Zur Fortbildung Aktuelle Medizin KONGRESS-BERICHT
Eine Leistungsbilanz der Arznei- mittelforschung hatte sich der von der Deutschen Pharmazeutischen Gesellschaft, der Deutschen Ge- sellschaft für Wehrmedizin und Wehrpharmazie, der Deutschen Gesellschaft für Geschichte der Pharmazie, der Gesellschaft für Arzneipflanzenforschung, der Ar- beitsgemeinschaft für pharmazeu- tische Verfahrenstechnik, der Fachgruppe Medizinische Chemie der GdCh und der Gesellschaft für Phytotherapie vom 17. bis zum 20.
April 1983 in München veranstalte- te Gesamtkongreß der pharma- zeutischen Wissenschaften zum Ziel gesetzt. Die Themen der 20 Plenarvorträge behandelten die Gewinnung neuer verbesserter Arzneimittel aus pflanzlichen und tierischen Materialien bzw. durch Synthese in Kombination mit
„Drug Design", ferner Stabilitäts- prüfungen von Arzneimitteln und die damit verbundene Arzneimit- telanalytik sowie Wirksamkeits- prüfungen. In mehr als 530 Diskus- sions- und Postervorträgen prä- sentierte Forschungsergebnisse boten eine einmalige Chance zur Annäherung von Hochschule und Industrie.
In seinem Festvortrag zog H. J.
Roth, Tübingen, eine Bilanz der Arzneimittelforschung. Danach sind Posten auf der Habenseite die Erfolge der Peptidchemie — Syn- these spezies-spezifischer Pepti- de, Herstellung von Humaninsulin aus Schweine-Insulin —, die Fort- schritte auf dem Gebiet der Gen- technologie — Herstellung von Hu- maninsulin, von Interferonen, von Somatostatin und Somatotropin — und die Ergebnisse der immunolo- gischen Forschung — Gewinnung
monoklonaler Antikörper mit Hilfe der Hybridomatechnik —. Diesen beachtlichen Erfolgen stehen auf der Sollseite eine Reihe ungelö- ster Probleme wie der Mangel an kausalen Therapeutika, mangeln- de Organspezifität von Arzneimit- teln, Allergien, Impfschäden, Resi- stenzen, Hospitalismus oder The- rapielücken bei polyfaktoriellen Erkrankungen gegenüber.
Probleme der praktischen Wirk- stoffsuche beleuchtete A. v. Aus- tel, Biberach. Fast alle heute ge- bräuchlichen Arzneimitteltypen gehen letztlich auf Zufallsentdek- kungen zurück. Trotz aller Fort- schritte der Arzneimittelforschung ist man auch heute noch bei der Wirkstoff-Findung auf im wesent- lich empirische Verfahren ange- wiesen. Grundlagen einer geziel- ten Arzneimittelsuche sind mole- kularbiologische Erkenntnisse, die sich sowohl auf pharmakoki- netische als auch auf pharmako- dynamische Aspekte beziehen können. Die Fortschritte auf dem Gebiet der Röntgenstrukturanaly- se gestatten es heute, die Struktur von Enzymen und Enzym-Ligand- Komplexen zu erklären. Sofern sich über die Beeinflussung sol- cher Enzyme therapeutische Ef- fekte erzielen lassen, eröffnet sich hier ein Weg zur gezielten Leit- strukturfindung und Optimierung.
Nach B. Wiedemann, Bonn, sind die mit der Resistenzentwicklung von Mikroorganismen gegenüber Chemotherapeutika zusammen- hängenden Probleme auf die Aus- bildung von Hospitalinfektionen, auf die Selektion resistenter Mi- kroorganismen bei Infektionen der Luft- und Harnwege und auf Epi- demien beschränkt. Resistenzge-
ne sind für beinahe alle klassi- schen Antibiotika bekannt, beson- ders bei den in der Intensivmedi- zin bedeutsamen ß-Lactam- und Aminoglykosid-Antibiotika. Die Resistenzentwicklung erfordert häufig den Einsatz von Spezialan- tibiotika wie z. B. für die Behand- lung von Staphylokokken-lnfektio- nen Lincomycin, Vancomycin, Fu- sidinsäure oder sogar Rifampicin, das eigentlich für die Tuberkulose reserviert ist. Gegen gramnegative Keime sind in letzter Zeit ß-Lac- tam-Antibiotika mit hoher Resi- stenz gegen die von diesen Bakte- rien produzierten ß-Lactamasen entwickelt worden, die Cephalo- sporine der dritten Generation.
Gewarnt werden muß vor einem breiten und ungezielten Einsatz auch dieser neuen Antibiotika, der zur Etablierung effektiver, ökolo- gisch günstiger Resistenzmecha- nismen führen könnte. Im Bereich der Phytopharmaka sind folgende Entwicklungen zu verzeichnen:
Nach A. Nahrstedt, Braunschweig, sind in den letzten Jahren zahlrei- che neue physiologisch aktive Strukturen in höheren Pflanzen gefunden und neue Wirkungen bekannter Pflanzen inhaltsstoffe entdeckt worden. Im Vordergrund des Interesses stehen wegen zyto- toxischer und zytostatischer Wir- kungen u. a. Wirkstoffe aus Wolfs- milch-, Seidelbast- und Lilienge- wächsen sowie solche aus ver- schiedenen Pilzen. Die Antitumor- und insbesondere auch die anti- leukämische Aktivität der aus Spindelbaum- und Kreuzdornge- wächsen gewonnenen Maytansine ist häufig beschrieben worden.
Ähnliche Strukturen konnten auch aus dem Strahlenpilz Nocardia isoliert werden. Angesichts der zu- nehmenden Resistenz der Plas- modien gegen synthetische Anti- malariamittel sind Verbindungen aus Beifußgewächsen von Interes- se, die gegen die Blutschizonten der Plasmodien, auch gegen Chlo- roquin-resistente, wirksam sind.
Als blutdrucksenkende Substanz wurde Tetramethylpyrazin aus Wolfsmilchgewächsen isoliert. Die Verbindung ist seit etwa 20 Jahren aus Sojabohnen, Zigarettenrauch
Trotz hohen Angebots
Neuentwicklungen notwendig
Bericht über den
1. Gesamtkongreß der Pharmazeutischen Wissenschaften
„Fortschritte in der Arzneimittelforschung"
Ausgabe A DEUTSCHES ÄRZTEBLATT 80. Jahrgang Heft 26 vom 1. Juli 1983 47
Zur Fortbildung Aktuelle Medizin Arzneimittelforschung
und Kakaobohnen bekannt. Auf- merksamkeit verdienen auch Stof- fe zur Behandlung der sich immer mehr ausbreitenden Pilzinfektio- nen, die u. a. aus Enziangewäch- sen isoliert wurden. Herz- und kreislaufwirksame Substanzen so- wie Verbindungen mit Einfluß auf das Nervensystem wurden aus Apocyanaceen und verschiedenen Ingwerarten, aus Maulbeerbäu- men und aus dem Weißdorn iso- liert. Insgesamt zeigt sich, daß hö- here Pflanzen immer noch ein re- spektables Reservoir neuer Struk- turen mit unter Umständen nutz- baren physiologischen Aktivitäten darstellen. Als immunstimulierend wirkende Substanzen nannte H.
Wagner, München, Aristolochia- säure, Alkaloide, Sesquiterpenlac- tone, Diterpene, Ubichinone, Alkyllysophospholipide, Polysac- charide, Lipopolysaccharide, Pro- teine, Glykoproteine und Nucleoti- de; besonders auch die Lektine, Polysaccharide aus niederen und höheren Pilzen sowie saure Hete- roglykane aus Echinacea pur- purea.
Nach P. H. Hofschneider, Martins- ried, ist mit der gentechnischen Synthese von Humaninsulin der Beweis erbracht, daß auf diesem Weg Pharmaprodukte hergestellt werden können. Weiter konnte ei- ne Reihe von Genen so kloniert werden, daß die gewünschten Produkte z. B. menschliches Somatostatin, menschliches und tierisches Wachstumshormon, menschliches Somatotropin, das Core-Antigen des Hepatitis-B-Vi- rus, Leukozyten-, Fibroblasten- und Immun-Interferon, das VP,- Protein des Maul- und Klauenseu- che-Virus, Urokinase, Serumal- bumin, Affeninsulin u. a. von ge- netisch modifizierten Bakterien hergestellt werden. Es ist fest da- mit zu rechnen, daß diese Produk- te in einer berechenbaren Frist für den medizinischen und veterinär- medizinischen Bereich verfügbar werden. Die Gentechnologie als unentbehrliche Methode der bio- logischen Grundlagenforschung, verbunden mit neuentwickelten Methoden der Biochemie (Mikro-
sequenzierung von Proteinen, DNA-Sequenzanalyse und DNA- Synthese), hat völlig neue Voraus- setzungen für die Synthese und Untersuchung medizinisch inter- essanter Substanzen geschaffen, und es wäre höchst unwahr- scheinlich, wenn als Konsequenz dieser Arbeiten nicht auch neue, therapeutisch einsetzbare Wirk- stoffe entstehen würden. Erwähnt sei die Gruppe der Lymphokine, die für die physiologische Funk- tion der Immunabwehr wichtig ist.
Ein für die Praxis wichtiges Ge- biet, die Chronopharmakologie stellte B. Lemmer, Frankfurt, vor.
Vom Einzeller bis zum Menschen sind biologische Rhythmen in phy- siologischen Funktionen nachzu- weisen. So zeigen die Schmerz- empfindung und die Wirkung von Analgetika oder Anästhetika bei Mensch und Tier ausgesprochen tageszeitabhängige Unterschiede auf. Der wohl bekannteste zirka- diane Rhythmus ist der der Korti- solkonzentration im Plasma, aber auch für andere Hormone wie Re- nin, Aldosteron, Insulin, Wachs- tumshormon, Noradrenalin, Adre- nalin u. a. konnten ebenfalls zirka- diane Rhythmen nachgewiesen werden. Entsprechend ist die Wir- kung von Antihistaminika, die Empfindlichkeit der Atemwege auf Allergene und bronchokonstrikto- risch wirkende Substanzen, die Glukose-Insulin-Regulation, die Toxizität von Zytostatika, die Wir- kung von (3-Rezeptoren-Blockern und Nitroglyzerin von der Tages- zeit abhängig. Auf Grund einer Fülle chronobiologischer und chronopharmakologischer Befun- de scheint es unabdingbar, den Applikationspunkt eines Arznei- mittels bzw. die zirkadiane Pha- senlage der untersuchten oder therapierten Spezies als weitere Einflußgröße auf Wirkung und Ki- netik eines Arzneimittels mit ein- zubeziehen.
Professor Dr. phil. Hans D. Reuter Lehrstuhl für Innere Medizin I Universität Köln
Joseph-Stelzmann-Straße 9 5000 Köln 41
FÜR SIE GELESEN
Hochdosierte i. v. Gabe von IgG bei Erwachsenen mit Autoimmun-
Thrombozytopenie
Eine Untersuchung über die Wir- kung hochdosierter intravenöser Gaben von IgG bei 25 Erwachse- nen mit Autoimmun-Thrombozyto- penie bestätigte den vorhersehba- ren Anstieg der Thrombozytenzahl während der Infusion, der vorher schon bei Kindern beobachtet worden war. Im Gegensatz zu den Untersuchungen bei Kindern gab es jedoch keinen verstärkten An- stieg der Thrombozytenzahl, wenn die IgG-Infusion nicht direkt mit einer Splenektomie in Zusammen- hang stand.
Es gab keinerlei Korrelation zwi- schen dem Vorhandensein von Thrombozyten-Autoantikörpern oder der lg-Klasse der Autoanti- körper und der Reaktion auf die Infusion. Die Autoren kommen zu dem Schluß, daß die anfängliche Thrombozytenreaktion das Resul- tat einer vorübergehenden Blok- kade des retikuloendothelialen Sy- stems einschließlich des F c-Re- zeptorenmechanismus der Makro- phagen ist. Die Langzeitreaktion bei einigen Patienten erfordert ei- ne weitere Erklärung und könnte auf eine spezifischere immuno- suppressive Wirkung der hochdo- sierten IgG-Infusion zurückzufüh- ren sein. Die Splenektomie kann die Wirkung verstärken, da mit der Milz ein wichtiger Thrombozyten- Autoantikörper-Produzent ent- fernt wird.
Der Rückgang der Fehlschläge nach Splenektomie bei Erwachse- nen ermutigt daher — so die Auto- ren — zu einer früheren Operation und setzt diese Patienten damit weniger der Wirkung von zytotoxi- schen Präparaten aus. Dpe
Newland, A. C.; Treleaven, J. G.; Minchinton, R. M.; Waters, A. H.: High-Dose Intravenous IgG in Adults with Autoimmune Thrombocy- topenia, The Lancet I (1983) 84-87, A. C. New- land, Department of Haematology, The Lon- don Hospital, Whitechapel, London El •1 BB, England
48 Heft 26 vom 1. Juli 1983 80. Jahrgang DEUTSCHES ÄRZTEBLATT Ausgabe A