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Atmosphären und klimatische Topografien. Luft-Kulturen des 19. und 20. Jahrhunderts

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Atmosphären und klimatische Topografien. Luft-Kulturen des 19. und 20. Jahrhunderts

Atmosphären und klimatische

Topografien. Luft-Kulturen des 19. und 20.

Jahrhunderts

Veranstalter: Falko Schnicke / Regina Thumser-Wöhs, Institut für Neuere Geschich- te und Zeitgeschichte, Universität Linz Datum, Ort:09.12.2021–10.12.2021, Linz Bericht von:Julia Enzinger, Institut für Ger- manistik, Universität Wien

Dass das Reden und Nachdenken über Kli- ma und Klimaveränderungen keine exklusi- ven Erscheinungen der Moderne oder gar des 20. und 21. Jahrhunderts sind, dürfte weithin bekannt sein. Seit Jahrtausenden beobachtet und dokumentiert der Mensch atmosphäri- sche Phänomene, versucht ihr Zustandekom- men zu erklären, Regelmäßigkeiten zu ent- decken und ihre Einflüsse zu erfassen; daran hat sich bis heute nichts geändert. Was sich aber geändert hat und häufig vergessen wird:

Unser Klimabegriff, seit Julius von Hanns maßgebender Definition (1883) verstanden als

‚Durchschnittswetter‘1, ist relativ jung und vergleichsweise beschränkt. Die längste Zeit wurde Klima weder als mathematisierbares Abstraktum verstanden, noch lag die Deu- tungshoheit bei den (Natur-)Wissenschaften.

Vor allem für das 19. und frühe 20. Jahrhun- dert, als die systematische Klimaforschung noch mehr oder weniger in den Kinderschu- hen steckte, wird nur zu gerne übersehen, wie breit gefächert die Vorstellungen von Klima waren und in welch unterschiedlichen Kon- texten und Diskursen diese geprägt wurden.

Das Anliegen der von Falko Schnicke und Regina Thumser-Wöhs für das Institut für Neuere Geschichte und Zeitgeschichte ver- anstalteten Tagung, den sich wandelnden, kulturellen Deutungen der Klimawahrneh- mung in eben diesem Zeitraum nachzuge- hen, setzte damit bei einer klimageschicht- lichen Leerstelle an (zumindest im deutsch- sprachigen Raum)2, wobei der Vielschichtig- keit der Klima-Kulturen mit einer Bandbreite sich ergänzender Perspektiven begegnet wer- den sollte. Neben einer Fülle an Zuschrei- bungsformen und Wissensfeldern – von Ko- lonialismus und Medizin über Luftfahrt und Militär bis hin zu Psychiatrie und Religion – standen dabei Fragen nach klimaspezifi-

schen Kulturtechniken, der sinnlichen Wahr- nehmbarkeit sowie entsprechender „Luftak- teur:innen“ im Vordergrund.

Schon der erste Vortrag lieferte ein anschau- liches Beispiel für die Vielschichtigkeit des historischen Klimadiskurses und seiner Ak- teur:innen. FALKO SCHNICKE (Linz) ver- deutlichte darin, dass bereits ein Jahrhun- dert bevor sich die Klimatologie als eigen- ständige Disziplin etablierte, sowohl Klima- wandelphänomene als auch verschiedene Kli- makonzepte Themen der öffentlichen Dis- kussion waren. Schnicke untersuchte in die- sem Zusammenhang Klima-Meldungen in regionalen österreichischen und deutschen Tages- und Wochenzeitungen des frühen 19.

Jahrhunderts und ging dabei interregiona- len Bezügen nach, um zeitgenössische Klima- Vorstellungen auch außerhalb des wissen- schaftlichen Diskurses nachzuzeichnen. Die drei konkurrierenden Modelle, die er im Zu- ge dessen identifizierte – ein von der Sonne beeinflusstes Erdklima, die These regionen- spezifischer, voneinander unabhängiger Kli- mata sowie die eines überregionalen Sys- tems wechselseitigen Luftaustauschs –, sind nicht nur ein Beleg dafür, dass Klimawande- lerscheinungen schon relativ früh sehr breit

1Vgl. Julius von Hann, Handbuch der Klimatologie, Stuttgart 1883, S. 3: „Unter Klima verstehen wir die Ge- samtheit der meteorologischen Erscheinungen, welche den mittleren Zustand der Atmosphäre an irgend einer Stelle der Erdoberfläche charakterisieren.“

2Vgl. z. B. Martin Mahony / Samuel Randalls (Hrsg.), Weather, Climate, and the Geographical Imaginati- on. Placing Atmospheric Knowledges, Pittsburgh/PA 2020; James Beattie u. a. (Hrsg.), Climate, Science and Colonization: Histories from Australia and New Zea- land, London 2014; James Rodger Fleming / Vladi- mir Jankovic (Hrsg.), Osiris 26,1, Klima (2011); Wil- liam B. Meyer, Americans and their Weather, New York 2000; Alain Corbin, La Pluie, le Soleil et le Vent.

Une Histoire de la Sensibilité au Temps qu’il fait, Pa- ris 2013; Lucian Boia, The Weather in the Imagina- tion, London 2005; Vladimir Jankovic, Climate Cli- chés: Overvaluation, Fetishism and the Ideologies of

„National Weather“ in the Long Nineteenth Centu- ry, London 2014, https://www.academia.edu/6592112 /Climate (06.01.22); Georgina H. Endfield / David J.

Nash, ,Happy Is the Bride the Rain Falls On’: Clima- te, Health and ,The Woman Question’ in Nineteenth- Century Missionary Documentation, in: Transactions of the Institute of British Geographers 30,3 (2005), S. 368–386; Sandip Hazareesingh, Cotton, Climate and Colonialism in Dharwar, Western India, 1840–1880, in:

Journal of Historical Geography 38,1 (2012), S. 1–17;

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blättern etwa), sie zeugen zudem vom Spe- kulationscharakter des populären Klimawis- sens, dem auch die öffentlichen Forschungs- aufrufe, durchaus im Sinne einercitizen sci- ence, geschuldet seien.

Damit, welche Rolle citizen science und vor allem regionale Praktiken bzw. Netz- werke für die Sicherung des modernen Kli- mawissens spielten, beschäftigten sich NILS GÜTTLER (Zürich) und ROBERT-JAN WIL- LE (Utrecht) in einem gemeinsamen Vortrag.

Anhand zweier wissenschaftsgeschichtlicher Fallstudien machten sie deutlich, dass sich die Entstehung einer „new level meteorology“ in Deutschland zwischen 1871 und 1933 nicht einfach auf die Formel einesscaling up von der lokalen auf die (inter-)nationale Ebene re- duzieren ließe, wie es etwa Paul N. Edwards darstellt.3 Vielmehr komme es auf die „cli- mate practices“ der Mesoebene an, wofür das Werken und Wirken Richard Aßmanns und Franz Linkes als beispielhaft gesehen werden könne: Zwischen landwirtschaftlichem Wet- terverein und amateurbasiertem Gewitter- warndienst, zwischen Regionalmedien und lokalen Flugwetterwarten entwickle sich das vor allem praktische Wetter- und Klimawis- sen, das via königlich-preußischem Observa- torium (Lindenberg) und meteorologischem Institut (Frankfurt) überregional Verbreitung fand und schließlich ‚verwissenschaftlicht‘

wurde. Die herausgearbeiteten Netzwerkdy- namiken auf Mesoebene eröffneten zudem ei- nen Blick auf entsprechende epistemische Ob- jekte, etwa Mikroklimata, die weder in den Bereich lokalen Wetters noch globalen Klimas fielen und somit auch nicht auf diesen Ebenen hätten verhandelt werden können.4

Einer Art Spezialbereich praktischen Kli- mawissens widmete sich KAROLIN WETJEN (Kassel). Sie rekonstruierte das, was im Deut- schen Kaiserreich Ende des 19. Jahrhunderts alsTropenklimagalt, und fragte dabei insbe- sondere nach der Bedeutung der Medialität in der Vermittlung und Generierung dieses Wis- sens. Anhand von Vorträgen und Vorlesun- gen, einschlägigen Fachartikeln und Handbü- chern, Klimakarten und Ratgebern wies Wet- jen nach, dass der Begriff hauptsächlich von drei Disziplinen geprägt wurde – Meteorolo- gie, Geografie, Klimamedizin –, die eng mit

ben waren sowie mit zeitgenössischen Vor- stellungen von „Zivilisation, Moral und Ras- se“. Drei Beobachtungen waren dabei beson- ders aufschlussreich: Während die geografi- sche Klimatologie das tropische Klima erstens abstrakt schematisierte und die Tropenmedi- zin dessen schädliche Auswirkungen auf Eu- ropäer:innen überwiegend statistisch erklärte, habe die mediale Öffentlichkeit mit ihrem In- teresse an detaillierten Naturbeschreibungen dazu beigetragen, dass vor allem ältere, näm- lich orts- und sinnesbezogene Klimakonzep- te präsent blieben. Die öffentliche Diskussion habe zweitens massiven Anteil daran gehabt, das vermeintlich statische Tropenklima in Ab- grenzung zum dynamischen Klima Europas als das Andere, Abnormale und Krankma- chende zu stigmatisieren, obwohl sich in der Medizin längst das bakteriologische Paradig- ma gegen die Vorstellung pathogener Lüfte und Gewässer (Miasmen) durchgesetzt hatte.

Die kolonialen Herrschaftsansprüche und De- generationsängste, die sich darin ausdrück- ten, gingen drittens ab 1900 in eine Diskursi- vierung des Klimas als etwas lokal Beherrsch- bares über: Tropenhygienische Prävention be- treffe nun nicht mehr nur die Lebensweise der Siedler:innen, sondern zunehmend auch Landschaftseingriffe und Städtebaumaßnah- men.

Sozusagen mit dem Gegenstück des krank- machenden Tropenklimas, der heilenden See- und Meeresluft Europas, befasste sich REGI- NA THUMSER-WÖHS (Linz). Am Beispiel von sogenannten Schiffssanatorien fragte sie nach der sinnlichen Wahrnehmung und Kon- struktion heilender Luft-Räume zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Dass es in Österreich- Ungarn und in ‚Deutschland‘ aufgrund der sozialpolitischen Situation lediglich bei der Planung solcher „schwimmender Therapie- schiffe“ blieb, machte sie für die Fragestel- lung nicht weniger interessant. Mithilfe des

3Vgl. Paul N. Edwards, A Vast Machine. Computer Mo- dels, Climate Data, and the Politics of Global Warming, Cambridge/MA 2010.

4Hier folgen Güttler und Wille der Arbeit Deborah Co- ens, die die Entwicklung der modernen Klimatologie im Habsburger Reich als Geschichte politischer wie wissenschaftlicher scaling-Prozesse erzählt. Vgl. Debo- rah R. Coen, Climate in Motion. Science, Empire, and the Problem of Scale, Chicago and London 2018.

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gesundheitsgeografischen Konzepts derthe- rapeutic landscapes, das sowohl die Darstel- lung realer und metaphorischer Landschaften als auch symbolische Raumkonstruktionen umfasst, zielte Thumser-Wöhs darauf ab, zum einen die sinnliche Erfahrung dieser medika- len Landschaften über die Meeresluft zu ver- gegenwärtigen, zum anderen ihre Aneignung als Raum der Heilung und Erholung nach- zuvollziehen.5 Die vorgestellten Ergebnissen konzentrierten sich vor allem auf Zweiteres, unter anderem da die für den sinnesanalyti- schen Part relevanten Erfahrungsberichte nur schwer auffindbar gewesen seien. Als thera- peutische Landschaft knüpften die Schiffssa- natorien demnach an die Idee der Sommer- frische sowie an die frühen See- und Meer- aufenthalte zu Kurzwecken an, wie sie ab dem 18. Jahrhundert zunächst in England, ab den 1870er-Jahren auch in Deutschland üb- lich waren. Anhand balneologischer Schrif- ten und Zeitungsartikel ließ sich neben all- gemeinen Anforderungen und Zuschreibun- gen an Luftkurorte auch die therapeutische Besonderheit der Schiffssanatorien herausar- beiten: Ihre Mobilität gewährte durch wech- selnde Klimazonen und Aussichten eine Er- holung für Körper und Sinne zugleich.

Mit einem gänzlich anderen Kapitel der Geschichte der Luft(räume) setzte sich MO- NIKA SZCZEPANIAK (Bydgoszcz) ausein- ander: Sie analysierte lyrische und bildliche Luftschiff-Darstellungen zwischen Jahrhun- dertwende und Erstem Weltkrieg, um der Fra- ge nachzugehen, inwieweit sie die technolo- gische und diskursive ,Eroberung‘ des deut- schen Luftraums repräsentierten und mitge- stalteten. Die zahlreichen Beispiele zeigten, dass Luft dabei ambivalent besetzt wurde:

einerseits als erlösendes „Reich der Freiheit, Transzendenz und Utopie“, das militärische wie Naturbefreiung bedeutete, andererseits als von Technik und Kultur determinierter Raum, unfrei von den gesellschaftlichen, po- litischen und sozialen Bedingungen, die das Leben auf dem Erdboden bestimmten. Die Luft sei damit, so Szczepaniak, als „sozialer Raum“ zu sehen, der Inklusions- und Exklu- sionseffekte (re-)produziere, aber auch als „to- pografische und atmosphärische Bedeutungs- figur“, mit deren Hilfe Stimmungen nicht nur abgebildet, sondern auch erzeugt werden.

Für den Stimmungsbegriff knüpfte Szczepa- niak an Gernot Böhmes Wahrnehmungsleh- re und die zentrale Kategorie derAtmosphä- re an, die dort als „emotionale Tönung ei- nes Raumes“ verstanden werde, als „kultu- relles und soziales Stimmungsfeld“, das leib- lich zu spüren sei.6 Zwar reichte die Zeit nicht, um diesen Punkt näher auszuführen, mit Blick auf die Aufbruchsstimmung und den „Schauer des Erhabenen“, die Luftraum und Luftschiff-Beobachter:innen gleicherma- ßen zu erfüllen schienen, überzeugte aber ein wahrnehmungsorientierter Ansatz, der auf die Doppeldeutigkeit des Atmosphären- Begriffs fokussierte.

MARIA HEIDEGGER (Innsbruck) beschäf- tigte sich ebenfalls mit dem Zusammenhang von Luft und Stimmung, allerdings im Sin- ne witterungsbedingter Gemütsveränderun- gen. Das eher ‚experimentelle‘ Projekt kreis- te um das Vorhaben, Psychiatrie, Religion und den Innsbrucker Föhnwind mittels asso- ziativer Fragen in eine „lokale Sinnes- und Umweltgeschichte“ einzubetten. Im Zentrum standen dabei die Fragen, welche psychi- schen, zum Teil religiös konnotierten Zustän- de dem Föhn im 19. Jahrhundert beigemessen wurden und welche Sinne er aktivierte. Dazu rekonstruierte Heidegger schlaglichtartig das zeitgenössische Föhnwissen auf einer breit angelegten Quellenbasis aus medizinischen, psychiatrischen, physikalischen Schriften, po- pulärwissenschaftlichen Vorträgen, Unterhal- tungsblättern sowie Krankenakten. Während die Physik die Wirkmechanismen des Windes auch Ende des 19. Jahrhunderts nicht erklären konnte, so zeigte sich, hielt sich die Zuschrei- bung einer deprimierenden, zu „Apathie und Beklemmung“ führenden Wirkung vor allem auf nervöse Menschen bis ins 20. Jahrhundert hinein. Kulturgeschichtlich konnte Heidegger die Verknüpfung von Luft, Wind und seeli- scher Verfassung über Robert BurtonsAna- tomie der Melancholie (1621) bis zur hippo- kratischen Humoralpathologie zurückverfol- gen. Inwieweit dabei auch religiöse Aspekte

5Vgl. Wilbert Wilbert M. Gesler, The Cultural Geogra- phy of Health Care, Pittsburgh/PA 1992; Ulrich Geb- hard / Thomas Kistemann (Hrsg.), Landschaft, Identi- tät und Gesundheit. Zum Konzept der therapeutischen Landschaften, Wiesbaden 2016.

6Vgl. Gernot Böhme, Atmosphäre: Essays zur neuen Äs- thetik, Frankfurt am Main 1995.

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soll aber noch in Verbindung mit einer Sinnes- geschichte erschlossen werden, die sich – im Anschluss an eineNew History of Experience – nicht nur für die sinnliche Wahrnehmung des „synästhetischen Phänomens“ Föhn inter- essiere, sondern auch für damit verbundene religiöse Emotionen und Erfahrungen.

Der Zusammenhang von Wetterphänome- nen und religiösen Emotionen war auch Gegenstand von SYLVIA WEHRENs (Hil- desheim) Beitrag. Aus einer subjekttheo- retischen und emotionsgeschichtlichen Per- spektive untersuchte sie deutschsprachige Kinder- und Jugendtagebücher des 19. Jahr- hunderts auf die Frage hin, welche Rolle Wetterwahrnehmungen für die Subjektivie- rung und die Erfahrung religiöser Gefüh- le spielten. Das Korpus umfasste ca. 30 Ta- gebücher vor allem protestantischer Jungen und Mädchen, die auf die Jahre 1830 bis 1860 datiert sind. Trotz der Vielfalt an Funk- tionen, die den Wetterbeschreibungen darin zukommen, konnte Wehren einige spannen- de Muster aufdecken: Neben geschlechter- spezifischen Formen der Ich-Konstituierung durch unterschiedliche Beschreibungsprakti- ken – tagtäglich-protokollartig bei den Jun- gen, ereignishaft-poetisch bei den Mädchen –, dienten die Wetterdarstellungen beiden Ge- schlechtern gleichermaßen als Ausdrucksmit- tel, aber auch als Anlass religiöser Gefühle.

Meteorologische und Himmelserscheinungen wie trübes Wetter, Vollmond oder warme Bri- sen stellten demnach innerlich Stimmungen her, die dann religiös gedeutet wurden, z.

B. als Erfahrung von Demut, Ehrfurcht oder Hoffnung. Eine ausgeprägtere Variante dieser sinnstiftenden Funktion böten Anthropomor- phisierungen, in denen Wetterphänomene als

„Gottesphänomene“ oder „als Gott selbst“ be- trachtet wurden (etwa die Mut gebende Son- ne), sodass sich das Wetter letztlich auch als Medium des göttlichen Willens und der Nä- he zu Gott ausnehme. Wieso das Wetter gegen Ende des 19. Jahrhunderts an Bedeutung ver- lor – eine Schreiberin brandmarkte es explizit als „abgeschmacktes“ Thema –, blieb noch of- fen, ebenso die Frage nach dem tieferen Zu- sammenhang zwischen den Tagebüchern als besonderer Kommunikationsform und dem Wetter als wesentlichem Bestandteil bürgerli-

Wetter und bürgerliche Konversations- kunst – davon ging im Grunde auch MAR- GITTA MÄTZKEs (Linz) abschließende Ta- gungsbeobachtung aus: Bewusst provokativ fasste sie Quellen und Gegenstand der Ver- anstaltung unter das Motto „gehobenes Re- den übers Wetter“. Damit bezog sie sich zwar in erster Linie auf die Feststellung, dass der Großteil des Materials der bildungsbürgerli- chenscience-to-public-Kommunikation bzw.

der „Schnittstelle zwischen Pop- und Massen- kultur einerseits, Wissenschaft und Dichtung anderseits“ entstammte. Ihre Anschlussfrage aber, welchen Bezug eine solche, partikulä- re Klima-Kulturgeschichte zur aktuellen Aus- einandersetzung mit dem Klima(wandel) bei- tragen könne, mündete in eine rege Grund- satzdiskussion über die Aufgaben, Grenzen und Möglichkeiten der Geschichts-, Geistes- und Kulturwissenschaften. Um jedoch (sinn- gemäß) mit Falko Schnicke von den Ansprü- chen des Fachs zu denen der Tagung zurück- zukehren: Wer die Vergangenheit nur auf die gegenwärtige Klimadiskussion hin befrage, verdecke die Differenzen. Und gerade darin liegt der Erfolg der Tagung: gezeigt zu ha- ben, dass das, was im 19. und frühen 20.

Jahrhundert unter Klima verstanden wurde, in den verschiedensten Bereichen und Dis- ziplinen, aus den unterschiedlichsten Grün- den und Perspektiven sowie in der Bandbrei- te öffentlicher – wenn auch überwiegend bil- dungsbürgerlicher –Kommunikation verhan- delt wurde.

Angesichts dieser „Pluralität von Geschich- ten“ (Schnicke) verwundert es nicht, dass es in den Kommentaren und Diskussionsrun- den hauptsächlich darum ging, wie man die- ser Vielfalt noch mehr gerecht werden könn- te. Einige Punkte wurden hier immer wieder genannt: Da Klima bis zum 20. Jahrhundert weniger global als lokal gedacht wurde, we- niger institutionell als unter Mitwirkung der Öffentlichkeit beobachtet wurde und sowohl als datenbasiertes als auch menschenbezoge- nes Konzept existierte, scheinen zwei Ansät- ze besonders vielversprechend: eine Wissens- geschichte, die das Klimawissen nicht nur als

„scienceto, sondern auchby public“ (Wille) ernst nimmt und zudem auf die Medienspe- zifik der Quellen eingeht, sowie sinnes- und

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körpergeschichtliche Zugänge, die sich stär- ker auf Wahrnehmungsquellen beziehen und verschiedenen Formen sinnlich-körperlicher Erfahrbarkeit von Klima nachspüren. Letz- teres hängt auch mit der häufig festgestell- ten Persistenz älterer, insbesondere geogra- fischer und medizinischer Klimavorstellun- gen zusammen: Die Idee von gesunden oder krankmachenden Lüften, von auf die Psy- che schlagenden Winden, von Klima als Ort oder von klimaspezifischen Kulturunterschie- den – sie alle kursieren bereits seit der An- tike und bleiben trotz stetig neuer Kenntnis- se bis ins 20. Jahrhundert hinein bestehen.

Unter den Teilnehmer:innen herrschte des- halb Einigkeit, dass sich einelongue durée- Perspektive in manchen Fällen als produk- tiver erweise, vor allem auch, um die doch recht markanten Umbrüche zwischen mittel- alterlichen und modernen Klimatheorien ab dem späten 18. Jahrhundert sowie nach En- de des Ersten Weltkrieges zu berücksichtigen.

Eingehendere Parallelbetrachtungen der Wis- senschaftsgeschichte bieten sich hier eben- falls an: Angesichts der zunehmenden ,Ver- wissenschaftlichung‘ des Klimas um 1900 (in Sinne einer Disziplinierung) wäre es inter- essant, ob und wie sich diese auf kulturelle Deutungen auswirkt. Insgesamt vermittelten die Beiträge aber ein eindrückliches Bild der Reichhaltigkeit und Komplexität der Klima- Kulturgeschichte des 19. und frühen 20. Jahr- hunderts, die gegenüber früheren und späte- ren Zeiträumen bislang vernachlässigt wurde – völlig zu Unrecht, wie sich zeigte. Die ab- wechslungsreichen Fragestellungen und Per- spektiven bestätigten zudem, dass einem so vielseitigen Gegenstand – bei allen Über- schneidungen und Ergänzungen – nur aus vielseitigen Richtungen beizukommen ist. Al- les in allem also eine gelungene wie anregen- de Veranstaltung – weit mehr als „gehobenes Reden übers Wetter“.

Konferenzübersicht:

Regina Thumser-Wöhs (Linz) / Falko Schni- cke (Linz): Begrüßung und Einführung Falko Schnicke (Linz): „...zwey entgegenge- setzt[e] Atmosphären“: Interregionale Klima- beobachtungen im frühen 19. Jahrhundert Kommentar: Martin Knoll (Salzburg)

Nils Güttler (Zürich) / Robert-Jan Wille (Ut- recht): Between Weather and Climate: Scales of German Meteorology, 1871–1933

Kommentar: Georg Stöger (Salzburg) Karolin Wetjen (Kassel): Das koloniale Klima.

Wissen vom tropischen Klima in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts

Kommentar: Bernhard Gißibl (Mainz) Regina Thumser-Wöhs (Linz): Frischluft – Bergluft – Seeluft: Therapeutic Landscapes Kommentar: Eva Horn (Wien)

Monika Szczepaniak (Bydgoszcz): Deutsche Eroberung der Luft. Nationale und atmosphä- rische Diskurse am Beispiel von Zeppelin- Gedichten und Luftschiff-Ikonographie Kommentar: Hubertus Büschel (Kassel) Maria Heidegger (Innsbruck): „Vorzüglich wenn eine heilige Zeit oder der Südwind ein- tritt, ist sie mehr oder weniger verwirrt...“.

Föhn, Religion und Psyche im Fokus der Ti- roler Psychiatrie des 19. Jahrhunderts Kommentar: Eberhard Wolff (Basel)

Sylvia Wehren (Hildesheim): Wetter, Wind und Luft als göttliche Zeichen. Religiöse Gefühlskonstruktionen über meteorologische Phänomene in Jugendtagebüchern des 19.

Jahrhunderts

Kommentar: Dietlind Hüchtker (Wien) Margitta Mätzke (Linz): Tagungsbeobachtung und Abschlussdiskussion

Tagungsbericht Atmosphären und klimatische Topografien. Luft-Kulturen des 19. und 20. Jahr- hunderts. 09.12.2021–10.12.2021, Linz, in: H- Soz-Kult 10.02.2022.

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