Deutsches Ärzteblatt
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Jg. 112|
Heft 6|
6. Februar 2015 A 225 KASUISTIK„Advance Care Planning“ bei
fortschreitender Multisystematrophie
Ein 78-jähriger Patient mit fortschreitender Multisystematrophie bei kortikobasilärer Degeneration und Z.n. fulminanter Lungenembolie wird von seinem Hausarzt palliativmedizinisch behandelt mit gemeinsamer Festlegung von Behandlungsgrenzen.
D
er Patient wird in erheblich reduziertem Allgemeinzu- stand bei Z.n. fulminanter Lungen- embolie ansprechbar und orientiert zur weiteren palliativen und geria- trischen medizinischen und pflege- rischen Versorgung in eine stationä- re Pflegeeinrichtung am Wohnort aufgenommen und von seinem langjährigen Hausarzt betreut. Bei chronisch fortschreitender System- erkrankung ist zunächst eine gute Symptomkontrolle möglich. Der anfänglich noch vollständig orien- tierte Patient äußert im Beisein sei- ner Tochter gegenüber dem Haus- arzt und den Pflegenden in mehre- ren intensiven Gesprächen den aus- drücklichen Wunsch, sterben zu dürfen und bei Komplikationen nicht nochmals in ein Krankenhaus verlegt zu werden. Das Ergebnis dieser Gespräche wird in der Patien- tenakte dokumentiert, es wird insbe- sondere ein Notfallbogen formu- liert, welcher konkret die Fragen der Maßnahmen bei fehlender Entschei- dungsfähigkeit, der Maßnahmen bei Dyspnoe und Schmerzen sowie die Ablehnung einer Krankenhausbe- handlung und einer Reanimation umfasst. In den folgenden Wochen auftretende rezidivierende Darm- blutungen werden durch Beendi- gung der oralen Antikoagulation be- herrscht. Bei allmählich zunehmen- der Inappetenz und weiterer Reduk- tion des Allgemeinzustandes ist der Patient nur noch zeitweise orien- tiert, er lehnt die Nahrungsaufnah- me ab. Die Trinkmenge variiert je nach subjektivem Durstgefühl. Auf eine parenterale Flüssigkeitssubsti- tution wird verzichtet, es erfolgt die Durchführung konsequenter Mund- pflege, zudem wird eine Bedarfsme-dikation bei Schmerzen ange - ordnet. Rezidivierende heftige Dyspnoeanfälle erfordern eine zunehmende Sedierung und Gabe von starken Opioiden.
Fragestellung
Der Hausarzt und das betreuende Krankenpflegepersonal sehen sich bei jeder neu auftretenden Kompli- kation und Symptomen (Darm - blutung, Reduktion der Nahrungs- und Flüssigkeitsaufnahme, schwere Dyspnoe und Schmerzen) mit der Frage konfrontiert, wie sie die indi- viduellen Wünsche des nun be- wusstseinsgetrübten Patienten nach Rücksprache mit den Angehörigen bestmöglich umsetzen.
Kommentar aus medizin - ethischer und medizinrecht - licher Sicht und Fazit
Die stets zu aktualisierende Festle- gung von Behandlungsumfang so- wie insbesondere von Behand- lungsgrenzen ist eine der großen Herausforderungen in der geriatri- schen und palliativen Versorgung von multimorbiden Patienten. Es gilt, den bekannten respektive den mutmaßlichen Patientenwillen auch in den möglicherweise schwierigen Situationen am Lebensende, im Hinblick auf mögliche Komplika- tionen und Notfallsituationen um- zusetzen. Zu diesem Zweck emp- fiehlt es sich, Umfang und Grenzen der gewünschten Behandlung sowie individuelle Präferenzen hinsicht- lich der Versorgung in der letzten Lebensphase bereits frühzeitig mit dem Patienten und dessen Angehö- rigen im Sinne einer vorausschau- enden Versorgungsplanung (Ad- vance Care Planning) zu bespre-
chen und entsprechend zu doku- mentieren. Absprachen bezüg- lich Akut- und Notfallsituationen sollten in einem Notfallbogen mit konkreten Anweisungen für den Notarzt bzw. notdiensthabenden Arzt festgehalten werden. Das Zu- lassen des Sterbens nach Therapie- zieländerung macht es erforderlich, dass die Inhalte der Behandlung an das neue Therapieziel angepasst werden. Alle Behandlungsmaßnah- men sind nun auf die Linderung von möglichen Symptomen gerichtet.
Dazu gehört neben der Behandlung von Schmerzen und Luftnot auch die Linderung von Angst, Unruhe und anderen psychischen, sozialen oder spirituellen Belastungen.
Expertenteam: Erik Bodendieck, Dr. med. Stefan Krok, Prof. Dr. jur. Volker Lipp, Prof. Dr. med.
Friedemann Nauck, Prof. Dr. phil. Alfred Simon, Dr. med. Martina Wenker
LITERATUR
1. in der Schmitten J, Lex K, Mellert C, Roth- ärmel S, Wegscheider K, Marckmann G: Im- plementing an advance care planning pro- gram in German nursing homes: results of an inter-regionally controlled intervention trial. Dtsch Arztebl Int 2014; 111(4): 50–7.
2. Vorausschauende Versorgungsplanung (Advance Care Planing, ACP) aus: Leitlinien - programm Onkologie / S3 Leitlinie Palliativ - medizin / November 2014, http://leitlinien programm-onkologie.de/Palliativmedizin.
80.0.html
Unter www.aerzteblatt.de/umgangmitsterben hat das Deutsche Ärzteblatt ein Glossar der wichtigsten Begriffe sowie weitere Beiträge zum Thema „Umgang mit Sterben“
zusammengestellt. Die Seite wird sukzessive um die Beiträge der Serie mit palliativmedizinischen Kasuistiken ergänzt. Die wichtigsten Artikel aus den letzten Jahren stehen als PDF-Ausgabe zur Verfügung.