DEUTSCHES ÄRZTEBLATT
S
eit Monaten wird in der Öffentlichkeit über Wege und Möglichkeiten der Sy- stemangleichung beider deut- scher Staaten diskutiert — viel- fach kontrovers, aber in den meisten Fällen sehr offen. Von ganz anderer Qualität ist hinge- gen der „Beitrag" des AOK- Bundesverbandes zur deutsch- deutschen Harmonisierung.Ausgesprochen diskret machten sich nämlich die Strate- gen der größten bundesdeut- schen Kassenart daran, umfas- sende „Formulierungsvorschlä- ge" für ein „Krankenversiche- rungs-Errichtungsgesetz" auf Papier zu bringen. Der Adressat der stillen Denkarbeit: das Bun- desarbeitsministerium. Doch wie das Leben nun mal spielt:
Das Papier war plötzlich doch in der Öffentlichkeit. Und wie!
Gäbe es einen Preis für die Kunst, sich aus dem Stand zwi- schen alle nur denkbaren Stühle zu setzen, der AOK-Bundesver- band wäre sicherlich erster Ti- telanwärter. Was nämlich in den
AOK-Politik
Die „Gunst der Stunde
AOK-Leitlinien nachzulesen ist, müssen nicht nur andere Kas- senverbände — allen voran die Ersatzkassen — als Schlag ins Gesicht empfinden, sondern auch die Kassenärzteschaft. Die vermeintliche Gunst der Stunde nutzend, reklamiert die AOK für sich nicht weniger als die Monopolstellung im Kranken- versicherungswesen der DDR — die Übernahme sämtlicher Sach- und Vermögenswerte des bishe- rigen Krankenversicherungsträ- gers inklusive. Polikliniken und Ambulatorien sollen an der Si- cherstellung der ambulanten Versorgung in direkten Ver- handlungen mit den Kassen (besser: der AOK) mitwirken,
ohne Beteiligung der KVen.
Neuniederlassungen sollen „vor allem" dort erfolgen, wo beste- hende Einrichtungen nicht klar kämen. Weitere Stichworte: Po- sitivliste für Arzneimittel, Wirt- schaftlichkeitsprüfungen bei Po- likliniken und Ambulatorien nur durch die Kassen, pauschalierte Vergütung.
Daß es massive Kritik hagel- te, kann nicht verwundern.
„Wenn die AOK derartige Überlegungen auch nur in Erwä- gung zieht, setzt sie ihre Glaub- würdigkeit gegenüber den Ver- tragspartnern auf seiten der Kassenärzte aufs Spiel", reagier- te der KBV-Vorsitzende Dr. Ul- rich Oesingmann unmißver- ständlich. Und: Die besondere Situation in der DDR darf we- der als Aufmarschplatz für eine vorgezogene Organisationsre- form der (West-)Krankenkassen noch als Hebel für eine sehr viel weiterreichende Systemverände- rung im Gesundheitswesen des künftigen geeinten Deutsch- lands mißbraucht werden. JM
D
ie deutsch-deutsche So- zialunion erfordert neben enormen Investitionen eine Menge organisatorischer und technischer Aufbauarbei- ten. Darauf stützt Bundesmini- ster Dr. Norbert Blüm, immer quick und optimistisch, wenn„Herkulesarbeit" geleistet wer- den soll, seine Aussage: Die ge- gliederte Krankenversicherung nach Westvorbild ist nicht im Hauruck-Stil und von heute auf morgen zu verwirklichen. Also fürs erste: Einheitsversicherung.
Angesichts der weitergehenden AOK-Pläne erklärte Blüm am 25. Juni in Bonn: „Wir wollen mit der Sozialunion den Sozialis- mus in der DDR nicht einfüh- ren, sondern ihn dort abschaf- fen". Übergangslösungen und Fristen sowie Mischsysteme müßten den Start in die Sozial- union erleichtern. Zwar wider- sprächen eine Einheitsversiche- rung und der Alleinvertretungs- anspruch einer einzelnen Kas- senart dem Geist des Staatsver- trages, so Blüm. Doch müßten
Deutschland
Kraftakte in Etappen
die Aufgaben der Krankenversi- cherung zumindest in der Über- gangsphase von einem gemeinsa- men Träger durchgeführt wer- den. Spätestens zum 1. Januar 1991 müsse aber die gegliederte Krankenversicherung mit eigen- ständigen Krankenkassen gebil- det werden, deren Organisa- tionsstruktur spiegelbildlich zur Kassenstruktur in der Bundesre- publik Deutschland aufgebaut werden solle. Leistungen, die das bundesdeutsche Kranken- versicherungsrecht nicht kennt, die in der DDR aber bisher von der dortigen Krankenversiche- rung finanziert wurden (z. B. be- sondere Leistungen bei Schwan- gerschaft), würden ebenso aus
dem Haushalt der DDR finan- ziert wie Investitionen bei statio- nären und ambulanten Einrich- tungen des Gesundheitswesens (z. B. Ambulatorien).
Zunächst muß eine Reihe von Spezialgesetzen erlassen werden, um die avisierten frei- heitlichen Rahmenbedingungen zu schaffen. Blüm nannte drei Gesetze, die die Volkskammer erst noch erlassen muß, um auch für die DDR plurale Strukturen zu etablieren und schrittweise private wie freigemeinnützige Leistungserbringer zuzulassen:
das Krankenkassen-Errichtungs- gesetz; das -Krankenkassen-Ver- tragsgesetz und ein spezielles Krankenhausgesetz für die DDR. Von deren Inhalt und zielgerechter Konstruktion wird es abhängen, ob die vielerlei Provisorien und Übergangsrege- lungen tatsächlich schnell abge- schafft werden und die Sozial- union wirklich zu einer Entstaat- lichung und Liberalisierung des Gesundheitswesens auch in der DDR führen wird. HC
Dt. Ärztebl. 87, Heft 27, 5. Juli 1990 (1) A-2113