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Archiv "Mikrozephalie: Exogen bedingte und erbliche Formen" (14.11.1974)

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Zur Fortbildung Aktuelle Medizin KOMPENDIUM

Das Vorliegen einer Mikrozephalie wird nach der heute allgemein gül- tigen Definition dann angenommen, wenn der Kopfumfang, abhängig von Alter und Geschlecht, um mehr als die dreifache Standardabwei- chung (— 3 o) unter dem für die betreffende Bevölkerung festge- stellten Mittelwert liegt und wenn gleichzeitig ein ausgesprochenes Mißverhältnis zwischen dem ab- norm verkleinerten Hirnschädel und dem normal entwickelten Gesichts- schädel vorliegt.

In der Durchschnittsbevölkerung beträgt der mittlere Kopfumfang für erwachsene Männer 55,0 Zentime- ter, für Frauen 54,0 Zentimeter. Die entsprechenden — 36-Grenzen lie- gen bei 51,1 Zentimeter (Männer) und bei 49,5 Zentimeter (Frauen).

Die primäre Ursache der Mikroze- phalien ist eine Entwicklungsstö-

rung des Gehirns, durch die der Gehirnschädel in seinem Wachs- tum zurückbleibt. Unter den Mikro- zephalien können heute bereits zahlreiche exogen bedingte und erbliche Formen unterschieden werden.

Häufigkeit

Endogene und exogene Formen von Mikrozephalien kommen in vollständig erfaßten Geburtsjahr- gängen von Neugeborenen in ei- nem Verhältnis von 1 zu 4000 vor.

Die Häufigkeit erblicher Mikroze- phalien beträgt in der Durch- schnittsbevölkerung etwa 1 zu 25 000 bis 1 zu 50 000. Unter den jugendlichen schwachsinnigen An- staltsinsassen sind ein bis zwei Prozent mikrozephal. Die Relation von erblichen zu exogen bedingten

Mikrozephalien beträgt 15 zu 85 Prozent; die erblichen Mikrozepha- lien sind also wesentlich seltener als die exogen bedingten.

Klinische Symptomatik

Das klinische Bild der Mikrozepha- lie ist neben der Kleinheit des Ge- hirnschädels durch Schwachsinns- zustände verschiedener Grade (überwiegend Imbezillität oder Idiotie, in einzelnen Fällen Debili- tät) gekennzeichnet. Die Stirn ist meist fliehend, die Überaugenwül- ste sind deutlich ausgeprägt. Ober- kiefer und Nase springen vor, wäh- rend das Kinn zurückweicht (Abbil- dung 1). Dadurch entsteht ein be- zeichnendes vogelartiges Ausse- hen (Vogelgesicht), „Aztekenty- pus", „pinhead". Die Röntgenauf- nahmen des Schädels zeigen häu- fig eine verdickte Schädelkalotte.

Eine vorzeitige Verknöcherung der Schädelnähte ist selten.

Neben Intelligenzdefekten treten bei Mikrozephalien häufig generali- sierte oder fokal betonte epilepti- sche Krampfanfälle auf. Bei Säug- lingen werden nicht selten Blitz- Nick-Salaamkrämpfe beobachtet.

Zwei Drittel der Patienten mit Mi- krozephalie haben abnorme Elek- troenzephalog rammbefu nde.

im Luftenzephalogramm ist nicht selten ein symmetrischer oder asymmetrischer Hydrozephalus in- ternus zu erkennen, so daß eine

„Mikrohydrozephalie" vorliegt. Ne- ben einem Hydrozephalus in- und externus können Porenzephalien, Balkenmangel sowie Veränderun- gen der basalen Zysternen vorhan- den sein. Spalt- und Hemmungs- mißbildungen des Nervensystems, wie Enzephalozele, Meningozele und Spina bifida aperta werden nur selten gleichzeitig neben einer Mi- krozephalie beobachtet.

Pathologisch-anatomisch gehört eine gleichmäßige Verkleinerung

*) Herrn Professor Dr. med. Adolf Windor- fer, Direktor der Universitäts-Kinderkli- nik Erlangen, zum 65. Geburtstag ge- widmet.

Mikrozephalie

Exogen bedingte und erbliche Formen*)

Gerhard Koch

Aus dem Institut für Humangenetik und Anthropologie (Direktor: Professor Dr. med. Gerhard Koch)

der Universität Erlangen-Nürnberg

Mikrozephaiien müssen exogen bedingte und erbliche Formen lterschieden werden; die exogen bedingten kommen am häufig- sten vor. Bei erblichen Mikrozephalien liegt Heterogenie vor. Zu den erblichen Sondertypen gehören vornehmlich die metabolisch- genetisch und die chromosomal bedingten Mikrozephalien. Bei be- gründetem Verdacht auf das Vorliegen einer Risikoschwanger- schaft ist eine Überwachung mit Hilfe der Ultraschalldiagnostik und gegebenenfalls eine pränatale zytogenetische Diagnostik mittels Amniozentese erforderlich.

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(Hypoplasie) sämtlicher Hirnanteile ohne grobe pathologisch-anatomi- sche Veränderungen zu den selte- nen Befunden. Weitaus häufiger sind die dysharmonischen Formen mit überaus mannigfachen patholo- gisch-anatomischen Veränderun- gen, wie Mikrogyrien, Porenzepha- lien, Agenesien bestimmter Teile des Gehirns und des Kleinhirns oder einzelner Lappen, wie des Okzipital-, Temporal- oder Frontal- lappens.

Im klinisch-neurologischen Bild können alle Formen spastischer Lähmungen vom Typ der zerebra- len Kinderlähmung vorhanden sein:

Tetraparesen, Di- und Hemiplegien, atonisch-astatische Lähmungen und Bewegungsstörungen im Sinne der Athetose. Als Folge einer zere- bralen Kinderlähmung kann es im Bereich der Wirbelsäule zu Kypho- sen, Skoliosen und Kyphoskolio-

sen, an den oberen und unteren Extremitäten zu schweren Verstei- fungen der Gelenke (Abbildung 2)

kommen; vor allem bei Tetrapare- sen, Di- und Hemiplegien können sekundär Hüftluxationen und dem Klumpfuß ähnliche Deformierungen der Füße auftreten.

Unter den Hirnnervenstörungen sind Strabismus con- und diver- gens, Nystagmus und Optikusatro- phien häufig; seltener sind Mi- krophthalmie, Kolobome, retrolen- tale Fibroplasie, Hornhauttrübun- gen und Katarakte. Von den Spalt- bildungen im Bereich des Gesichts wurden Lippen-, Gatimen- und Lip- pen-Kiefer-Gaumenspalten beob- achtet.

Bei den Mißbildungen der inneren Organe weisen vor allem angebo- rene Herzmißbildungen auf eine exogene Genese hin.

Hinsichtlich der Körpergröße und des Körpergewichts bleiben die meisten Mikrozephalen hinter den Werten der Durchschnittsbevölke-

rung zurück. Sie sind überwiegend minder- oder kleinwüchsig (Abbil- dung 3); Zwergwuchs ist selten.

Ätiologie und Pathogenese

Exogen bedingte Mikrozephalien Exogen bedingte Mikrozephalien können nach dem Zeitpunkt der Schädigung des Gehirns pränatal, perinatal und postnatal entstehen.

Nach einer eigenen Untersuchung von 205 Patienten (93 männlichen und 112 weiblichen) mit exogenen Mikrozephalien waren 185 (90,2 Prozent) pränatal, elf (5,4 Prozent) perinatal und sechs (zwei Prozent) postnatal geschädigt worden. Bei drei Kranken (1,5 Prozent) reichten

Abbildung 1: W. Ten., 29 Jahre alt, endogene Mikrozephalie; Kopfumfang 42,0 (— 13,0) cm, Körpergröße 156,6 (— 13,4) cm

3314 Heft 46 vom 14. November 1974 DEUTSCHES ÄRZTEBLATT

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Abbildung 2: D. K., 18 Jahre alt. Exogene Mikrozephalie. Idiotie, Epilepsie, Tetra- parese mit schweren sekundären Versteifungen. Kopfumfang 34,8 (— 19,2) cm

Zur Fortbildung Aktuelle Medizin Mikrozephalie

die Angaben nicht aus, um den Zeitpunkt der Schädigung anzuge- ben.

Für pränatal entstandene Mikroze- phalien gilt grundsätzlich dasselbe wie für alle anderen Mißbildungen:

Kritische sensible Phasen in der organogenetischen Periode kön- nen durch verschiedene teratogene Einflüsse wie Sauerstoffmangel, mechanische Faktoren, chemische Agentien, Mangelerscheinungen, Virusinfektionen (Abbildung 4 b), Strahlenschädigungen oder endo- krine Störungen zur Entgleisung gebracht , werden. Entsprechend dem Zeitpunkt in der organogeneti- schen Periode und der Art der ein- wirkenden Noxe können als Schä- digungsfolge Mikrozephalien allein oder in Kombination mit anderen Begleitmißbildungen auftreten.

Bei der heute selten gewordenen

„röntgenogenen fetalen Mikroze- phalie" liegen neben Mikrozephalie gleichzeitig Augenmißbildungen, vor allem Mikrophthalmie, seltener Kolobome, Aplasie des Nervus op- ticus, Linsentrübung und Choriore- tinitis vor. Die Schädigung der Frucht erfolgte hier durch thera- peutische Beckenbestrahlung der Mutter in den ersten vier Schwan- gerschaftsmonaten. Mikrozephalien als Folge einer direkten Strahlen- schädigung der Frucht wurden zu- letzt gehäuft nach den Atombom- benexplosionen in Japan beobach- tet. Unter den Virusinfektionen während der Schwangerschaft ist die Mikrozephalie bei der Röteln- embryopathie (Greggsches Syn- drom) mit ein -oder doppelseitiger Katarakt, Mikrophthalmie, Taub- heit, Innenohrschwerhörigkeit, Herz- fehlern und Schmelzdefekten der Zähne kombiniert.

Bei der in letzter Zeit häufiger be- obachteten Zytomegalie (Speichel- drüsenvirusinfektion) besteht nach der Geburt neben Mikrozephalie Hepatosplenomegalie, Gelbsucht, petechiale Purpura und Anämie. Im Gegensatz zu den Viruserkrankun- gen tritt die Toxoplasmoseenze- phalopathie erst in der zweiten Hälfte der Schwangerschaft auf.

Klinisch äußert sie sich in chorio- retinitischen Herden und intrazere- bralen Verkalkungen, die häufig mit einem Hydrozephalus, aber nur selten mit einer Mikrozephalie kombiniert sind.

Die während der Geburt entstehen- den perinatalen Mikrozephalien lassen sich auf zwei Grundursa- chen zurückführen: mechanische Beeinträchtigung und Sauerstoff- mangel (Kreislaufstörungen). Im einzelnen kann man auch hier als ursächliche Faktoren Geburtskom- plikationen von seiten der Mütter und des Kindes unterscheiden. Als mütterliche Geburtskomplikationen sind anzusehen: Präeklampsie, Eklampsie, Placenta praevia, vor- zeitige Plazentalösung, Wehen- schwäche, Hydramnion, enges Becken, Anomalien im Bereich der Geburtswege, Erschöpfung der Mutter, Fieber unter der Geburt, Herz- und Kreislaufkomplikationen und Geburtsstillstand. Zu den kind- lichen Risikofaktoren rechnen: La- geanomalien, Nabelschnurvorfall, Nabelschnurumschlingung, Asphy- xie und Komplikationen von seiten des Kindes, wie zum Beispiel ein angeborener Herzfehler.

In der postnatalen Zeit können En- zephalitis und Meningitis, parain-

fektiöse Enzephalitiden nach Ma- sern, Röteln, Varizellen und Mumps sowie schwere chronische Ernäh- rungsstörungen (Dystrophie und Atrophie) zu Gehirnschädigungen und damit zu Mikrozephalien füh- ren.

Die Zahl der Mikrozephalien, die auf perinatalen und postnatalen Schädigungen beruhen, treten ge- genüber den pränatal entstande- nen deutlich zurück. Die Annahme einer perinatalen und postnatalen Schädigung ist auch nur dann ge- rechtfertigt, wenn bis zu diesem Zeitpunkt eine normale Entwick- lung des Schädels in Umfang und Volumen vorlag.

Erbliche Formen

Aus Einzelfamilien mit mehreren Merkmalsträgern innerhalb einer Geschwisterreihe ist seit langem bekannt, daß in diesen Familien Mikrozephalien autosomal-rezessiv vererbt werden (Abbildung 5). Um- fangreiche populationsgeneti- sche-demographische Untersu- chungen in verschiedenen Ländern (Deutschland, Holland, Japan, Schweden, Schweiz, USA) haben die an Einzelfamilien gemachten Beobachtungen bestätigt. Für auto-

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somal-rezessive Vererbung spricht auch, daß in 5,5 bis 54 Prozent eine Blutsverwandtschaft unter den El- tern der Merkmalsträger vorliegt.

Eineiige Zwillinge sind konkordant.

Das klinische Bild der erblichen Mikrozephalien ist gewöhnlich durch das Fehlen zerebraler Läh- mungen charakterisiert.

Innerhalb der autosomal-rezessiv erblichen Mikrozephalien lassen sich wiederum zwei Erbtypen un- terscheiden: ein infantiler Typus mit geringer (weniger als zwei Jah- re) und ein adulter Typus mit mitt- lerer Lebenserwartung (30 bis 40 Jahre). Unter 99 Patienten mit Mi- krozephalien, die untersucht wor- den waren, gehörten elf zum infan- tilen und 88 zum adulten Typus.

Beide Geschlechter sind gleichmä- ßig befallen. Im eigenen Kranken-

gut war das Durchschnittsalter der Mütter und Väter statistisch signifi- kant erhöht. Der Geburtenord- nungseffekt zeigte eine ebenfalls statistisch gesicherte zunehmende Häufigkeit mit dem Alter der Eltern.

Für andere Untersuchungen trifft dieses jedoch nicht in gleicher Weise zu.

Neben den autosomal-rezessiv erb- lichen Mikrozephalien gibt es eini- ge wenige Beobachtungen, für die geschlechtsgebunden-rezessive Vererbung anzunehmen ist. In die- sen Familien wiesen die Merkmals- träger zusätzlich spastische Läh- mungen und eine Optikusatrophie auf.

Als erbliche Sondertypen der Mi- krozephalien gelten diejenigen, bei denen die Störungen der Gehirn- entwicklung auf überwiegend auto-

somal-rezessiv erblichen Stoff- wechselstörungen (Enzymdefekten) beruhen. Sie wurden bisher in Ein- zelfällen bei kongenitaler amauroti- scher Idiotie, orthochromatischer und metachromatischer Leukodys- trophie, der Pelizaeus-Merzba- cherschen Krankheit, der West- phal-Wilsonschen Pseudosklerose (hepatolentikulärer Degeneration) und am häufigsten (sechs bis zehn Prozent) bei der Phenylketonurie beobachtet.

Klinisch weisen Kranke mit metabo- lisch-genetisch-bedingten Mikroze- phalien nicht selten Seh- und Hör- störungen, schwere spastische Ze- rebralparesen und im Enzephalo- gramm Hydrozephalus und Poren- zephalien auf.

Aus Einzelbeobachtungen bei Phe- nylketonurie ist auch bekannt, daß

Abbildung 3: Weibliche und männliche Erwachsene mit endogener Mikrozephalie — 1. P. Wie.: 51,0 Jahre alt, Größe 141,5 (— 18,5) cm, Kopfumfang 42,5 (— 11,5) cm — 2. S. Reh.: 51,2 Jahre alt, Größe 144,0 (— 16,0) cm, Kopfumfang 46,8 (— 7,2) cm

— 3. W. Ten.: 29,0 Jahre alt, Größe 156,6 (— 13,4) cm, Kopfumfang 42,0 (— 13,0) cm — 4. R. Cos.: 50,4 Jahre alt, Größe 161,3 (— 8,7) cm, Kopfumfang 46,0 (— 9,0) cm

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Tabelle 1: Wichtigste Syndrome bei erheblichen Mikrozephalien O lncontinentia pigmenti

(Bloch-Sulzberger-Syndrom).

Fast jeder fünfte Fall weist neu rologisch-psychiatrische Symptome auf (Schwachsinn, Mikrozephalie, spastische Lähmungen und epileptische Anfälle).

O Sjögren-Larsson-Syndrom:

Ichthyosis congenita, spasti- sche Störungen vom Typ der Litteschen Krankheit.

• Greig-Syndrom: Hyperte- orismus, Minderwuchs, Krypt- orchismus, Klinodaktylie, Klumpfußbildung.

O Curtius-Syndrom (III):

Hochgradige Hypodontie, Au- genstörungen (Strabismus convergens, Nystagmus, He- meralopie), Hodenhypopla- sie, Syndaktylie, Kamptodak- tylie.

• Mendes-da-Costa-Syn- drom: Epidermolysis bullosa dystrophica.

O Cockayne-Syndrom:

Zwergwuchs, Retinitis pig- mentosa, Taubstummheit.

O Delay-Pichot-Syndrom:

Aniridie, kongenitale Kata- rakt.

O Stargardt-Syndrom: Aniri- die, Nystagmus, Schmelzde- fekte der Zähne.

O Fanconi-Syndrom: Konsti- tutionelle perniziosa-ähnliche Anämie, Pigmentanomalien, Mikrophthalmie, Minder- wuchs.

• Parhon-Baliff-Lavrenenco- Syndrom: Akromikrie, adipo- sogenitales Syndrom, Eunu- choidismus.

• Radner-Syndrom: Cutis verticis gyrata, Nystagmus, Strabismus, bilaterale Kata- rakt.

• Mikrozephalie und tapeto- retinale Degeneration (Schmidt-Jaeger-Neubauer, 1967).

Zur Fortbildung Aktuelle Medizin Mikrozephalie

homozygote, nicht mikrozepale Mütter unter ihrer Nachkom- menschaft mikrozephale Kinder ha- ben können.

Eine weitere Sondergruppe der erblichen Mikrozephalien bilden die Typen, die auch als „Sonderty- pen des Schwachsinns" bezeichnet werden; sie sind durch neurologi- sche Begleitsymptome sowie Au- gen-, Ohren- und Hautleiden cha- rakterisiert. Aus genetischer Sicht beruhen sie auf der Wirkung poly- phäner Gene. In Analogie zu den bereits erwähnten exogen beding- ten Mißbildungssyndromen nach Virusinfektionen (wie Röteln und Zytomegalie) ist die hier vorhande- ne Mikrozephalie lediglich ein Symptom der erblichen Mißbil- dungssyndrome. In 'diese Gruppe der erblichen Sondertypen des Schwachsinns, bei denen in unter- schiedlicher Häufigkeit auch eine Mikrozephalie vorhanden ist, gehö- ren die in Tabelle 1 aufgeführten wichtigsten Syndrome.

In letzter Zeit sind immer mehr

„Sondertypen des Schwachsinns", die mit Mikrozephalie kombiniert waren, beschrieben worden.

Die in den letzten Jahren für Vor- sorgemedizin und klinische Dia- gnostik ständig wichtiger geworde- ne Chromosomenforschung (klini- sche Zytologie) hat nicht nur die Ursachen zahlreicher Mißbildungs- syndrome und ungeklärter Intelli- genzdefekte (etwa Down-Syndrom) aufgedeckt, sondern auch für die Beurteilung der Ätiopathogenese, die Klassifizierung der Mikrozepha- lien und damit auch für die geneti- sche Beratung völlig neue Ge- sichtspunkte erbracht.

Dabei wurden Veränderungen der Chromosomenzahl oder strukturel- le Chromosomenaberrationen (De- letionen, Translokationen), vor al- lem der Autosomen, seltener' der Geschlechtschromosomen, ent- deckt. Ganz allgemein läßt sich aus den bisher vorliegenden Be- funden schließen, daß bei einer Mi- krozephalie dann eine Störung der Chromosomenzahl oder der Struk-

Abbildung 4 a (links): D. H., 72 Jahre alt. Endogene Mikrozephalie, Idiotie. Kopf- umfang 43,3 (— 10,7) cm, Körpergröße 147,0 (— 13,0) cm — Abbildung 4 b (rechts):

I. K., 11,5 Jahre alt. Exogene Mikrozephalie. Grippevirus-Embryopathie: Idiotie, Epilepsie, spastische Tetraplegie, asymmetrischer Hydrocephalus internus, Opti- kusatrophie beiderseits, chorioiditische Atrophie und Pigmentherde beiderseits, Epikanthus, Hypertelorismus. Kopfumfang 44,5 (— 8,0) cm, Körpergröße 131,5 (— 10,5) cm. Mit 12,2 Jahren an Herz- und Kreislaufversagen verstorben

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Sippe Be. (Au hnitti

B

Abbildung 5: Autosomal-rezessiv vererbte Mikrozephalie: zwei mikrozephale Brüder, davon diskordante Pärchenzwillinge. Eltern entfernt blutsverwandt

Abbildung 6:

K. L., 4,5 Jahre alt.

Chromosomal bedingte Mikrozephalie (2 n = 46,XX, 13 r).

Kopfumfang 41,0 (— 9,0) cm. Körper- größe 96,0 (— 10,0) cm. Imbezillität, vorspringende breite Nasenwurzel, Hypertelorismus, dysplastische Ohren, Strabismus concomitans, Papillenkolobom bei pigmentarmem Fundus. Lippen- Kiefer-Gaumen-

Spalte (operiert)

tur vorliegen kann, wenn außer ei- ner Mikrozephalie weitere körperli- che Mißbildungen oder gehäufte Dysplasien vorhanden sind. Bei mi- krozephalen Patienten, bei denen sich aus dem Familienbefund ein mendelistischer Erbgang ablesen läßt oder bei denen ein erblicher Enzymdefekt als Ursache der Mi- krozephalie in Frage kommt, ist das Ergebnis einer Chromosomen- analyse negativ.

Beim Katzenschrei-(Cri-du-chat-) Syndrom, der bisher häufigsten chromosomal bedingten Mikroze- phalieform, sind neben einer Mi- krozephalie und den für dieses Syndrom charakteristischen katzen- artigen Schreien Hypertelorismus, Mikro- und Retrognathie und tief- ansetzende dysplastische Ohrmu- scheln vorhanden. Der charakteri- stische Chromosomenbefund ist eine Deletion der kurzen Arme ei- nes Chromosoms 13, (5 p-). Auch Deletionen der kurzen (18 p-) und der langen (18 q-) Arme eines Chromosoms Eis sowie Ringchro- mosomen D 13 r (Abbildung 6) und D 14 r wurden bei einzelnen mikro- zephalen Patienten, bei denen wei- tere Mißbildungen und Dysplasien vorhanden waren, gefunden. Das gleiche gilt auch für Translokatio- nen der Autosomen 2/3; 4/5 und D/E, hier in einem Falle mit Menin- goenzephalozele und Pseudoenze- phalie kombiniert.

Innerhalb der numerischen Aberra- tionen der Autosomen wurden Mi- krozephalien häufiger beim Pä- tau-Syndrom (Trisomie D 13) zu- sammen mit ein- oder doppelseiti- ger Lippen-Kiefer-Gaumen-Spalte, Mikrophthalmie und Polydaktylie gefunden.

Bei den insgesamt wesentlich sel- teneren numerischen Störungen der Gonosomen handelt es sich um eine Vermehrung der X-Chro- mosomen.

Ganz allgemein wird man für die chromosomal bedingten Mikroze- phalien feststellen können, daß sie bisher nur eine kleine Gruppe dar- stellen. Bei jeder ungeklärten Mi- krozephalie sollte aber an die Mög- lichkeit des Vorliegens einer Chro-

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Zur Fortbildung Aktuelle Medizin

mosomenstörung gedacht und ei- ne entsprechende Untersuchung durchgeführt werden.

Lebenserwartung und Fertilität Die Lebenserwartung ist bei allen Formen exogen bedingter und erb- licher Mikrozephalien deutlich her- abgesetzt. Lediglich Kranke mit au- tosomal-rezessiv erblichen adulten Formen der Mikrozephalie errei- chen im Durchschnitt ein mittleres Lebensalter; einzelne wurden so- gar über 70 Jahre alt (vgl. Abbil- dung 4 a).

Über die sexuelle Entwicklung der mikrozephalen Patienten liegen nur wenige Angaben vor. Bei weibli- chen Kranken kann die Menstrua- tion regelmäßig sein; nur sehr we- nige von ihnen bekommen Kinder.

Daß ihre Zahl ansteigt, ist schon wegen der hochgradigen Intelli- genzdefekte, die eine Partnerwahl ausschließen, nicht zu erwarten.

Mikrozephale Männer weisen häu- fig einen Kryptorchismus auf. Ein- zelne histologische Hodenbefunde sprechen für Sterilität, doch kommt den bisher vorliegenden Einzelbe- funden noch keine allgemeinver- bindliche Aussage über Sterilität und Fertilität zu.

Genetische Beratung

Die Frage, ob sich die Geburt ei- nes mikrozephalen Kindes wieder- holen kann, ist nur anhand des Ein- zelfalles zu entscheiden. Handelt es sich um eine exogen bedingte Mikrozephalie, ist die Erkrankungs- chance für das nächste Kind meist nicht erhöht. Das setzt aller- dings voraus, daß nicht etwa eine Krankheit der Mutter (etwa ein Herzfehler) oder eine Störung der Reproduktionsorgane die Entwick- lung des Feten fortwährend gefähr- den.

Bei einer autosomal-rezessiv erbli- chen Mikrozephalie beträgt die Er- krankungschance für jedes weitere Kind der gleichen Eltern, die hete- rozygote Anlageträger sind, 25

Mikrozephalie

Prozent. Besteht das Risiko, daß ein zweites Kind mit Mikrozephalie geboren wird, sollte in jedem Fall die Schwangerschaft mit Hilfe der Ultraschalldiagnostik überwacht werden. Ergab bei chromosomal bedingter Mikrozephalie (beispiels- weise im Rahmen des Pä- tau-Syndroms) die Chromosomen- analyse der Eltern, daß ein Eltern- teil Träger einer Transloka- tions-Heterozygotie oder eines Mo- saiks ist, muß die pränatale zytoge- netische Diagnostik mittels Amnio- zentese eingesetzt werden.

Wurde der sichere Nachweis für das Vorliegen einer Mikrozephalie erbracht, liegt unserer Ansicht nach nicht nur eine „genetische"

Indikation, sondern in gleicher Weise eine „medizinische" Indika- tion zur Schwangerschaftsunter- brechung vor, zu der beide Eltern- teile, die über die vorliegende Schädigung aufzuklären sind, ihre Zustimmung geben müssen. Da es sich hier also um eine medizinisch- genetische Entscheidung handelt, sollte man auch für diese nicht den besonders im Ausland gebräuchli- chen Begriff der „selektiven Evge- nik" verwenden. In einer zukünfti- gen gesetzlichen Regelung muß dies unmißverständlich zum Aus- druck kommen.

Literatur

Bergsma, D.: Birth defects. Atlas and Com- pendium. Williams and Wilkins Co., Balti- more, 1973 — Holmes, L. B., Moser, H. W., Halldorsson, S., Mack, C., Pant, S. S., Mat- zilevich, B.: Mental retardation. An atlas of diseases with associated physical abnor- malities. The Macmillan Co., New York, 1972 — Koch, G.: Genealogisch-demogra- phische Untersuchungen über Mikrozepha- lie in Westfalen. Westdeutscher Verlag, Köln und Opladen, 1968 — Koch, G.: Ge- netische Beratung (genetic counseling) — pränatale Diagnostik (prenatal diagnosis).

Palm und Enke, Erlangen, 1974 — Wit- kowski, R., Prokop, 0.: Genetik erblicher Syndrome und Mißbildungen. Wörterbuch für die Familienberatung. Akademie-Ver- lag, Berlin, 1974.

Anschrift des Verfassers:

Professor Dr. med. Gerhard Koch 852 Erlangen

Bismarckstraße 10

IN KÜRZE

Diagnostik

Raumfordernde Prozesse des Hirns sind in einem Großteil der Fälle mit Hilfe der Hirnszintigraphie direkt darzustellen. Dieses Verfahren eig- net sich vor allem für die ambulan- te Frühdiagnostik und belastet die Patienten weder physisch noch psychisch. Insbesondere Ge- schwulstformen mesodermalen Ur- sprungs, aber auch Neurinome und Spongioblastome, können sicher dargestellt werden. Die Hirnszinti- graphie ist allerdings keine absolut zuverlässige Methode zum Nach- weis eines raumfordernden intra- kraniellen Prozesses. Ein negatives Szintigramm schließt einen Tumor nicht aus. Zusammen mit anderen Verfahren der ambulanten Tumor- diagnostik trägt die Hirnszintigra- phie aber mit dazu bei, raumfor- dernde Prozesse sicherer erken- nen zu können. cb (Zeidler, U.: Med. Welt 25 [1974]

1462-1467)

Für die Funktionsdiagnostik des Larynx stehen drei röntgenologi- sche Verfahren zur Verfügung, die allerdings personell und zeitlich sehr aufwendig sind. Man sollte sich daher unter Umständen dazu entschließen, vom Kehlkopf Hoch- volt-Röntgenaufnahmen anzuferti- gen. Diese technisch wesentlich einfachere Methode ist ebenso aussagekräftig wie die anderen Verfahren. An der Hals-Na- sen-Ohren-Klinik der Universität Hamburg werden seit einiger Zeit bei unklaren Befunden am Kehl- kopf routinemäßig Larynx-Aufnah- men mit Hochvolt-Röntgenstrahlen gemacht. Eine Aufnahme wird bei Inspiration, eine weitere bei Phona- tion des Vokals „i" geschossen.

Mit dieser Technik läßt sich die Funktion der Stimmbänder gut dar- stellen. Mitunter sind auch Aussa- gen darüber möglich, ob die Pa- tienten wieder mit einer normalen Funktion der Stimmbänder rechnen können. cb (Neumann, 0. G.; Kruse, C. G.:

HNO 22 [1974] 238-241)

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