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Bericht und Meinung DER KOMMENTAR
Idealzustand
nur im Sozialismus?
Das „Blaue Papier", die Gesund- heits- und sozialpolitischen Vor- stellungen der deutschen Ärzte- schaft, macht Gesundheitsfunktio- nären in der DDR anscheinend doch einige ideologische Kopf- schmerzen. Dies zeigte sich Ende vergangenen Jahres auf einem Symposium der Akademie für ärzt- liche Fortbildung der DDR zum Thema „Sozialismus — Medizin —
Persönlichkeit".
Im Einführungsvortrag beschäftigte sich Dozent Dr. Horst Spaar unter anderem mit der Formulierung in der Präambel zur Satzung der Weltgesundheitsorganisation, nach der Gesundheit als „der Zustand des vollständigen körperlichen, geistigen und sozialen Wohlbefin- dens" zu betrachten ist. Dr. Spaar erläuterte, dies sei eine „Orientie- rung", ein „Idealzustand"; man sollte diese Formel nicht mit einer umfassenden wissenschaftlichen Definition des Gesundheitsbegriffs verwechseln, wie sie für eine Theo-
rie der Medizin unerläßlich sei.
Den Idealzustand der Einheit von körperlichem, geistigem und sozia- lem Wohlbefinden bezeichnete der Vortragende ausdrücklich als reali- stisches Ziel der kommunistischen Gesellschaft. Man mag dem nicht widersprechen. Auffällig ist nur im- mer wieder der Anspruch der Aus- schließlichkeit, der in solchen Äu- ßerungen erhoben wird. Als ob kör- perliches, geistiges und soziales Wohlbefinden nicht das Ziel jeder Gesellschaft und aller Menschen wäre!
Aber dann kommt der ideologische Purzelbaum. Dozent Dr. Spaar führte aus, Gesundheitspolitiker kapitalistischer Länder, darunter auch der Bundesrepublik Deutsch- land, versuchten in der letzten Zeit, den Wert dieser in die Zukunft wei- senden Orientierung der Weltge-
sundheitsorganisation in Zweifel zu ziehen. So habe sich der 77. Deut- sche Ärztetag in seinen gesund- heits- und sozialpolitischen Leitsät- zen ausdrücklich von der Definition der Weltgesundheitsorganisation distanziert, weil sie der „Lebens- wirklichkeit nicht gerecht wird".
Das „Blaue Papier"
wird falsch zitiert
Es ist an dieser Stelle nötig, auf den genauen Wortlaut des „Blauen Papiers" zurückzugreifen, in dem dies näher erläutert wird. Es heißt dort: „Dieser Gesundheitsbegriff wird der Lebenswirklichkeit jedoch nicht gerecht. Gesundheit ist die aus der personalen Einheit von subjektivem Wohlbefinden und ob- jektiver Belastbarkeit erwachsende körperliche und seelische, indivi- duelle und soziale Leistungsfähig- keit der Menschen. Der Mensch kann mehr oder weniger leistungs- fähig und belastbar sein, er kann sich mehr oder weniger wohlfüh- len; trotz objektiv nicht — oder noch nicht — krankhafter Befunde kann er sich subjektiv krank, trotz objektiv krankhafter Befunde sub- jektiv gesund befinden. Es gibt ein weites Feld fließender Übergänge zwischen Gesundheit und Krank- heit."
Von dieser Erläuterung im „Blau- en Papier" findet sich in dem Vortrag von Dr. Spaar natürlich kein Wort. Er kann es sich wahr- scheinlich leisten, auf ein vollstän- diges Zitat zu verzichten, weil er si- cher sein kann, daß kaum einer seiner Zuhörer das „Blaue Papier"
in die Hand bekommen hat und die Unvollständigkeit — also Verfäl- schung — des Zitierens daher nie- mandem auffallen wird. Zur Be- gründung, warum Gesundheitspoli- tiker in Westdeutschland finden, die Definition der Weltgesundheits-
organisation werde „der Lebens- wirklichkeit nicht gerecht", dient ihm zunächst ein aus anderer Quelle stammendes, aus dem Zu- sammenhang gerissenes Zitat des Hauptgeschäftsführers der Bundes- ärztekammer, J. F. Volrad Deneke, wonach der Arzt überfordert wer- de, weil er nun nicht mehr nur das körperliche, sondern auch das gei- stige und soziale Wohlbefinden zu garantieren und notfalls wiederher- zustellen habe.
Aber weiter heißt es dann bei Dr.
Spaar: „Einen Zustand des voll- ständigen, physischen und sozialen Wohlbefindens als Ziel für alle Ge- sellschaftsmitglieder anzustreben und nicht nur in Abhängigkeit vom Vermögen für eine elitäre Gruppe zu verwirklichen, das bedeutet in der Endkonsequenz den Blick auf ein sozialistisches Gesellschafts- ziel. Das politische Konzept der etablierten Standesfunktionäre in der Bundesrepublik Deutschland verläuft aber genau entgegenge- setzt."
„Westdeutsche Standesfunktionäre sind gegen den Sozialismus"
Ach nee! Das hat der DDR-Ge- sundheitspolitiker immerhin aus dem „Blauen Papier" herausgele- sen: Die Standesfunktionäre in der Bundesrepublik Deutschland sind gegen den Sozialismus nach DDR- Muster.
Aber: Warum sie das sind, das ist eben mit ideologischer Engstirnig- keit anscheinend nicht zu begrei- fen. Der „Idealzustand" ist nämlich keineswegs nur im Sozialismus zu erreichen, sondern weit besser und dem Ideal näher in einer freiheitli- chen Gesellschaft. Und das wissen nicht nur die westdeutschen Stan- desfunktionäre, sondern vor allem auch die Bürger. Sie haben näm- lich darüber zu bestimmen. Und sie haben sich mit ihrem Wahlzettel immer wieder für das lange be- währte, hochentwickelte und wei- terentwicklungsfähige System der sozialen Sicherheit ausgespro-
chen. gb