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Perspektiven des Sozialismus oder Sozialismus ohne Perspektive?

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Gerd Meyer

Perspektiven des Sozialismus

oder Sozialismus ohne Perspektive?

Entwicklungstendenzen und Widersprüche in der DDR-Gesellschaft

Fragt man nach Perspektiven und Entwicklungstendenzen des Sozialismus in der D D R , so ist zunächst auszugehen v o m parteioffiziellen Selbstver- ständnis, wie es vor allem das Parteiprogramm der S E D autoritativ für die ge- genwärtige Phase der »Gestaltung der entwickelten sozialistischen Gesellschaß«

formuliert. Hier werden für alle Bereiche der Gesellschaft und der Politik ver- bindliche Ziele und Handlungsprinzipien festgelegt, die wichtige Ausgangspunk- te für das kritische Verständnis von Soll und Ist im D D R - S o z i a l i s m u s bilden.

Um dem westdeutschen B e o b a c h t e r einen Einblick in die K o m p l e x i t ä t dieser Zielperspektiven ( u n d in die besondere S p r a c h e ) der S E D zu geben, sei hier eine längere zentrale Passage aus ihrem derzeit gültigen Parteiprogramm von 1976 zitiert:

»Entwickelte sozialistische Gesellschaft - d. h.

- alle materiellen, sozialökonomischen und politisch-ideologischen Vorausset- zungen zu schaffen, damit der Sinn des Sozialismus, alles zu tun für das W o h l des Volkes, für die Interessen der Arbeiterklasse, der Genossenschaftsbauern, der Intelligenz und der anderen Werktätigen, auf ständig höherer Stufe verwirk- licht wird. Entsprechend dem ökonomischen Grundgesetz des Sozialismus be- steht die Hauptaufgabe bei der Gestaltung der entwickelten sozialistischen Ge- sellschaft in der weiteren Erhöhung des materiellen und kulturellen Lebensni- veaus des Volkes.

- eine leistungsfähige materiell-technische Basis zu schaffen, die ein stabiles Wirt- schaftswachstum, hohe Arbeitsproduktivität und Effektivität der gesellschaftli- chen Arbeit ermöglicht.

- Die konsequente Verwirklichung des Prinzips »Jeder nach seinen Fähigkeiten, jedem nach seiner Leistung« setzt neue Triebkräfte für den ökonomischen und sozialen Fortschritt frei »...«.

- Die Produktionsverhältnisse als Beziehungen kameradschaftlicher Zusam- menarbeit und gegenseitiger Hilfe zwischen den Werktätigen und zwischen den Arbeitskollektiven weiterzuentwickeln und zu vervollkommnen, die Kollekti- vität in den gesellschaftlichen Beziehungen zu verstärken.

- Die Rolle der Arbeiterklasse und ihrer Partei als führende Kraft der Gesellschaft

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zu erhöhen, ihr Bündnis mit der Klasse der Genossenschaftsbauern, mit der In- telligenz und allen anderen Werktätigen ständig zu festigen. Das heißt zugleich, die Annäherung aller Klassen und Schichten »...« planmäßig zu vollziehen.

- Die sozialistische Staats- und Rechtsordnung allseitig zu festigen und die soziali- stische Demokratie breit zu entfalten.

- Die sozialistische Bewußtheit der breiten Massen weiter zu erhöhen, ihre marxi- stisch-leninistische Moral aktiv herauszubilden, Egoismus, Individualismus und andere Erscheinungen der bürgerlichen Ideologie konsequent zu überwinden.

- Den Schutz des Friedens und der sozialistischen Errungenschaften jederzeit zu- verlässig zu gewährleisten und bei allen Bürgern der Deutschen Demokrati- schen Republik die Bereitschaft zur Verteidigung des Sozialismus zu festigen.«

Programm der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands. Berlin/DDR 1976, Kap. II)

D i e s e Ziele sollen das D e n k e n und Handeln nicht nur der Parteimitglieder, sondern auch - vermittelt über die führende R o l l e der Partei - möglichst vieler Menschen bestimmen. D i e entwickelte sozialistische Gesellschaft wird ver- standen als eine entscheidende Etappe auf d e m W e g zur k o m m u n i s t i s c h e n Gesellschaft, d.h. einer » W e l t des Friedens, der Arbeit, der Freiheit, der Gleichheit und Brüderlichkeit«, in der »alle M e n s c h e n ihre Fähigkeiten und T a l e n t e voll entfalten können.« ( P r o g r a m m der S E D , 1976, K a p . V )

B e i der Verwirklichung dieser weitreichenden Zielperspektiven sieht sich die D D R heute in ihrer innergesellschaftlichen Entwicklung vor drei große Her- ausforderungen gestellt:

1. D i e Entfaltung aller Produktivkräfte im Z u g e der wissenschaftlich-techni- schen R e v o l u t i o n (insbesondere in den Schlüssel- und Spitzentechnolo- g i e n ) und die Meisterung ihrer sozialen Folgen (stichwortartig angedeutet:

neue soziale Ungleichheiten, Eliteförderung, neue Arbeitskultur).

2. D i e Demokratisierung des politischen Systems, insbesondere der A b b a u bürokratisch-zentralistischer Machtstrukturen, Leitungsmethoden und B e - v o r m u n d u n g der Bürger; die volle Gewährleistung vor allem der M e n - schenrechte in allen Lebensbereichen, politischer M i t b e s t i m m u n g und kul- tureller Freiheit.

3. D i e B e w a h r u n g der sozialistischen Zielperspektive als effektive R i c h t - schnur der Politik, als motivierende Überzeugung der Bürger und als Legiti- mationsgrundlage des Systems.

G e w i ß , es gibt zahlreiche weitere Struktur- und Entwicklungsprobleme der D D R , z . B . im Bereich des Umweltschutzes, der W e i t e r e n t w i c k l u n g des Pia-

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nungs- und Lenkungssystems der Wirtschaft, der Versorgung der Bürger im Alltag, und heute vielleicht drängender denn j e : die negativen Folgen der R ü - stungsdynamik, der relativen Abhängigkeit v o m kapitalistischen W e l t m a r k t und der Systemkonkurrenz, besonders a u f wirtschaftlichem und ideologi- schem G e b i e t . D e r B l i c k richtet sich hier zwar auf zentrale Herausforderungen für die innergesellschaftliche Entwicklung der DDR; aber das bedeutet nicht, daß diese P r o b l e m e allein von innen her verursacht und lösbar sind. D i e Perspekti- ven und W i d e r s p r ü c h e des D D R - S o z i a l i s m u s resultieren mindestens ebenso sehr aus systemexternen Einflußfaktoren und Abhängigkeiten, besonders im B e - reich der Friedenssicherung, der E n t w i c k l u n g des Militärs und der materiellen W o h l f a h r t im europäischen und globalen K o n t e x t .

Seit etwa zweiJahren nun erhält die D D R außerdem entscheidende Neuan- s t ö ß e aus der Reformpolitik der K P d S U unter der Führung G o r b a t s c h o w s - zusätzliche Impulse und Herausforderungen, denen sich die D D R stellen m u ß und denen sie sich a u f D a u e r w o h l nicht entziehen kann.

I. Neue Anstöße von außen: Gorbatschows Reformpolitik und die DDR heute Für die D D R ist eine u n g e w o h n t e Situation entstanden: D i e Sowjetunion, im- m e r als V o r b i l d und - allerdings nicht sklavisch nachzuahmendes und nach- geahmtes - Modell gepriesen (»von der Sowjetunion lernen heißt siegen ler- nen«), ist nun auf einmal nicht m e h r die bremsende Kraft, wenn es um weitrei- chende politische und wirtschaftliche R e f o r m e n in den sozialistischen Län- dern geht. Im Gegenteil, nun scheint die U d S S R Vorreiterin und M o t o r für eine Reformbewegung, wie sie bisher einmalig in der nachrevolutionären G e - schichte der H e g e m o n i a l m a c h t ist. D i e D D R bleibt zwar auch weiterhin »un- verbrüchlich verbunden« mit d e m Mutterland der R e v o l u t i o n ; doch dieses be- g i n n t sich selbst zu revolutionieren und damit den innenpolitischen Status q u o der kleineren M ä c h t e des W a r s c h a u e r Pakts nachdrücklich in Frage zu stellen.

D e n n im K e r n wichen die Herrschaftsstrukturen dieser Länder, die Mehrzahl ihrer D e m o k r a t i e - und Effizienzprobleme in Politikiund Wirtschaft nicht von- einander ab. N u n aber werden U m b a u (perestroika) und Öffnung oder Trans- parenz der Gesellschaft (glasnost) gefordert als R e a k t i o n e n a u f die Erstarrung, die gewaltigen Wirtschaftsprobleme und Rüstungslasten, die E n g e und U n b e - weglichkeit der sowjetischen Gesellschaft in den letzten J a h r z e h n t e n . D a m i t verbindet sich eine W i e d e r b e l e b u n g und Neuformulierung sozialistischer Zielperspektiven, realistisch und emphatisch zugleich, praxisnah und damit a u f unerhörte W e i s e provokant. Es soll sich viel m e h r als früher lohnen, für

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diese Ziele zu leben und zu arbeiten. D e r in sich differenzierte und vorsichtige U m g a n g der D D R mit diesen neuen Herausforderungen aus dem Osten sagt viel aus über Chancen der Veränderung und über das Beharrungsvermögen ge- sellschaftlicher Strukturen, über Entwicklungsprobleme und W i d e r s p r ü c h e dieser sozialistischen Industriegesellschaft. D i e D D R steht über kurz oder lang am Scheideweg: Folgt sie dem Programm und den praktischen Ansätzen zum radikalen Reformismus der K P d S U , oder bleibt sie beim konservativen, sy- stemimmanent relativ erfolgreichen Reformismus der S E D im letzten Viertel- jahrhundert?

Die Reaktionen der DDR auf die sowjetischen Herausforderungen sind unterschied- lich in den vier zentralen Politikfeldern: Außen- und Sicherheitspolitik, Wirtschafts- und Sozialpolitik, Reformen des politischen Systems, Kulturpolitik. Volle Übereinstim- m u n g herrscht insbesondere in Fragen der Abrüstungs- und Entspannungspo- litik; von einer aktiven Friedenspolitik in Europa erhofft sich der kleinere Bündnispartner u.a. zusätzliche Legitimation und Spielräume in seiner Außenpolitik.

In der Wirtschafts- und Sozialpolitik steht die D D R zwar vor ähnlichen Struk- tur- und Effizienzproblemen, kann aber zugleich auch a u f eine sehr viel bessere Erfolgsbilanz verweisen. D i e D D R stimmt den sowjetischen R e f o r m v o r h a b e n hier grundsätzlich, w e n n auch nicht in allen P u n k t e n zu. Sehr nachdrücklich verweist sie a u f das bisher im eigenen Lande Erreichte, a u f seit vielen J a h r e n er- folgreich und kontinuierlich durchgeführte R e f o r m e n in der Organisation des Planungs- und Wirtschaftsverwaltungsapparats (insbesondere die K o m b i - natsreform), a u f die größere Effizienz vertikaler und horizontaler K o o p e r a - tion und a u f die insgesamt bessere Versorgung. In der T a t k ö n n e n sich die W a c h s t u m s r a t e n , die Steigerung der Produktivität und das Niveau der tech- nologischen E n t w i c k l u n g im Vergleich zur U d S S R sehen lassen. U n d g e w i ß gibt es in der D D R auch weitaus weniger sozialpathologische Erscheinungen ( w i e K o r r u p t i o n , kriminelle Bereicherung im Betrieb, B u m m e l a n t e n t u m und Verschwendung, Bürokratismus und administrativen Leerlauf, Alkoholis- m u s ) und Ö d e im kulturellen A n g e b o t , und nicht zuletzt unfähige W i r t - schaftskader in Massen. V o r allem aber mit den vielfältigen Wohlfahrtsleistun- gen des SED-Staates und seiner paternalistischen Fürsorgepolitik, die seit 1971 verstärkt als »Politik der Hauptaufgabe« unter der Leitformel der »Einheit von Wirtschafts- und Sozialpolitik« einsetzte, steht die D D R vielfach an der Spitze der Länder der sozialistischen Gemeinschaft und kann sich auch mit anderen modernen Industrienationen im W e s t e n durchaus messen. W e i t g e h e n d e Chancengleichheit in einem einheitlichen, allgemeinbildenden Schul- und Ausbildungssystem, ein relativ h o h e r D u r c h s c h n i t t der beruflichen Qualifika-

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tion und vielfältige Weiterbildungsangebote; die nahezu vollständige Sicher- heit des Arbeitsplatzes (allerdings nicht i m m e r wie gewünscht und zuneh- m e n d schwieriger zu garantieren); h o h e soziale Leistungen und Sicherheit, die sich weithin mit d e m Gefühl des Versorgt- und G e b o r g e n s e i n s verbinden; das W o h n u n g s b a u p r o g r a m m seit 1971; historische Leistungen in der Gleichbe- rechtigung der Frauen; ein umfangreiches Sport- und Freizeitangebot; das ko- stenlose Gesundheitssystem; nicht zuletzt stabile Preise für Grundnahrungs- mittel, W o h n e n und öffentlichen Nahverkehr; kurzum: ein hohes M a ß an so- zialer Chancengleichheit, die relativ egalitäre Bedürfnisbefriedigung und ein stabiler, wenn auch nur allmählich ansteigender Lebensstandard auf der Basis kontinuierlicher Zuwachsraten haben entscheidend dazu beigetragen, daß die Gesellschaftsordnung der D D R ein hohes M a ß an sichtbarer institutioneller Stabilität und vorwiegend materiell begründeter Loyalität - neben einem ge- wichtigen Mangel an politischer Legitimität ( S t i c h w o r t e : Menschenrechte, D e m o k r a t i e , Freizügigkeit) - aufweist.

U m s o schwieriger ist der U m g a n g mit den vielfältigen Vorschlägen G o r b a t - schows zur Demokratisierung des politischen Systems. D i e SED-Führung reagiert mit einer Mischung aus verbalem W o h l w o l l e n , Herunterspielen, A b l e h n e n von Diskussion und A b w e h r . Sieben P u n k t e sind es vor allem, von denen je- der einzelne eine harte politische N u ß für die politischen Machthaber in der D D R darstellt:

1. Transparenz und Kritik im öffentlichen Leben (»glasnost«): Möglichst umfassen- de Information, das schonungslose Aufdecken von Funktionsmängeln und Ungerechtigkeiten; eine realistische und kritische Analyse der Entwicklung des sog. realen Sozialismus in allen gesellschaftlichen Lebensbereichen, in G e - genwart und Vergangenheit; öffentliche K r i t i k an Partei- und Staatsfunktio- nären, ja sogar an Militärs und Sicherheitskräften und ihren Institutionen, an der Heerschar leistungsschwacher Wirtschaftskader; ein A b b a u der Zensur und eine relativ freie Artikulation politischer M e i n u n g e n - alle diese M o m e n t e und Schritte zur Herstellung einer kritischen Öffentlichkeit in der U d S S R wä- ren gewiß auch ein Desiderat für die sozialistische D e m o k r a t i e der D D R . D o c h sind allenfalls Ansätze in dieser R i c h t u n g sichtbar, eher vorsichtig gedul- det als mit Verve von o b e n gefordert und gefördert.

2. Die Reform des politischen Systems als Bedingung für grundlegende Wirtschaftsrefor- men: W i e im »Prager Frühling« von 1968 und in der »Solidarnosc«-Periode in Polen 1980/81 g i b t die Führung der K P d S U politischen R e f o r m e n den glei- chen, wenn nicht einen höheren R a n g als schnellen Wirtschaftsreformen.

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Freiheit der K r i t i k , der Diskussion von Alternativen für optimale Problem- lösungen, informierte und selbständig urteilende Staatsbürger (mindestens die gut ausgebildeten unter i h n e n ) , m e h r Verantwortung und wirkliche Mit- b e s t i m m u n g in allen Bereichen des gesellschaftlichen Lebens - das sind Prinzi- pien des politischen U m b a u s und der Aktivierung der sowjetischen Gesell- schaft, die die D D R in der T h e o r i e unterstützt, aber in der Praxis, im Sinne wirklicher Demokratisierung keineswegs beherzt. D i e S E D verweist gegen- über den sowjetischen Herausforderungen vielmehr darauf, daß sich die bishe- rige F o r m und Praxis sozialistischer D e m o k r a t i e in der D D R bewährt habe und überdies ständig weiterentwickelt werde. K o n t i n u i t ä t und nicht U m b r u c h , die D o m i n a n z des Bürokratischen gegen eine wachsende Partizipa- tion »von unten« sind hier n o c h i m m e r vorherrschend. Wirtschaftsreformen habe man kontinuierlich und o h n e politische Erschütterungen vollzogen.

3. Partei- und Staatsapparat als Verantwortliche: N e u ist in der Sowjetunion auch, wie die Parteiführung selbst die Apparate der beiden Hauptsäulen der Macht, aber auch die Massenorganisationen und die regionalen Verwaltungen unmittelbar verantwortlich macht für eine Fülle kleinerer und größerer Mängel. W e i t h i n treten die bisherigen Erklärungen und Beschuldigungen mit dem Verweis auf »objektive Bedingungen« oder das »Versagen Einzelner« oder

»unzureichende Erfüllung an sich funktionsgerechter N o r m e n « in den Hinter- grund, und der Verweis auf die unmittelbare Verantwortung der K a d e r a u f al- len E b e n e n , a u f unzureichendes M a n a g e m e n t und a u f vielfach strukturell ver- festigtes bürokratisches Fehlverhalten rückt in den Vordergrund.

4. Die Aktivierung der Bürger für Reformen gegen konservative Kräfte vor allem im Herrschaftsapparat'ist vorläufig kein T h e m a für die D D R . G e w i ß , die politische K u l t u r der Sowjetunion, die Einstellungen und Verhaltensmuster der Bürger sind insgesamt sicher sehr viel konservativer als in den osteuropäischen Staa- ten und zumal in der stark westorientierten D D R . Politische Apathie, Gleich- gültigkeit, Entpolitisierung und - oft auch räumliche - Distanz zum zentralen Machtapparat sind in der Sowjetunion viel ausgeprägter, aber in der D D R n o c h prinzipiell ähnlich vorhanden. D i e Forderung nach dem eigenverant- wortlich handelnden, politisch engagierten und aktiven, selbstbewußten und kritischen Bürger, der für Reformen und gegen dogmatisches D e n k e n kämpft, ist daher auch für die D D R legitim. D i e letzten J a h r e haben hier in der D D R g e w i ß Fortschritte gebracht, die Bürger haben i m m e r eigenständiger und kriti-

scher über Politik und Gesellschaft nachgedacht und dies - wenn auch meist privat oder halböffentlich - artikuliert; die relative »Öffnung« in jüngster Zeit,

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die Toleranz gegenüber den kritischen Anfragen der evangelischen K i r c h e und der Friedensbewegung; die Bereitschaft, nicht jede K r i t i k als staatsfeind- lich anzusehen und den K r i t i k e r politisch zu verdächtigen - all das sind wichti- ge erste Schritte a u f d e m W e g zu einer demokratischen politischen K u l t u r . G l e i c h w o h l k o n n t e oder wollte die D D R - F ü h r u n g bisher nicht schneller vor- angehen oder eine Öffnung zulassen.

5. Der massenhafte Austausch leitender Kader auf allen Ebenen ist wohl eine der tiefgreifendsten R e f o r m e n unter G o r b a t s c h o w , weil er unmittelbar die Macht- positionen der etablierten Schicht, einzelner F u n k t i o n ä r e wie informeller Gruppierungen, berechenbare Muster der Karriereplanung und der Elitenre- krutierung in Frage stellt. N i c h t nur eine Verjüngung des i m m e r greisenhafter wirkenden Politbüros, nicht nur ein Austausch traditionell und akademisch besser geschulter N a c h w u c h s k a d e r gegen altgediente Bürokraten, sondern ge- rade auch deren veränderte politische Ausrichtung, »neue Mehrheiten« für den Reformkurs G o r b a t s c h o w s , eine größere praktische Offenheit für die Verbin- dung von D e m o k r a t i e und Leitung werden angestrebt und in vielerlei Hin- sicht bereits realisiert. D e m gegenüber steht eine sehr kontinuierliche Erneue- rung der D D R - M a c h t e l i t e wie nahezu aller K a d e r in den verschiedenen Macht- apparaten. Mindestens nach außen wirkt der Machtapparat politisch h o m o - gen und diszipliniert; Richtungskonflikte werden allenfalls in Spuren öffent- lich erkennbar; die Disziplin unter der Führung eines zwar alternden, aber handlungsfähigen K e r n s von Altfunktionären im Politbüro, umgeben von jüngeren (ca. 5 5 - 6 5 j ä h r i g e n ) Spitzenfunktionären überwiegt ganz eindeutig, und eine Änderung dieses K u r s e s ist auch nicht sichtbar.

6. Demokratische Wahlen in Staat und Partei, im B e t r i e b wie für die Sowjets sind w o h l der sensationellste Vorschlag G o r b a t s c h o w s . Hochqualifizierte Fachleu- te und N i c h t k o m m u n i s t e n sollen leitende Positionen e i n n e h m e n k ö n n e n , B e - legschaften sollen sich ihre D i r e k t o r e n , Bürger zunächst mindestens ihre Mächtigen vor O r t selber relativ frei und alternativ auswählen können! N i c h t zuletzt diese Forderung ließ die etablierten B ü r o k r a t e n in der ganzerTSowjet- union erzittern, das ZK bremste ab, der W e g zu demokratischen W a h l e n auf gesamtstaatlicher E b e n e scheint noch weit. G l e i c h w o h l gibt es vielfältige B e i - spiele für demokratische W a h l e n in Betrieben und K o l c h o s e n , auf lokaler und regionaler E b e n e , deren D y n a m i k schwer abschätzbar ist. U n d dieser V o r - schlag ist es denn auch, der bisher in der D D R offiziell a u f den geringsten W i - derhall stieß.

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7. Menschenrechte und ein größeres Maß an Freiheit für eine kritisch-loyale Opposition sind eine weitere wichtige Forderung im Reformprogramm G o r b a t s c h o w s . D e r tolerantere U m g a n g mit Dissidenten, die Duldung einer Vielfalt opposi- tioneller G r u p p e n , allgemein eine Z u n a h m e der Meinungsvielfalt und -frei- heit, eine Fülle öffentlicher K o n t r o v e r s e n , aber auch die Freilassung politi- scher Gefangener und eine liberalere Ausreisepraxis - all das fügt sich ein in das Bild einer ernsthaft angestrebten, aber schwierigen Demokratisierung im Rah- m e n sozialistischer Strukturprinzipien. A u c h wenn die D D R in mancher Hin- sicht weniger restriktiv gegen oppositionelle K r ä f t e vorging als der K G B , so gibt es doch gerade auch in diesem P u n k t weiterhin wichtige Desiderate und Forderungen, von denen die S E D - F ü h r u n g bisher wenig oder nichts wissen will. Zwar verfuhr sie im letzten J a h r z e h n t in einzelnen Bereichen oder Fällen pragmatischer oder liberaler als früher; aber eine grundlegende politische R e - form in diesem Sinne hält sie nicht für nötig, auch wenn dies der Bürger anders sieht.

Neue Freiheiten im kulturellen Bereich, besonders in den Sparten Film, Theater, Literatur, Bildende K u n s t , haben einen h o h e n Stellenwert in der sowjetischen R e f o r m p o l i t i k wie für das Bestreben, die städtische Intelligenz für sich zu ge- winnen. D i e Produkte dieser neuen Freiheit bleiben Interessierten in der D D R nicht verborgen. B e i aller Auflockerung und begrenzten A u t o n o m i e der K u l - turszene in der D D R stellt der U m b r u c h in der U d S S R d e n n o c h eine Heraus- forderung dar, der sich die S E D bisher weitgehend verschließt, der sie aber im eigenen Interesse sehr viel großzügiger begegnen k ö n n t e .

Insgesamt reagiert die DDR vor allem abwehrend, abwiegelnd und konservativ auf die sowjetischen Reformvorstellungen für den politischen, ideologischen und kultu- rellen Bereich, weil sie andere Strategien der Systemstabilisierung, der gesellschaftlichen Integration und der wirtschaftlichen Effizienzsteigerung als erfolgreicher und weniger risikovoll ansieht, gestützt auf die eigenen Erfahrungen der letzten Jahre. Die DDR hat die Strategie eines strukturkonservativen Reformismus im Gegensatz zum radi- kalen Reformismus der Sowjetunion gewählt.

Bei allen Unterschieden in der letzten Zeit stimmen KPdSU und SED jedoch darin überein, daß bestimmte Kernstrukturen und -prinzipien des Herrschaftssystems nicht angetastet werden sollen:

- die führende R o l l e der Partei;

- nahezu ausschließlich gesellschaftliches Eigentum an den Produktionsmit- teln und überwiegend zentral gesteuerte Planwirtschaft;

- das Organisationsprinzip des demokratischen Zentralismus;

- das V e r b o t eines organisierten politischen Pluralismus innerhalb der Partei

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und erst recht in der F o r m eines Systems von mehreren Parteien, die in freien W a h l e n um die M a c h t konkurrieren;

- der offizielle öffentliche Geltungsanspruch der Parteiideologie des Marxis- mus-Leninismus und des Prinzips der führenden R o l l e der Arbeiterklasse.

So sehr manche dieser Prinzipien in der sowjetischen Reformdiskussion aufge- lockert und in der Praxis mindestens ansatzweise schon flexibler gehandhabt werden, so sehr g e h ö r e n diese Kernstrukturen - und das gilt erst recht für die D D R - zu den gleichsam selbstverständlichen strukturellen G r e n z e n jeder R e - formpolitik in beiden Ländern. A u ß e r d e m bleibt der sicherheits- und außen- politische Führungsanspruch der S o w j e t u n i o h e r h a l t e n . Allerdings räumt sie - und das ist eine wichtige N e u e r u n g - viel stärker als früher j e d e m der kleineren osteuropäischen Länder einen erheblich größeren Spielraum ein zu ent- scheiden, in welcher W e i s e sie den neuen sowjetischen R e f o r m k o n z e p t e n fol- gen will. Die spezifisch konservative Reaktion der DDR im politisch-ideologischen und kulturellen Bereich (im Gegensatz etwa zu Polen) erklärt sich u. a. aus einer Reihe von systemspezifischen Faktoren:

- die eigenen Erfolge im Bereich der Wirtschaftsreformen und einer paterna- listischen Fürsorge- und Wohlfahrtspolitik;

- die größeren Potentiale der Unzufriedenheit in der B e v ö l k e r u n g und eine insgesamt sehr viel weniger konservative politische K u l t u r ;

- die größeren Legitimationsprobleme des politischen Systems;

- die ständige Auseinandersetzung bzw. K o n f r o n t a t i o n mit der Bundesrepu- blik Deutschland, die die Bürger wesentlich besser informiert und zugleich stärker orientiert sein läßt am W e s t e n und dadurch insgesamt ein kritisches Potential für die Problembereiche K o n s u m , Men s ch en rec ht e, Freizügig- keit, Friedenssicherung schafft;

- die spezifische sicherheitspolitische F u n k t i o n im Z e n t r u m Mitteleuropas und an der W e s t f l a n k e des Warschauer Paktes.

D i e D D R befindet sich also insgesamt in einer z. T. deutlich anderen Situation, die im Unterschied zur U d S S R viel stärker durch innenpolitischen Problem- druck als durch eine fast krisenhaft zugespitzte wirtschaftliche Lage, extreme Rüstungslasten und außenpolitische Verstrickungen (Afghanistan) gekenn- zeichnet ist.

D i e R e a k t i o n der D D R a u f diese Herausforderungen der sowjetischen R e - formpolitik macht aber auch - bei aller offensichtlichen Stabilität im Sichtba- ren - die oft nicht so augenfälligen Entwicklungsprobleme und W i d e r s p r ü c h e in der D D R selbst deutlich.

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I I . Herausforderung Nr. 1: Entfaltung aller Produktivkräfte, bürokratische Herr- schaft und sozio-ökonomische Widersprüche

Ein wesentliches Ziel der sozialistischen Revolution und des »entwickelten S o - zialismus« ist die Entfaltung aller Produktivkräfte der Gesellschaft: »Gesetzmä- ßig« und »in den richtigen Proportionen« sollen sich Produktion und Distribu- tion, menschliche Arbeitskraft und Qualifikationen, Wissenschaft>und T e c h - nik optimal entwickeln - genauso aber auch alle produktiven K r ä f t e , wie s i e . aus guter Organisation, Planung und Leitung, aus demokratischer Mitwirkung und sozialistischem Bewußtsein, aus neuen solidarischen und kollektiven S o - zialbeziehungen in allen Lebensbereichen resultieren. D e r Sozialismus soll die Bedingungen schaffen für die E n t w i c k l u n g einer allseitig gebildeten Persön- lichkeit, die nicht nur ihre materiellen, sondern auch ihre kulturellen und psy- cho-sozialen Bedürfnisse voll befriedigen, all ihre individuellen und gesell- schaftlichen Fähigkeiten voll entfalten kann.

D o c h bei der Realisierung dieses Ziels einer g r ö ß t m ö g l i c h e n Entfaltung al- ler menschlichen Produktivkräfte entwickelt der sog. reale Sozialismus in der D D R seinen Grundwiderspruch: Struktur und Praxis bürokratischer Herrschaft verhindern das Erreichen dieses Ziels sehr viel mehr als sie es fördern. D i e ex- trem h o h e K o n z e n t r a t i o n politisch-administrativer, ö k o n o m i s c h e r und ideo- logischer (kulturell-normativer) Verfügungsgewalt in den H ä n d e n der verei- nigten Exekutiven von Partei, Staat und Massenorganisationen, die Vorherr- schaft der Partei; eine weithin i m m e r n o c h starre, in ihrer W i r k u n g , aber nicht in ihrem Geltungsanspruch eingeschränkte Parteiideologie; das geringe M a ß an Selbst- und M i t b e s t i m m u n g im öffentlichen Leben für die Bürger, die inten- sive Durchdringung der meisten B e r e i c h e des öffentlichen Lebens durch die Bürokratie; die vielfältigen W i d e r s p r ü c h e zwischen Entfremdung im Öffentli- chen und k a u m kontrollierter Privatheit, von propagandistischer Harmonisie- rung und latenter Unzufriedenheit, zwischen öffentlichen D e n k v e r b o t e n und persönlichem D e n k v e r m ö g e n kritischer Bürger; die relative Freiheit der K o m - munikationslinien nach draußen und die sich nur allmählich lockernden B e - schränkungen der Freizügigkeit - all dies und vieles andere m e h r steht einer g r ö ß t m ö g l i c h e n Entfaltung aller Produktivkräfte entgegen.

Diesen Grundwiderspruch sieht die politische Führung der D D R nicht.

G e w i ß , sie räumt P r o b l e m e und begrenzte, sog. nicht-antagonistische W i d e r - sprüche in der Entwicklung des Sozialismus ein, hält diese aber grundsätzlich für lösbar. I h r eigenes K o n z e p t für die Entfaltung der Produktivkräfte und für die Zukunftsgestaltung stützt sich zentral auf einen Fortschrittsglauben, der auf die Segnungen der wissenschaftlich-technischen R e v o l u t i o n , a u f

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W a c h s t u m und Spitzentechnologien setzt. G e r t - J o a c h i m G l a e ß n e r stellt dazu fest:

Die Politik der SED - aber auch anderer regierender kommunistischer Parteien - ist

1 heute dadurch gekennzeichnet, daß sie kaum noch in der Lage ist, langfristige ge- sellschaftliche Perspektiven zu entwickeln und diese in praktische Politik umzuset- zen. Die meisten Entscheidungen, die getroffen werden, sind das Ergebnis aktueller Forderungen und sozialer Bedürfnisse. Sie sind im Grunde mittel- und kurzfristige Entscheidungen und ihre: Natur nach nicht von der Art, daß sie die soziale und ökonomische Struktur der sozialistischen Systeme erneut transformieren könnten . . . In diesem Zusammenhang gewinnt das Projekt »wissenschaftlich-technische Revolution« seine Bedeutung: Es stellt den Versuch dar, den gesellschaftlichen und politischen Zielverlust aufzufangen.'

D i e D D R selbst versteht die wissenschaftlich-technische Revolution (WIR)-so das

» W ö r t e r b u c h des wissenschaftlichen K o m m u n i s m u s « - als

— — , y

eine qualitativ neue Etappe in der Entwicklung der Produktivkräfte, als die Ge- samtheit der revolutionären Veränderungen in den gegenständlichen Grundlagen der produzierenden und der nichtproduzierenden Bereiche. Die W T R wird ver- standen als ein objektiver gesellschaftlicher Prozeß, in dem die materiell-technische Basis des Kommunismus errichtet wird. All das beeinflußt das Leben der Menschen, verändert ihre Arbeit, ihre Freizeit, ihre Bildung, ihre Kultur und Le- bensweise.2

In den 60er J a h r e n wurde die W T R ganz überwiegend als ein Verände- rungsprozeß in den Bereichen T e c h n i k , Wissenschaft (»Hauptproduktiv- kraft«), Rationalisierung und Arbeitsorganisation'mit durchweg positiven so- zialen Folgen ( h ö h e r e s Bildungsniveau, attraktivere I n h a l t e der Arbeit, verbes- serte Aufstiegschancen, »neue sozialistische Lebensweise«*) gesehen. D i e Ent- wicklung der Gesellschaft erschien fast o h n e P r o b l e m e politisch und ö k o n o - misch steuerbar, sozial harmonisch und politisch krisenfrei. H e u t e ist die W T R nicht mehr nur ein technokratisch verkürztes K o n z e p t zur Steuerung der Ö k o n o m i e und technologischer Innovation, sondern »ein politisches K o n z e p t « , das die Basis bildet für eine integrierte Planung und L e n k u n g der gesamtgesellschaftlichen Entwicklung, also auch in der sozialen und kulturel- len D i m e n s i o n . m i t Legitimationsfunktion für das politische System und von entscheidender B e d e u t u n g im internationalen Systemwettbewerb, der letzt- lich die Überlegenheit des Sozialismus gegenüber dem Kapitalismus demon- strieren soll.3 D i e D D R versucht also einerseits, allzu hochgesteckte Zielper- spektiven realistisch zu reduzieren, ö k o n o m i s c h e s W a c h s t u m weniger exten- siv, sondern durch Intensivierung der Produktion zu erreichen und daraus re- sultierende soziale P r o b l e m e nicht einfach zu verdrängen. Sie versucht ande-

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rerseits, ausgehend von einem umfassenderen Begriff des wissenschaftlich- technischen Fortschritts, an einer k o n k r e t e n U t o p i e , einer integrierten Ziel- kultur festzuhalten, die der Gesellschaft eine qualitativ dem Kapitalismus überlegene Entwicklungsperspektive g i b t und zugleich - vor allem a u f der Ba- sis h o h e r wirtschaftlicher und sozialer Leistungen - dem Herrschaftssystem mindestens Massenloyalität, wenn schon nicht demokratische Legitimität sichert.

Doch die Herausforderung der DDR besteht in diesem Bereich nicht nur darin, die Produktion möglichst schnell und umfassend zu rationalisieren, Spitzentechnologien zu entwickeln und sich international als konkurrenzfä- hig zu erweisen. Sondern es geht auch darum, die problematischen sozialen Folgen der W T R i m K o n t e x t einer sozialistischen Entwicklung der Sozial- struktur zu meistern.

Die Entwicklung der Sozialstruktur: gesteuerter Wandel und ungelöste Widersprüche

B l i c k e n wir kurz zurück auf einige Hauptlinien des Wandels derSozialstruktur'im Z u g e industriegesellschaftlicher Anpassung und bewußter, politisch gesteuer- ter sozialistischer Transformation seit d e m zweiten W e l t k r i e g . So stand zu- nächst in einer »antifaschistisch-demokratischen Phase« bis zur G r ü n d u n g der D D R die Entfernung von N S - F u n k t i o n ä r e n und NS-Parteigenossen aus ein- flußreichen Positionen und die Säuberung des öffentlichen Lebens von natio- nalsozialistischen Einflüssen im Vordergrund. Am wichtigsten war jedoch die E n t m a c h t u n g der alten bürgerlichen Eliten im Zuge der Verstaatlichung und K o l l e k t i v i e r u n g in allen wichtigen Wirtschaftsbereichen bis 1961 ( m i t Aus- nahme des Handwerks und Restbereichen der Industrie). D i e alten Eliten wur- den weitgehend ausgetauscht gegen neue im Sinne der S E D politisch zuverlässige K a d e r , die vor allem aus der S c h i c h t der Arbeiter und Bauern, der kleinen Angestellten und nicht m e h r so sehr der »alten Intelligenz« k a m e n . N e u e Aufstiegschancen, nicht nur a u f der Basis politischer Zuverlässigkeit und der B e w ä h r u n g im Parteiapparat, sondern zunehmend durch qualifizierte Aus- und Fortbildung, eine fast explosive V e r m e h r u n g von Fachschul- und Hochschulkadern in Führungspositionen waren kennzeichnend vor allem seit den 60er J a h r e n . N e b e n der starken Fluchtbewegung in den W e s t e n waren und sind die A n n ä h e r u n g der Lebensverhältnisse in Stadt und Land, die Her- ausbildung einer - im Vergleich zur B R D - relativ egalitären Sozialstruktur (vor allem durch staatliche Umverteilung) und eine relativ h o h e soziale M o b i - lität (innerhalb wie zwischen den G e n e r a t i o n e n ) kennzeichnend für die sozial-

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strukturelle Entwicklung bis weit in die 70er und 80er J a h r e hinein. Anderer- seits erhält die Intelligenz im wissenschaftlich-technischen und ö k o n o m i - schen Bereich, im Zuge der Rationalisierung und Intensivierung des W i r t - sqhaftsprozesses und mit steigendem G e w i c h t der Qualifikationen aus dem tertiären Bildungsbereich eine i m m e r größere Bedeutung. J a , die Intelligenz

»droht« zunehmend zum Hauptreservoir für die Rekrutierung von Führungs- kräften zu werden, so daß sich die S E D schon seit längerem gezwungen sieht,

»die führende R o l l e der Arbeiterklasse« ideologisch, politisch und ö k o n o - misch vielfältig abzusichern. Anfang der 70er J a h r e wurde wieder stärker die klassenbewußte Auseinandersetzung mit unerwünschten sozialen Erschei- nungen (z. B. materielle Privilegierung der JÜandwerker, falsche Harmonisie- rung der Gesellschaft als »sozialistische Menschengemeinschaft« unter Ul- bricht) betont. Zwar wurden b e s t i m m t e Differenzierunsprozesse, vor allem aufgrund besserer Bildungs- und Berufsqualifikation, bejaht; aber zugleich wurde ideologisch-begrifflich die, A n n ä h e r u n g der Klassen und Schichten be- tont ( z . B. werden ca. 90% der B e völ k eru n g inzwischen offiziell zur Arbeiter- klasse g e r e c h n e t ) . In den letzten J a h r e n gab es wiederholt einen Aufnahme- stop für die Intelligenz bzw. Q u o t e n bei der Aufnahme von neuen Partei- mitgliedern zugunsten der Arbeiterklasse. D i e Zahl der Studienplätze an den Hochschulen wurde E n d e der 70er J a h r e um ca. 1/4 reduziert und die Zulas- sung zum Hochschulstudium wieder verstärkt sozial gesteuert.

Spätestens seit Beginn der 80er Jahre steht die D D R - nicht zuletzt als Ergebnis der W T R - vor wachsenden Problemen, das h o h e M a ß sozialer Sicherheit und weitgehend gleiche Ausbildungs- und Aufstiegschancen für alle angesichts zahlreicher neuer (erwünschter und unerwünschter) sozialer Differenzierun- gen zu gewährleisten. Seit B e g i n n der 80er J a h r e argumentieren einige führen- de Soziologen der D D R , allen voran Manfred Lötsch, daß sich bestimmte so- ziale Ungleichheiten, neu nach Herkunft und Qualität, in der sozialistischen G e - sellschaft der D D R entwickeln und in b e s t i m m t e m U m f a n g erhalten bleiben (müssen und nun auch: s o l l e n ) .4 Zwei J a h r z e h n t e lang war in der D D R die Auffassung vertreten worden, Arbeiterklasse und Intelligenz würden sich dank des ständigen Anstiegs des Qualifikationsniveaus der Arbeiter und we- gen der immer geringeren Unterschiede in den Arbeitsinhalten einander annä- hern. Lötsch bezweifelt nun, ob dieser Annäherungsprozeß sich tatsächlich so vollzieht, ja vollziehen k ö n n e . D e n n i m m e r m e h r werde die Tätigkeit der In- telligenz durch viele Verwaltungs- und Routinearbeiten belastet, sei nicht m e h r eigentlich schöpferische oder leitende Tätigkeit, die durchweg H o c h - bzw. Fachschulausbildung erfordere. So ergäbe sich eher »eine Annäherung durch Nivellierung nach unten«. Angesichts der ständig steigenden Anforde-

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rangen der W T R , insbesondere für die Bereiche Wissenschaft und H o c h t e c h - nologien, k o m m e es darauf an, besondere Begabungen frühzeitig zu erkennen und systematisch zu fördern, durch gezielte Kaderauslese eine wissenschaftli- che Elite zu fördern, die innovative und kreative Spitzenleistungen vollbrin- gen k ö n n e . Lötsch prognostiziert eine Qualifikationsstruktur, nach der nur n o c h ca. ein Viertel der W e r k t ä t i g e n H o c h - bzw. Fachschulkader seien, zwei Drittel dagegen Facharbeiter oder auch nur angelernte Arbeiter. D i e s e Ent- wicklung sei durch die Entwicklung der Produktionsstruktur vorgezeichnet und werde u.a. dazu führen, daß i m m e r m e h r Angehörige der Intelligenz auch unmittelbar in der materiellen Produktion tätig sein werden. S o w o h l inner- halb der Arbeiterklasse wie auch innerhalb der Intelligenz werde eine innere Differenzierung sich nach Bildung und Qualifikation ergeben. Sie werde ent- scheidend begründet und verstärkt durch die Forderung nach einem h o h e n Leistungsniveau und nach Spitzenleistungen, die angemessen - und das heißt unterschiedlich - materiell b e l o h n t werden müssen.

Faktisch werden hier, so meine Interpretation, neue »funktionale« soziale Ungleichheiten nach Bildung, Arbeitsbedingungen und -inhalten, nach Ein- k o m m e n und Aufstiegschancen, nach Einfluß und T e i l h a b e an der M a c h t ge- rechtfertigt - und dies nicht einmal mit schlechtem Gewissen. N i c h t mehr Eigentumsverhältnisse und Klassenunterschiede stehen im Vordergrund der Diskussion, sondern die Frage nach Begründung und A u s m a ß sozialer U n - gleichheiten, vor allem aber ihre positive und produktive F u n k t i o n als »soziale Triebkräfte«. D e n n , so wird argumentiert, die E n t l o h n u n g nach dem Lei- stungsprinzip, die materielle Interessiertheit und die Chancen für Aufstieg und relative Privilegierung schaffen unterschiedliche Interessenlagen und so etwas wie eine produktive B i n n e n k o n k u r r e n z zwischen Individuen und G r u p p e n , die ingesamt neue produktive und kreative K r ä f t e freisetzen.

Nicht nur zwischen Arbeiterklasse und Intelligenz, sondern auch innerhalb dieser bei- den großen Gruppen zeichnen sich also Differenzierungsprozesse ab. B e l w e und K l i n - ger gehen sogar so weit, aus veränderten Arbeitsanforderungen, Qualifika- tions- und Tätigkeitsprofilen das Auseinanderdriften der Arbeiterklasse in ei- ne »Rationalisierungselite« und eine Art »neuem Proletariat« der weniger Qua- lifizierten festzustellen bzw. zu prognostizieren.5 D i e verstärkte B e t o n u n g des Leistungsprinzips erfordert auch die Entwicklung einer »neuen Arbeitskultur«.6 Er- h ö h t e Leistungs- und Qüalitätsanforderungen, Rationalisierung und A u t o m a - tisierung, neue T e c h n o l o g i e n und Leitungsmethoden fordern v o n den W e r k - tätigen veränderte Einstellungen und Verhaltensweisen. D i e geringere Pro- duktivität der eingesetzten Arbeitskräfte im Vergleich zur Bundesrepublik

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rührt u. a. daher, daß das A r b e i t s t e m p o und die Ausschöpfung des kollektiven und individuellen Arbeitspotentials, die Arbeitsorganisation und die strikte A n w e n d u n g der Regeln einer » Ö k o n o m i e der Zeit« sich oft nicht auf einem Niveau befinden, das den neuen Anforderungen gerecht wird. D a s h o h e M a ß an sozialer Sicherheit, eine weithin quasi garantierte Prämienzahlung; ein weit verbreiteter Mangel an M o t i v a t i o n für besonderen Einsatz und Innovation;

unzureichende materielle Anreize, die mit einem entsprechenden K o n s u m g ü - terangebot einhergehen m ü ß t e n ; bürokratische B e v o r m u n d u n g und fehlende Spielräume für Eigeninitiative und Verantwortung, die wiederum zu G l e i c h - gültigkeit und einem A b s c h i e b e n von V e r a n t w o r t u n g nach o b e n führen; weit verbreitete Ineffizienz in den ArbeitsaflTäufen und mangelnde Qualität der Produktion, z. B. weil es an Material, T r a n s p o r t m ö g l i c h k e i t e n oder Arbeits- kräften fehlt, daraus resultierender Leerlauf, V e r s c h w e n d u n g und m e h r oder weniger erzwungene ( o d e r auch gern h i n g e n o m m e n e ) B u m m e l e i am Arbeits- platz, die wiederum teilweise ein »langsameres« und angenehmeres Arbeiten ermöglicht, aber den Leistungsorientierten und Innovativen nicht befriedigt bzw. fördert; insbesondere auch der oft nicht qualifikationsgerechte Einsatz von Arbeitskräften ( m a n schätzt ca. 2 5 % ) ; ferner solche »pathologischen« Er- scheinungen wie A l k o h o l i s m u s , Wirtschaftskriminalität und in die »zweite Ö k o n o m i e « umgelenkte Energien und Ressourcen - all das steht im W i d e r - spruch zu den Postulaten nach individuellen und kollektiven Spitzenleistun- gen, nach Durchrationalisierung aller ö k o n o m i s c h e n Abläufe, d. h. z. B. auch der Freisetzung von Arbeitskräften, vor allem aber der schnellen Innovation im Produktionsbereich. D i e s e neuen Herausforderungen dürften sich stark auswirken auf die in der G e s c h i c h t e der D D R gewachsenen System- und schichtspezifischen Sozialbeziehungen am Arbeitsplatz, in der Brigade und im B e t r i e b - j e n e spezifische M i s c h u n g aus effizienter K o o p e r a t i o n und augen- zwinkerndem laissez-faire, aus echter Solidarität und Stress-Gemeinschaft in der Planerfüllung; aus-geschickter Selbstpräsentation nach o b e n und reali- stisch-zynischem B e w u ß t s e i n drinnen, aus egalitärer Kameradschaft und herr- schaftlicher Durchdringung (wie es allerlei Auflagen, K o n t r o l l e n und norm- bzw. karrierebewußte Parteimitglieder w o l l e n ) , aus persönlichen Freund- schaften und - gelegentlich libertärer und alkoholbeschwingter - Geselligkeit.

D i e s e Lebenswelt, hier pointiert und verallgemeinernd zugleich skizziert, k ö n n t e durch die M e c h a n i s m e n strikt effizienzorientierter Arbeitsorganisa- tion und die B e t o n u n g individueller Leistung in vielerlei Hinsicht in Frage ge- stellt werden, o h n e daß die R i c h t u n g dieser langfristig vermutlich tiefgreifen- den Änderungen jetzt schon erkennbar wären.

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D o c h wächst in der D D R , insbesondere im Bereich der evangelischen K i r - che, zugleich auch die K r i t i k an extremer Leistungsorientierung, an Ö k o n o - mismus und K o n s u m i s m u s , am W a c h s t u m s - und Zahlenfetischismus der staatlichen Planer, an einem T e c h n o k r a t e n t u m und an Wertorientierungen, die sich i m m e r m e h r dem kapitalistischen Vorbild nähern, auch wenn die zu- grundeliegenden Strukturen und Zielsetzungen ganz andere sind. I m m e r stär- ker auch rücken die ökologischen Folgeprobleme sichtbar und fühlbar für alle Bürger, verstärkt durch öffentliche Diskussion und organisierte Aktivitäten, in den Vordergrund. O b j e k t i v und subjektiv stellt sich immer nachdrücklicher die Frage, worin der spezifisch sozialistische Charakter und die Überlegenheit, der Industriegesellschaft der D D R gegenüber dem westlichen Modell bestehe.' Insgesamt k ö n n e n die Entwicklungstendenzen und W i d e r s p r ü c h e des D D R - S o z i a l i s m u s in diesen Problemfeldern zunächst durch den Grundwider- spruch zwischen bürokratischer Herrschaft und der Entfaltung aller Produk- tivkräfte charakterisiert werden. Bürokratische Fesseln der Wirtschaftslen- k u n g und -Organisation h e m m e n Initiativ- und Verantwortungsbereitschaft, Innovationsfähigkeit und kreative Spitzenleistungen. D e r Anstieg des Lebens- standards, die bessere Befriedigung der K o n s u m a n s p r ü c h e und h ö h e r e Sozial- leistungen, z . B . für Rentner, stehen heute im Widerspruch zu den Lasten der Rüstung, der ökologischen Folgen expansiver Industrialisierung, einer unzu- reichenden Effizienz und Kapitalkraft, eines Mangels an qualifizierten Arbeits- kräften in bestimmten Sparten und wachsender externer Abhängigkeit nach O s t und W e s t . D i e Annäherung der K l a s s e n und Schichten, das Streben nach G l e i c h h e i t steht im Widerspruch zu neuen sozialen Ungleichheiten, die als funktional notwendig und daher zum T e i l als wünschenswert dargestellt wer- den. D a m i t steht nicht nur die Realisierung der sozialistischen Zielperspektive in Frage, sondern auch diese Ziele selber.

III. Herausforderung Nr. 2: Demokratisierung und kritische Öffentlichkeit In den letzten beiden Jahrzehnten hat sich das Herrschaftssystem der DDR zwar nicht in seinen Kernstrukturen verändert, wohl aber in der Art und Weise der Machtausübung, in einer begrenzten Öffnung der Herrschaftsapparate hin zur Gesellschaft, in einer kon- trollierten Ausweitung von Partizipationsmöglichkeiten für die Bürger. Schließlich ist auch ein Prozeß der politischen Differenzierung formeller und informeller Aktivitä- ten verschiedener A k t e u r e zu beobachten.

D i e D D R war und ist kein von der Partei oder der Obrigkeit totalitär-per- fekt-kontrollierter Staat, heute weniger denn j e . G e w i ß , die M a c h t der »Sicher-

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heitsorgane« (oder besser der mindestens potentiellen R e p r e s s i o n ) ist auch im J a h r 1987 kaum g e b r o c h e n , und nach wie vor dient der Z w a n g der vorbeugen-

den Einschüchterung und der Absicherung des Herrschaftssystems und seiner Trägergegen offene politische Opposition. D o c h die allgemeine Rechtssicher- heit im Alltag verstärkt sich, die repressiven Züge bürokratischer Herrschaft schwächen sich allmählich ab, bleiben aber weiter deutlich spürbar. Mauer und Reisebeschränkungen, ein politisches Strafrecht mit zahlreichen Generalklau- seln, eine politisch gesteuerte J u s t i z und vielfältige Sanktionsmöglichkeiten der Mächtigen gegenüber u n b o t m ä ß i g e n Bürgern bleiben wichtige K e n n z e i - chen des Herrschaftssystems.

Ü b e r all dem darf man j e d o c h nicht vergessen, daß Partei und Staat der G e - sellschaft und dem Bürger nicht nur eirjfach befehlen k ö n n e n , daß sie a u f ihre Mitwirkung, auf ihre Fähigkeiten und ihr Spezialwissen, a u f eine nicht nur er- zwungene Loyalität, sondern a u f ein~Stück Überzeugtsein und Identifikation mit positiven Aspekten des D D R - S o z i a l i s m u s angewiesen sind. Experten und Facheliten werden verstärkt an politisch-administrativen Entscheidungspro- zessen beteiligt (»konsultativer Autoritarismus« nannte dies Peter Chr. Ludz).

D i e Partei übt zwar weiter ihre Vorherrschaft in Staat und Gesellschaft aus, be- dient sich jedoch flexibler K o n t r o l l m e t h o d e n , fungiert stärker als K o o r d i n a - torin und Vermittlerin vielfältiger sozio-ökonomischer und institutioneller In- teressen, und versucht, den Informationsfluß von unten nach o b e n zu verbes- sern. S e h r begrenzt haben sich auch die Partizipationschancen der Bürger in den letzten J a h r e n erhöht: Lebhaftere und offenere Diskussion im Betrieb, in den Basiseinheiten der Gewerkschaften, der Partei(en) und einzelner Massenorga- nisationen; in den k o m m u n a l e n und regionalen Volksvertretungen, ihren K o m m i s s i o n e n und Aktivs; i m m e r größere B e d e u t u n g erlangt das Eingabe- und Beschwerdewesen. Umweltaktivitäten sollen in der im Frühjahr 1980 ge- gründeten »Gesellschaft für N a t u r und Umwelt« im K u l t u r b u n d der D D R zugleich angeregt und kanalisiert werden. W i e d e r b e l e b t wurde die »Vereini- g u n g der gegenseitigen Bauernhilfe« ( V d g B ) seit Herbst 1982. H e u t e ist sie als alte und zugleich neue »sozialistische Massenorganisation« (»politische Mas- senarbeit in den Dörfern«) verstärkt repräsentiert in den Volksvertretungen ( E r h ö h u n g der Mandate a u f k o m m u n a l e r E b e n e um 7 0 % ; Schaffung einer neuen Fraktion in der V o l k s k a m m e r mit 14 S i t z e n ) . D e r Aktivierung des ge- sellschaftspolitischen Engagements dient auch eine gewisse B e l e b u n g der Ba- sisaktivitäten der vier anderen Parteien neben der S E D . N e b e n »alten« Formen der politischen Mobilisierung von oben und einer neuen aktiveren, aber im- m e r n o c h sehr integrativen Partizipation von unten haben sich jedoch Ansätze zu einer informellen kritischen Öffentlichkeit verstärkt entwickelt, nicht

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zuletzt aufgrund zahlreicher in F o r m und Inhalt neuer Aktivitäten vor allem unter dem D a c h der evangelischen K i r c h e . Diese E n t w i c k l u n g wurde g e w i ß nicht von der S E D initiiert und zielbewußt gesteuert, vollzog sich aber in ei- nem letztlich von der Partei gesetzten politischen R a h m e n .

In den letzten beiden J a h r z e h n t e n k o n n t e und wollte die D D R - F ü h r u n g i m m e r weniger verhindern, daß die Bürger das westliche Fernsehen intensiv nutzten, und Millionen von Besuchern hin und her für den freimütigen Aus- tausch über das Leben und die S y s t e m e in O s t und W e s t sorgten. Seit Beginn der 80er J a h r e verstärkt sich j e d o c h die kritische Reflexion (das ist nicht iden- tisch mit offener politischer O p p o s i t i o n ) über die gesellschaftliche Ent- wicklung der D D R . N e b e n m e h r oder weniger gut organisierten G r u p p e n sind es vor allem die privaten Freundeskreise, die zahlreichen informellen Zir- kel und Diskussionsrunden, in denen vielleicht kritischer als früher über Soll und H a b e n des Sozialismus in der D D R nachgedacht wird. D i e evangelische K i r c h e als »Kirche im Sozialismus« stellt nicht etwa die führende R o l l e der Par- tei oder den sozialistischen Staat in Frage, sondern vielmehr einzelne, wenn auch sehr gewichtige Erscheinungen des öffentlichen Lebens in der D D R . Eine organisatorisch zwar schwache, aber für das öffentliche D e n k e n einflußreiche Friedensbewegung unter ihrem D a c h ; kritische Anfragen, ob denn der Fa- schismus in der D D R wirklich angemessen bewältigt sei; die Aktivitäten und Schriften ökologisch interessierter und feministisch orientierter G r u p p e n ; die nicht leicht kanalisierbaren Impulse informeller subkultureller K l e i n s z e n e n und einer i m m e r vielfältigeren J u g e n d k u l t u r , die sich vom offiziell Vorgesehe- nen fernhält; eine Literatur, die die Gesellschaft i m m e r realistischer, aber si- cherlich nicht so optimistisch wie die offizielle K u n s t d o k t r i n und vorwiegend in der Perspektive des Subjektiv-Individuellen reflektiert, oder aber sich auch ganz von der Gesellschaft zurückzieht in neuer ästhetischer Freiheit8. D i e s e neuen Entwicklungen in der politischen Kultur der DDR, eine sich allmählich entwickelnde kritische Öffentlichkeit, mehr oder weniger geduldete »autonome« Aktivitä- ten, gleichsam unterhalb und neben dem, was den Bürgern täglich aus den staatlich lizenzierten Massenmedien e n t g e g e n k o m m t , stellen ein wichtiges M o m e n t des politischen W a n d e l s in der D D R im letzten J a h r z e h n t dar. N i c h t nur die Synoden der evangelischen Landeskirchen, sondern z u n e h m e n d auch die einzelnen Bürger artikulieren Unzufriedenheit über den Mangel an Freizü- gigkeit und Freiheit des politischen Meinungsstreits, über die Militarisierung der Gesellschaft und die unzureichende »Bewältigung« des Faschismus, über verdrängte ökologische Gefahren oder gar K a t a s t r o p h e n , über bürokratische B e v o r m u n d u n g oder mangelnde K o n t r o l l e und Transparenz der Entschei- dungen des Herrschafts- und Verwaltungsapparats, und i m m e r noch und im-

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me r wieder: über Versorgungsmängel, über eine mangelnde Infrastruktur für die Lösung von Alltagsproblemen, über eine allzu sehr politisch gesteuerte Erziehung, über den Mangel an Ehrlichkeit, über organisierte Langeweile und Ritualisierung im öffentlich K u n d g e g e b e n e n . D i e s alles ist g e w i ß keine Pro- testbewegung oder gar die Formierung einer breiten politischen O p p o s i t i o n ; aber i m m e r mehr artikuliert sich ein bisher weitgehend latentes Potential der Unzufriedenheit und die S u c h e nach Alternativen. I m m e r selbstbewußter üben Bürger eine realistische, keineswegs einfach antisozialistische oder gar prokapitalistische K r i t i k an der gesellschaftlichen E n t w i c k l u n g in der D D R , solidarisch mit d e m Land im ganzen und an b e s t i m m t e n sozialistischen Grundwerten und -prinzipien orientiert - w o m ö g l i c h ( o b j e k t i v ) auf dem W e g e , den bürokratischen Sozialismus in einen demokratischen umzuwan- deln, mit dem frischen W i n d der sowjetischen R e f o r m p o l i t i k im R ü c k e n . D o c h in puncto D e m o k r a t i s i e r u n g gehen die sowjetischen R e f o r m k o n z e p - te qualitativ einen entscheidenden Schritt über das hinaus, was auch die S E D als ihr Ziel proklamiert: die Weiterentwicklung sozialistischer Demokratie. Auch der politischen Führung der D D R k o m m t es darauf an, Eigenverantwortung und -initiative zu stärken, die Qualifikationen der M e n s c h e n besser zu nutzen, ihre Mitwirkung zu stimulieren und paternalistisch-fürsorglich auf ihre W ü n - sche und Interessen einzugehen. A b e r für die S E D bleibt alles B e m ü h e n u m1 sozialistische D e m o k r a t i e eingebettet in das umfassendere B e m ü h e n um Effi- zienzsteigerung und Herrschaftssicherung, um Legitimität und vorbeu- gendes K r i s e n m a n a g e m e n t . Einer umfassenden Demokratisierung in der D D R stehen nicht nur die erwähnten strukturellen Hindernisse entgegen, sondern auch, mittlerweile t i e f verankert in der politischen K u l t u r , ein hohes Maß politischer Entfremdung, der Entpolitisierung und Apathie, des stillschwei- genden Sichabwendens v o m politischen System, der A b w e h r eines Überma- ßes an Propaganda und Mobilisierung, der übermäßigen Inanspruchnahme von o b e n . E b e n s o ist man skeptisch oder zynisch gegenüber b l o ß verbalen äußerlichen Loyalitätsbekundungen. Vorherrschend ist aber vor allem ein aus- geprägter Privatismus, d.h. die Orientierung a u f Familie, Freunde und infor- melle Aktivitäten, die insgesamt zu dem charakteristischen »doppelten B e - wußtsein«, dem Neben-, G e g e n - und zugleich auch Ineinander von öffentlich und privat Gesagtem und G e d a c h t e n führen. Dieser nicht nur für die D D R charakteristische W i d e r s p r u c h der politischen K u l t u r im bürokratischen S o - zialismus dürfte in der T a t nur aufzuheben sein, w e n n es der S E D - F ü h r u n g gelingt, durch eine wirkliche Demokratisierung aller Lebensbereiche, durch die volle Gewährleistung der Menschenrechte und der Rechtsstaatlichkeit die Bürger - in einem m e h r oder minder entwickelten und organisierten politi-

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sehen Pluralismus - so aktiv werden zu lassen, daß sie sich das Öffentliche wie- der aneignen, die M a c h t ihnen nicht m e h r als ein vor allem Fremdes gegen- übertritt.

I V . Herausforderung Nr. 3: Die Wahrung der sozialistischen Zielperspektive und das Ringen um Legitimität

D i e parteioffizielle Ideologie des Marxismus-Leninismus fungiert nicht mehr nur als Mobilisierungs-, K a m p f - und K o n t r o l l i n s t r u m e n t , sondern dient heute stärker der allgemeinen Wertorientierung, der Gesellschaftsdeutung und poli- tischen Rechtfertigung. Rationale M o m e n t e , z . B . das der Wissenschaftlich- keit, für die Anleitung zum »Aufbau des K o m m u n i s m u s « , weniger aber die utopischen M o m e n t e werden hervorgehoben. Einerseits dürfte sich w o h l ein bestimmter K e r n b e s t a n d oder »Bodensatz« von sozialistischen bzw. partei- ideologischen D e n k m u s t e r n , N o r m e n , Begriffen und A n n a h m e n als Raster der W a h r n e h m u n g und als W e r t s y s t e m etabliert haben. Politisch gehört dazu die grundsätzliche Akzeptanz eines nicht-kapitalistischen Wirtschafts- und Gesellschaftssystems, der paternalistischen Fürsorge des Staates und nicht zu- letzt der Stolz auf das Erreichte wie auf die relative Spitzenstellung der D D R im östlichen Lager. D i e B ev öl ke ru ng hat im Z u g e politischer Sozialisation und angesichts unleugbarer Leistungen (auch der Führenden) einzelne positive A s p e k t e des Systems i m m e r stärker akzeptiert. B e s t i m m e n d dafür ist oft weni- ger innere Überzeugung als die M a c h t der Tatsachen und Alltagserfordernisse, Gruppensolidarität und der W u n s c h nach mindestens partieller Identifikation mit der eigenen Arbeit und Leistung. Ein begrenzter Grundkonsens trägt als »Mas- senloyalität« ( n i c h t als demokratische Legitimität!) eine Herrschafts- und Ent- wicklungspraxis, die zunehmend weniger a u f Z w a n g angewiesen ist.9 Legitima- tionsgrundlagen sind w o h l vor allem ö k o n o m i s c h e und soziale Leistungen, die Identifikation mit dem eigenen Land und das internationale Prestige, sozusa- gen ein g e b r o c h e n e r und halbierter Patriotismus im geteilten Deutschland.

Die Verarbeitung der Ideologie und des Alltags in politischen Einstellungen und Ver- haltensweisen ist gekennzeichnet durch vielfältige Widersprüche. Im Vordergrund steht der W i d e r s p r u c h zwischen ideologischem Anspruch und parteioffiziel- lem Selbstverständnis der gesellschaftlichen Entwicklung einerseits und den gesellschaftlichen Realitäten und tatsächlichen Verhaltensweisen von Herr- schenden und Beherrschten andererseits. D e r marxistisch-leninistischen Ideo- logie mangelte es in der D D R i m m e r an theoretischer Überzeugungskraft und Glaubwürdigkeit in der Praxis. Sie erzeugte nicht nur in ihren Inhalten, son-

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d e m auch durch die A r t ihrer Vermittlung eher Skepsis und Abwehr, vor allem gegenüber allzu schönfärberischer Propaganda und befohlenen Schu- lungen (»Rotlichtbestrahlung«). D a s W e g h ö r e n ist mindestens so verbreitet wie das H i n h ö r e n . K e n n z e i c h n e n d für das Alltagsverhalten vieler M e n s c h e n ist ein »heimlicher Lebensplan«, der eine Mischung aus K o n f o r m i t ä t nach außen, punktuellem oder partiellem Überzeugtsein, gespaltenen Gefühlen oder ge- langweilter K e n n t n i s n a h m e des offiziell Verlautbarten besteht. D e r Bürger be- findet sich objektiv und meist auch subjektiv, b e w u ß t oder nicht, in perma- nenter Auseinandersetzung mit dem öffentlich Behaupteten und Geforderten - und dies auch n o c h dort, wo man verneint oder im Privaten anderes sucht.

Ein zweiter Widerspruch, der zunehmend wichtiger wird: sich abgrenzen oder sich öffnen, ideologischer K l a s s e n k a m p f oder D i a l o g über die ideologi- schen Grenzen hinweg? Für einige J a h r z e h n t e war diese Alternative ein unauflösbarer Widerspruch in der Politik, im Verhalten der offiziellen Reprä- sentanten der D D R und in der Definition von friedlicher K o e x i s t e n z , die aus- drücklich den ideologischen Bereich ausschloß. D i e eigene Identität, schwie- rig genug zu definieren im geteilten Deutschland, sollte vornehmlich durch Abgrenzung, durch demonstrierte Überlegenheit und durch kämpferische K r i t i k in der nationalen und internationalen Klassenauseinandersetzung so- wie in der wirtschaftlichen Systemkonkurrenz erreicht werden. D o c h in den letzten beiden J a h r e n vollzieht sich hier ein wichtiger W a n d e l , der in dem ge- meinsamen Papier von SED und SPD vom September 1987 seinen markantesten, fast sensationellen Ausdruck fand. Dieses Papier ist zweifellos ein Durchbruch für einen konstruktiven D i a l o g der Bürger und der politischen Eliten in beiden deutschen Staaten. B e i d e Seiten verzichten keineswegs a u f ihre grundsätzli- chen gesellschaftspolitischen Überzeugungen, auf ihr Verständnis von D e m o - kratie und friedlichem Fortschritt. A b e r beide Seiten sehen angesichts einer drohenden Nuklearkatastrophe und der Sinnlosigkeit weiterer Rüstung, an- gesichts der vielfältigen unerfüllten wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Bedürfnisse in beiden Ländern, in O s t und W e s t , ja in der ganzen W e l t , die Notwendigkeit, die K o o p e r a t i o n und den Dialog im R e s p e k t voreinander zu intensivieren. D a b e i wird d e m anderen System grundsätzlich Reform- und Friedensfähigkeit, die Fähigkeit zur rationalen Auseinandersetzung zuerkannt und die konstruktive Fortentwicklung gut nachbarschaftlicher Beziehungen auf allen Ebenen angestrebt.

D i e D D R scheint auch im ideologischen und kulturellen Bereich, im prakti- schen U m g a n g mit ihren Bürgern wie mit ihren G e g n e r n pragmatischer und flexibler zu werden. Sie öffnet sich jenen T e n d e n z e n der Moderne, zumal in solchen Bereichen wie M u s i k , M o d e , Unterhaltung und bestimmten K u n s t -

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und Architekturformen, die nicht m e h r einfach als Produkte des Kapitalismus abqualifiziert werden k ö n n e n . D e n K l a s s e n k a m p f transzendierende, allgemei- ne Überlebensziele und -notwendigkeiten der Menschheit gewinnen für die Sicht auch grundlegender politischer P r o b l e m e und ideologischer K o n f l i k t e zunehmend an Bedeutung. D i e s wirkt sich fruchtbar in neuen Ansätzen zu einem systemübergreifenden D i a l o g aus.

Überblicken wir noch einmal das skizzierte Spektrum von Entwicklungs- tendenzen und Widersprüchen. D i e zahlreichen ungelösten Strukturproble- me und Zielkonflikte, die vielfältigen F o r m e n politischer Entfremdung, die D y n a m i k sich i m m e r deutlicher artikulierender Unzufriedenheit, brüchig ge- wordene K o n t r o l l - und Integrationsmechanismen, aber auch die N o t w e n d i g - keit, Leistungsmotivation zu schaffen und steigende materielle A n s p r ü c h e zu befriedigen, werfen die Frage auf: Wie kann dieser bürokratische Sozialismus mit sei- nen Tendenzen zu ideologischem Pragmatismus und Technokratentum, zur Befriedung durch paternalistische Fürsorgepolitik und allmähliche Systemöffnung eine spezifisch so- zialistische Perspektive und - im Kontext der Geschichte und Teilung Deutschlands - sei- ne eigene Identität (weiter-)entwickeln, und damit insgesamt »als System« tatsächlich überlegen, mindestens aber attraktiver für seine Bürger werden? I m m e r stärker wird der G l a u b e an den wissenschaftlich-technischen Fortschritt in Frage gestellt.

G e r t - J o a c h i m G l a e ß n e r stellt dazu fest:

Für ein Gesellschaftssystem, an dessen Wiege die Vorstellung gestanden hat, be- waffnet mit der wissenschaftlichen Ideologie der Arbeiterklasse seien die Gesetze von Natur und Gesellschaft erkennbar und beherrschbar, und das diesen Anspruch bis heute nicht aufgegeben hat, ist dies eine fatale Situation. Relevante Gruppen der von ihr künstlich geschaffenen »sozialistischen« Intelligenz haben begonnen, sich von der tradierten Fortschrittsgläubigkeit des Marxismus-Leninismus zu verab- schieden. Dies geschieht in einer historischen Situation, in der zwei Gewiß- heiten der marxistisch-leninistischen Parteien bereits erschüttert sind: die, daß dem Sozialismus (sowjetischer Typus) weltweit die Zukunft gehört und die, daß sich der »reale Sozialismus« als das ökonomisch leistungsfähigere System erhalten werde. Mehr noch: Selbst das Ziel der kommunistischen Gesellschaft des materiel- len Überflusses erscheint angesichts der schon heute erkennbaren ökologischen Folgen einer Strategie, die auf die Entfesselung der materiellen Produktivkräfte setzt, nicht mehr als unhinterfragtes verheißungsvolles Z i e l . '0

V. Perspektiven des Sozialismus - Sozialismus ohne Perspektive?

Bisher k o n n t e n nur einige Entwicklungstendenzen und W i d e r s p r ü c h e ange- deutet werden; schon gar nicht kann dieser Beitrag eine Bilanz von Soll und Haben des sog. realen Sozialismus in der D D R erstellen. G e r a d e wenn man

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meint, b e s t i m m t e M o m e n t e des Herrschaftssystems und der gesellschaftli- chen Entwicklung in der D D R kritisieren zu müssen, m u ß man sich der Gefah- ren eines solchen Urteils von außen, aus der eigenen Systemperspektive heraus, bewußt sein:

1. Vielfach wird die D D R viel zu wenig historisch und ideologisch, materiell und kulturell aus ihren eigenen Voraussetzungen und Ansprüchen, aus ih- rem eigenen Verständnis und eigenen W i d e r s p r ü c h e n heraus verstanden.

2. Oft werden die relativen Leistungen der Bürger und der politisch Verant- wortlichen in einer b e s t i m m t e n historischen, ö k o n o m i s c h e n und geogra- phischen Situation, abhängig von, der S o w j e t u n i o n und in vieler Hinsicht von vornherein im N a c h t e i l gegenüber dem größeren Bruder im W e s t e n , zu wenig anerkannt, der berechtigte Stolz vieler D D R - B ü r g e r auf das trotz vieler W i d r i g k e i t e n drinnen und draußen, von ihnen Geleistete nicht recht verstanden.

3. Allzu vorschnell wird oft die Überlegenheit des eigenen Systems in kurz- schlüssigen Systemvergleichen festgestellt. Oft fehlt es da nicht nur an In- formationen, sondern auch an m e t h o d i s c h e m B e w u ß t s e i n , wie unter- schiedlich die quantitativ-statistische Erfassung h ü b e n und drüben ist, wie k o m p l e x die Indikatoren und M a ß s t ä b e in einem solchen Vergleich sein müssen, wie schwierig die unterschiedlichen W e r t o r i e n t i e r u n g e n und G e - sellschaftsverständnisse in O s t und W e s t einfach gegeneinander gehalten bzw. zur Urteilsgrundlage g e m a c h t werden k ö n n e n .

W e r über die Perspektiven des Sozialismus in der D D R nachdenkt, der m u ß sich zunächst einmal die faktischen Ergebnisse und Potentiale der bürokratisch-so- zialistischen Umgestaltung dieser nachfaschistischen Gesellschaft in Erinnerung rufen:

- das relativ h o h e M a ß an sozialer und ö k o n o m i s c h e r Gleichheit, die Chan- cengleichheit von J u n g e n und M ä d c h e n , von Arbeiter- und Bauernkindern gegenüber anderen für Bildung und Aufstieg ( m i t vor allem politisch-ideo-

logisch motivierten A u s n a h m e n und illegitimen Privilegien);

- das h o h e M a ß an sozialer und Arbeitsplatzsicherheit;

- die umfangreichen, oft kostenlos in Anspruch g e n o m m e n e n , aber kollektiv finanzierten »Infrastrukturleistungen« des Staates, die Lebensstandard und -qualität in der D D R heute wesentlich m i t b e s t i m m e n ;

- die unbestreitbaren Erfolge in der Gleichberechtigung der Frauen, vor allem in materiell-beruflicher Hinsicht, auch wenn traditionelle F o r m e n ge- schlechtsspezifischer Arbeitsteilung, Berufswahl und Verteilung politi- scher M a c h t n o c h fortdauern;1 1

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- neue soziale und mindestens ansatzweise sozialistische Einstellungen und Verhaltensweisen im Arbeitskollektiv, im nachbarschaftlichen Zusammen- leben und in spezifischen F o r m e n der Solidarität, wenn auch oft als R e a k - tion a u f »Druck von oben«; die g r o ß e Bedeutung, die die meisten M e n s c h e n Freundschaften und der M ö g l i c h k e i t zum offenen, intimen Gespräch, der Ehrlichkeit und Aufrichtigkeit beimessen - in einer Gesellschaft, in der das H a b e n zwar auch sehr wichtig ist, aber doch auf strukturelle G r e n z e n stößt;

- eine ö k o n o m i s c h e sowie wissenschaftlich-technische Leistungsfähigkeit, die bei allen Unzulänglichkeiten in der Organisation und Praxis des W i r t - schaftssystems d e n n o c h einen relativ h o h e n Standard i m R G W erreicht hat - vielleicht nicht h o c h genug, um in Zukunft wirklich konkurrenzfähig ge- genüber d e m kapitalistischen W e s t e n zu sein;

- das Potential der marxistischen T h e o r i e zur kritisch-dialektischen Du r c h - dringung gesellschaftlicher Realität und die Entwicklung eines sozialisti- schen W e r t e h o r i z o n t s - zugleich innerhalb und ganz im Gegensatz zur dog- matisierten, oft zum verbalen Ritual v e r k o m m e n e n parteioffiziellen Ideolo- gie und Propaganda;

- nicht zuletzt aber in den l e t z t e n j a h r e n : die sich intensivierende Bereitschaft zu einer konstruktiven Entspannungs- und Friedenspolitik, zu einer Politik des Dialogs und der K o o p e r a t i o n , die erste Erfolge zeitigt.

Diese - wie ich meine - positiven Potentiale k ö n n e n hier nur pauschal und stichwortartig angedeutet werden. Sie sind G r u n d genug, dem anderen deut- schen Staat und seinen Bürgern bei aller berechtigten K r i t i k doch nicht den nötigen R e s p e k t zu versagen und ihre W i d e r s p r ü c h e noch besser verste- hen zu lernen, um dort, wo gemeinsame Interessen sichtbar werden, in K o m - munikation und K o o p e r a t i o n anknüpfen zu k ö n n e n .

W e l c h e Perspektiven sich für den Sozialismus in der D D R a u f der Basis die- ser Potentiale im K o n t e x t nationaler und internationaler Entwicklungen auf- tun, ist k a u m vorhersagbar. Hier stoßen Sozialwissenschaftler an ihre G r e n z e n und vermögen - zwar informiert und begründet, doch letztlich o h n e Über- sicht über die Fülle sich ständig verändernder Einflußfaktoren - nur zu speku- lieren. G l e i c h w o h l , der politisch Interessierte und der wissenschaftlich neugie- rige Analytiker sollte sich nicht ganz einer Aussage darüber enthalten, welche Entwicklungen er für wahrscheinlich hält, welchen Perspektiven er k a u m Aussicht gibt.

Mit allem V o r b e h a l t also lasse ich mich auf solche Vermutungen ein. Ich kann mir für die Zukunft vier »Szenarien« der Entwicklung in der DDR vorstellen:

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