Schweizer Volkswirtschaft
51 Die VolkswirtschaftDas Magazin für Wirtschaftspolitik 11-2005
Der absolute Arbeitsfrieden, dessen Entste- hung auf das im Jahr 1937 geschlossene Ab- kommen zwischen dem Schweizerischen Uh- ren- und Metallarbeitnehmerverband Smuv und den Vertretern der Maschinen- und Me- tallindustriellen zurückgeht, und der Bundes- ratsbeschluss von 1943, welcher Gesamtar- beitsverträge (GAV) für verbindlich erklärte, bildeten die Grundlage dafür, dass die so ge- nannte Friedenspflicht in der Folge in den meisten GAV Eingang fand und nachhaltig verankert wurde. Dies ermöglichte, dass die in den vergangenen Jahrzehnten in der Schweiz
aufgetretenen Arbeitskonflikte in der Regel friedlich gelöst und dass auf Kampfmassnah- men weit gehend verzichtet werden konnte.
Mit der Abstimmung vom 18. April 1999, in welcher Volk und Stände die neue Bundesver- fassung gutgeheissen hatten, wurde erstmals in der Schweiz auch das Streikrecht als Grund- recht ausdrücklich festgeschrieben und damit eine lange währende Rechtsunsicherheit be- seitigt. Nach wie vor sind jedoch die mittels Streiks geführten Sozialkonflikte in der Schweiz relativ selten. Dies bedeutet nicht, dass im Berichtsjahr zwischen den Sozialpart- nern keine Konflikte aufgetreten wären. In al- ler Regel werden diese aber am Verhandlungs- tisch beigelegt, sodass auf Kampfmassnahmen verzichtet werden kann.
Entwicklung im Jahr 2004
Im Jahr 2004 wurden in der Schweiz acht Arbeitsniederlegungen registriert, die min- destens einen ganzen Arbeitstag andauerten.
Die Statistik weist dabei 24399 direkt und in- direkt betroffene Arbeitnehmende aus, die sich auf 1117 Betriebe verteilen. Die hohe Zahl
Kollektive Arbeitsstreitigkeiten des Jahres 2004
Die Erhebungen zu den kollekti- ven Arbeitsstreitigkeiten, welche zu Arbeitsniederlegungen führen, werden seit dem Jahr 1927 regel- mässig durchgeführt. Die Auswer- tung erfolgt aufgrund von Anga- ben seitens der Verbände, der Gewerkschaften, der betroffenen Betriebe sowie der Berichterstat- tung in den Medien. Neben Indi- katoren wie der jährlichen Zahl der aufgetretenen Bewegungen, der Anzahl der betroffenen Be- triebe und der beteiligten Arbeit- nehmenden gibt insbesondere die Zahl der verlorenen Arbeits- tage Aufschluss über die volks- wirtschaftliche Bedeutung der Arbeitsniederlegungen. Im Jahr 2004 wurden in der Schweiz 8 Arbeitsniederlegungen regist- riert, die einen Tag oder länger dauerten. Die Zahl der verlorenen Arbeitstage betrug 38915.
Walter Weber Ressort Arbeitsmarkt- statistik, Staats- sekretariat für Wirtschaft (seco), Bern
Robert Häubi Stv. Leiter, Ressort Arbeitsmarkt- statistik, Staats- sekretariat für Wirtschaft (seco), Bern
Im Jahr 2004 wurden in der Schweiz 8 Arbeitsniederlegungen registriert, die mindestens einen Arbeitstag dauerten.
Durch Streiks wurden damit 9,3 verlorene Arbeitstage je tausend Arbeitnehmende verzeichnet. Im vergangenen Jahr- zehnt waren es durchschnittlich lediglich 3,1 pro Jahr. Bild: Keystone
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Laut Definition des Internationalen Arbeits- amtes (IAA) spricht man von einem Arbeitskon- flikt, wenn wegen unterschiedlicher Meinungen oder Forderungen bei Arbeitnehmenden und Arbeitgebern Divergenzen entstehen. In der Schweiz registriert die Statistik nur die Konflikte, die zu einer Arbeitsniederlegung führen, sei es, weil die Arbeitnehmenden einen Streik ausrufen, sei es, weil die Arbeitgeber zu Aussperrungen schreiten. Auch weist die Streikstatistik nur Streiks mit wirtschaftlichem Charakter aus.
Streiks aus politischen und anderen Motiven, wie etwa der landesweite Frauenstreik vor einigen Jahren, erfüllen dieses Kriterium nicht und wer- den deshalb auch nicht ausgewiesen. Aber auch wirtschaftliche Streiks von weniger als einem ganzen Arbeitstag bleiben gemäss den interna- tionalen Richtlinien unberücksichtigt.
Das Staatssekretariat für Wirtschaft (seco) ist gemäss Bundesstatistikgesetz verpflichtet, eine Statistik zu den kollektiven Arbeitsstreitigkeiten in der Schweiz zu führen und zu publizieren. Die- se Erhebung wird mittels eines Fragebogens durchgeführt, der den beteiligten Konfliktpartei- en zugestellt wird. Die Auskunftspflicht ist obli-
gatorisch, jedoch besteht keine automatische Meldepflicht. In aller Regel liegt uns mindestens eine der relevanten Informationsquellen (Be- trieb/Unternehmung, Arbeitgeberverband, Ar- beitnehmerorganisation) vor, um die notwendi- gen Angaben für die Erstellung der Statistik ge- mäss den konzeptionellen Erfordernissen heraus- filtern zu können. Trotzdem sind wir stark auf die Mitarbeit von Arbeitnehmer- und Arbeitgeber- organisationen angewiesen. Diese sind insbeson- dere bei grossen, branchenübergreifenden oder gar landesweiten Streikereignissen die einzigen Organe, die als Branchenkenner und Branchen- vertreter verlässliche Zahlen angeben können. Da aber auch die Kapazitäten der Verbände zur Erhe- bung möglichst zutreffender Zahlen bei solchen Grossereignissen an Grenzen stossen, ist es – auch international – üblich, dass anstelle detail- liert erhobener Zahlen auch auf Schätzungen zu- rückgegriffen werden kann. Solche Schätzungen werden vom seco allerdings anhand der Medien- berichterstattung plausibilisiert.
der Betriebe erklärt sich aus dem Umstand, dass mit dem Streik im Maler- und Gipserge- werbe ein grosser Teil der Betriebe in der Deutschschweiz, im Jura und im Tessin betrof- fen war. Die Zahl der verlorenen Arbeitstage beläuft sich auf 38915. Sechs der acht erfassten Streikereignisse dauerten dabei länger als einen Tag. Eine Untergliederung nach Wirt- schaftszweigen ergibt je zwei Arbeitsniederle- gungen im Baugewerbe, in der Öffentlichen
(kantonalen) Verwaltung sowie im Papier-, Karton-, Druck- und Verlagsgewerbe. Im Wei- teren entfielen je ein Ereignis auf den Küchen- bau sowie die Erzeugung und Bearbeitung von Metall. Die beiden kantonalen Ereignis- se betrafen sowohl die Kantonsverwaltungen selber als auch die Bereiche Unterrichtswesen sowie Gesundheits- und Sozialwesen.
– Ausgangspunkt für die landesweiten Streiks im Baugewerbe (Maler/Gipser) waren For- derungen im Zusammenhang mit dem GAV.
– Die Streiks in den Bereichen der Öffentli- chen Verwaltung zweier Westschweizer Kantone betrafen in erster Linie Lohnfor- derungen, in zweiter Linie die Arbeitsbe- dingungen.
– Bei den übrigen fünf Arbeitskonflikten (im Küchenbau, im Maler- und Gipsergewer- be, in den Bereichen «Papier/Karton» und
«Verlag/Druck» sowie in der Metallerzeu- gung) handelte es sich um Aktionen auf- grund anderer Ursachen, wie beispiels- weise Rücknahme von Kündigungen, Arbeits bedingungen, Outsourcing oder Aktionen für einen Sozialplan aufgrund einer Betriebsschliessung).
Im Jahr 2004 kam es noch zu zahlreichen weiteren Arbeitsniederlegungen. Diese wer- den jedoch in den Statistiken der Arbeitskon- flikte nicht aufgeführt, da sie die geforderten Kriterien – insbesondere die Mindestdauer von einem Arbeitstag und wirtschaftliche Zielsetzung – nicht erfüllen.
Anzahl Konflikte Verlorene Arbeitstage
0 1 2 3 4 5 6 7 8 9
2005 200
4 2003 200
1 2000 199
9 1998 199
7 1996 1995 1994 199
3 1992 1991 1990 1989 1988 1987 1986 1985 198
4 1983
0 5 000 10 000 15 000 20 000 25 000 30 000 35 000 40 000
a Streiks, die mindestens einen Arbeitstag dauerten. Quelle: seco / Die Volkswirtschaft
Grafik 1
Kollektive Arbeitsstreitigkeiten: Anzahl Konflikte und verlorene Arbeitstage, 1983–2004a
Definition und methodische Hinweise
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Schlussbemerkung
Wie in den vorhergehenden Jahren handelt es sich bei den aufgetretenen Konflikten je- weils um Streiks; Aussperrungen fanden keine statt. Insgesamt gilt für die Streikstatistik des Jahres 2004, was üblicherweise in den vergan- genen Jahren festgestellt wurde: Die mit dem Mittel des Streiks geführten Sozialkonflikte sind relativ selten. Insgesamt sind die Bezie- hungen auf dem schweizerischen Arbeits- markt nach wie vor durch die Friedenspolitik charakterisiert, werden die zwischen den So- zialpartnern auftretenden Konflikte doch in der Regel am Verhandlungstisch beigelegt.
Wird in einer Konfliktsituation eine Arbeits- niederlegung unvermeidlich, so bleiben de ren Dauer und Ausmass im Allgemeinen be- schränkt.
Das Ausmass der Streikaktivitäten lässt sich beziffern, indem die Anzahl der durch Streiks verlorenen Arbeitstage zur Zahl der Erwerbs- personen ins Verhältnis gesetzt wird. Durch Streiks wurden im vergangenen Jahr 9,3 (und im vergangenen Jahrzehnt durchschnittlich pro Jahr lediglich 3,1) verlorene Arbeitstage je tausend Arbeitnehmende verzeichnet. Die Schweiz gehört damit im internationalen Ver- gleich zu jenen Ländern, welche kaum von
Streiks betroffen sind. 䡵
Bewegungen Betroffene Betriebe Beteiligte Arbeitnehmende Verlorene Arbeitstage Nach Wirtschaftszweigen
Papier/Karton/Verlage/Druck 6 7 660 2 649
Kunststoffwaren 1 1 40 200
Metallindustrie 1 1 400 2 800
Maschinen- und Fahrzeugbau 2 2 110 716
Sonstiges verarbeitendes Gewerbe 1 1 24 24
Baugewerbe 10 1 633 24 179 27 632
Handel 2 2 50 64
Öffentliche Verwaltung, Unterrichtswesenb 12 319 51 064 63 794 Gesundheits- und Sozialwesenb 3 730 23 495 23 613
Chemie 2 2 710 1 070
Immobilien/Vermietung/Informatik/
Dienstleistungen für Unternehmen 3 3 127 969 Kredit- und Versicherungsgewerbe 1 4 560 980
Persönliche Dienstleistungen 3 3 549 1 002
Verkehr, Nachrichtenübermittlung 3 4 1 153 1 267
Uhrenindustrie 1 1 6 24
Nach Streikgegenstand
Lohnfragen 20 995 68 823 85 563
Kollektive Arbeitsverträge 10 1 508 24 011 28 003
Übrige Ursachenc 21 210 10 293 13 238
Total 51 2 713 103 127 126 804
Tabelle 1
Kollektive Arbeitsstreitigkeiten nach Wirtschaftszweigen und Streikgegenstand, 1995–2004a
Quelle: seco / Die Volkswirtschaft
Jahr Zahl der Zahl der Höchstzahl der Ungefähre Zahl
Arbeitskonflikte betroffenen beteiligten der verlorenen Betriebe Arbeitnehmenden Arbeitstage
1984 2 2 50 662
1985 3 10 366 662
1986 1 1 36 72
1987 0 0 0 0
1988 4 4 131 870
1989 2 2 22 265
1990 2 2 578 4 090
1991 1 1 51 51
1992 3 18 220 673
1993 0 0 0 0
1994 8 238 6901 14 380
1995 2 2 83 351
1996 3 5 5888 7 266
1997 2 3 327 435
1998 7 12 16 125 24 719
1999 5 129 2 255 2 675
2000 8 19 3 894 4 757
2001 3 702 20 098 20 098
2002 4 535 21 947 21 447
2003 9 189 8 111 6 141
2004 8 1 117 24 399 38 915 Tabelle 2
Kollektive Arbeitsstreitigkeiten in Zahlen, 1984–2004a
a Streiks, die mindestens einen Arbeitstag dauerten. Quelle: seco / Die Volkswirtschaft a Streiks, die mindestens einen Arbeitstag dauerten.
b Streiks in der Öffentlichen Verwaltung schliessen häufig auch die Bereiche Unterrichtswesen sowie
Gesundheits- und Sozialwesen ein, weshalb es in den Zahlen zwischen diesen Wirtschaftszweigen Überschneidungen gibt.
c Gewerkschaftliche Fragen; Einstellungen und Entlassungen; Restrukturierungen; Arbeitsbedingungen.