischen arbeitstherapeuti- schen Einsätzen und der vollen Er- werbstätigkeit.

Ausführlich zu „Öffnung“ und

„fürsorglichem Geist“ äußern sich die Brandenburger Thesen. Sie krei- sen um die „Therapeutische Ge- meinschaft“ von Patienten und The- rapeuten und sind durchzogen von therapeutischem Optimismus, wört- lich: „Viele Erfahrungen haben ge- lehrt, dass der Übergang vom Sys- tem der widerspruchslosen Anord- nung zur eigenverantwortlichen Mitbestimmung, verbunden mit op- timaler Selbstverwaltung und Selbst- Die psychiatrische

Klinik in Rode- wisch, nahe dem heutigen Chemnitz, diente 1963 als Veranstaltungsort für das „1. Interna - tion ale Symposium über psychiatrische

Rehabilitation“.

T H E M E N D E R Z E I T

Foto: picture alliance

Foto: Wikipedia

(2)

Deutsches Ärzteblatt

|

Jg. 110

|

Heft 38

|

20. September 2013 A 1733 kontrolle die Möglichkeit schafft –

bis auf wenige Ausnahmen – , sämt- liche Stationen der psychiatrischen Krankenhäuser zu öffnen.“

Zweimal Sektorisierung Die Rodewischer Forderungen la- gen im Trend der Zeit, meint Prof.

Dr. med. Klaus Weise aus Leipzig im Gespräch (siehe Interview) und verweist auf das westliche Ausland.

„Mit Rodewisch ist man auf den fahrenden Zug aufgesprungen“, for- muliert unverblümt Dr. med. Karen Bellin, Internistin aus Neuruppin.

Weise und Bellin haben je auf ihrem Feld Reformen umgesetzt. Weise, Ende der 50er Jahre in Rodewisch weitergebildet, leitete von 1973 bis 1995 die psychiatrische Universi- tätsklinik in Leipzig und entwickel- te diese „zur sozialpsychiatrischen Leiteinrichtung der DDR“, wie Kenner der Szene urteilen.

Bemerkenswert am Leipziger Modell ist – neben der Öffnung der Stationen – die konsequente Sekto- risierung. Gemeint ist damit „die Schaffung relativ selbstständiger, in sich geschlossener Versorgungsein- heiten, die stationäre, Teilzeit- und ambulante Behandlungsmöglichkei- ten umfassen und für einen begrenz- ten Bereich des Territoriums (circa 250 000 Einwohner) zuständig sind“, heißt es in einer Informations- schrift des Leipziger Gesundheits- amtes. Die Universitätsklinik über- nahm in dieser Weise die psychiatri- sche Versorgung von Leipzig-Süd, zwei weitere Regionen übernahm die Bezirksnervenklinik Dösen – ein seltenes Beispiel der Kooperation von Universität und Anstalt (1).

Bellin, von 1962 bis 1995 an der Neuruppiner Nervenklinik tätig, zu- letzt als Chefärztin der Geronto - psychiatrie, sieht die Rodewischer Tagung als wegweisend für ihre Klinik an. Tatsächlich gilt Neurup- pin als ein Musterbeispiel für die sogenannte Sektorisierung im Sinne der Thesen im kleinstädtisch-ländli- chen Raum. Zu Beginn ihrer Tätig- keit, erinnert sich Bellin, war die im Pavillionstil erbaute Klinik mit ei- ner hohen Mauer und jedes Haus mit einem zwei Meter hohen Draht- zaun umgeben, die Fenster vergit- tert, die Türen stets abgeschlossen.

Gitter und Zäune seien im Gefolge von Rodewisch verschwunden. Die großen Krankensäle, eng mit Betten vollgestellt, wurden Zug um Zug zu Zimmern verkleinert, die Stationen geöffnet, eine Tagesklinik und eine Institutsambulanz eingerichtet, die Außenfürsorge organisiert. „Die Ar- beitsfähigen arbeiteten in der Stadt, mit richtigen Arbeitsverträgen“, so Bellin. Freilich, die Mittel seien im- mer knapp gewesen. So hätten zum Beispiel chronisch Kranke zu lange Zeit in der Klinik zugebracht, weil Heimplätze fehlten. Gab es Wider- stände gegen die Reformen? „Die Umsetzung erfolgte durch den ärzt- lichen Direktor, und das Ärzteteam machte begeistert mit“, versichert Dr. Bellin. Auch das Pflegeperso- nal? „Es gelang“, so Bellin diplo- matisch, „die Mitarbeiter von den therapeutischen Gemeinschaften zu überzeugen.“

Last der Vergangenheit

Reformen waren laut Bellin nicht nur wegen der kläglichen Umstände nötig. Die deutsche Psychiatrie ha- be es vielmehr nach den Verfehlun- gen in der Nazizeit schwer gehabt, ihre Glaubwürdigkeit als medizini- sche Wissenschaft wiederzuerlan- gen. Auch deshalb habe sie sich um Reformen im Sinne einer humanen Betreuung bemühen müssen. Bellin weiß, wovon sie spricht. Sie deckte anhand von Krankenakten auf, dass die frühere Landesanstalt Neurup- pin in das NS-„Euthanasie“-Pro- gramm als „Zwischenanstalt“ ein- gebunden war und trat mit ihren Forschungsergebnissen auf einer Medizinhistorikertagung 1989 als erste an die Öffentlichkeit.

Das Meinungen über die Wir- kungsgeschichte der Psychiatriere- form in der DDR gehen weit ausei- nander. Da ist einerseits der Leipzi- ger Leuchtturm (der ohnehin für sich steht), da sind die von den Ro- dewischer Thesen beeinflussten Re- formen in Neuruppin (und Mühl- hausen/Pfaffenrode, Berlin-Herz- berge und in Rodewisch selbst, er- gänzt Dr. Bellin). Dennoch: „Eine nachhaltige Wirkung auf die psych - iatrische Versorgung in der gesam- ten DDR blieb aus,“ resümieren Kumbier et al. Vielmehr habe bis

zur „Wende“ die traditionelle An- staltspsychiatrie überdauert. Offen- bar mehr schlecht als recht folgt man dem Bericht der Aktion Psy - ch isch Kranke zur Lage der Psych- iatrie in der ehemaligen DDR aus dem Jahre 1991. Der Bericht kon- statiert eine „verantwortungslose Vernachlässigung des Fachgebietes Psychiatrie innerhalb des Gesund- heitswesens der ehemaligen DDR“.

Steckengeblieben

Ist die Psychiatrie-Reform in der DDR denn nun gescheitert? Das wohl nicht, es gab ja die Ansätze.

Sie scheint eher steckengeblieben zu sein (2). Dafür gibt es viele Gründe, diese vor allem: Es fehlte das Geld, daher der bauliche Ver- schleiß. „Die DDR war ein armes Land“, erklärt Weise. Das DDR-Ge- sundheitsministerium respektierte zwar die Reformthesen, unterstützte deren Umsetzung aber nur halbher- zig. „Es gab zwar keinen Wider- stand gegen Reformen, aber die psychisch Kranken waren dem Staat nicht so wichtig“, meint Bellin.

Halbherzig war wohl auch die Unterstützung durch die traditio - nellen Anstaltspsychiater. Die Uni- versitätskliniken scheinen sich zu- meist verweigert zu haben. Ein Grund für die verbreitete Hinhalte- taktik dürften auch die unter schied - lichen therapeutischen Auffassun- gen gewesen sein: soziale versus biologische Psychiatrie.

In der DDR gab es keine öffentli- che Diskussion über die psychiatri- sche Versorgung, wie sie im Gefolge der Psychiatrie-Enquete in der Bun- desrepublik geführt wurde. Damit fehlte der öffentliche Druck, etwas zu bewegen. „Die Umsetzung schei- terte maßgeblich am politischen Sys- tem, das eine öffentliche Problem- analyse nicht zuließ“, sind jedenfalls Kumbier et al. überzeugt.

Norbert Jachertz

LITERATUR

1. vgl. zu Leipzig und Rodewisch auch Kum- bier E, Haack K und Steinberg H: „50 Jahre Rodewischer Thesen – Zu den Anfängen sozialpsychiatrischer Reformen in der DDR, Psychiat Prax 2013; 40(6): 313–20 (nach- folgend zitiert als Kumbier et al.).

2. Richter E: „Stecken geblieben – Ansätze vor 38 Jahren“, Dtsch Arztebl 2001; 98(6): 307.

T H E M E N D E R Z E I T

Referenzen

ÄHNLICHE DOKUMENTE

Wenn der angehende Arzt (aus welchen Gründen auch immer) sein sechsjähriges Studium fast durchweg in der Rolle des in- struierten und kontrollierten Ler- nenden durchlaufen

Zusammenfassung Der Artikel gibt einen Überblick über verschiedene Auffassungen, was unter dem Begriff »Sozialpsychiatrie« eigentlich zu verstehen ist. Dabei wird deutlich, dass

Für Nahrungsergänzungs- mittel reicht eine Anzeige beim Bundesamt für Verbraucherschutz und Lebensmittelsicherheit.. Protina ging mit seinen Basica®-Produkten aber einen

Dabei wird unter- stellt, daß die Ausgaben des Bun- des 1982 nur noch um 4,2 Prozent wachsen werden und die Neuver- schuldung von fast 35 Milliarden DM 1981 auf den immer noch ho-

Ein politischer Kompromiß und eine Minimalreform des noch vor 12 Jahren von seiten der Politiker noch als ein „Jahrhundertge- setz" hochgelobten

„Demokratie Jetzt“ sah es eher als Ziel an, dass sich beide Staaten einander annähern, dabei aber für sich genommen als Staat erhalten blieben.. Gemeinsam mit den

Die umstrittene Er- nennung von 13T Reema Dodin 13T , einer Amerikanerin mit palästinen- sischen Wurzeln, als Teil seines Teams für Gesetzgebungsfragen, deutet neben den Plänen

„einen besonderen Charakter, durch eine Art eigener Geistessphäre, sie wenden andere Metho - den an, sie verlangen jede andere Menschen, Menschen von anderem Interesse, Menschen