P O L I T I K
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A2090 Deutsches ÄrzteblattJg. 99Heft 31–325. August 2002
KOMMENTAR
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er Arzt muss nicht nur selbst be- reit sein, das Erforderliche zu tun, sondern auch der Kranke, der Pfleger und die äußeren Umstände müssen dazu beitragen.“ Dieser „Dis- ease Management“-Satz von Hippokra- tes trifft ins Schwarze. Alle müssen best- möglich zusammenwirken, um den The- rapieerfolg zu optimieren. Das ist nicht leicht, weil ein faktisches Gegenüber ärztliche Therapie und Pflege in Deutschland spaltet. Keine kriegerische Auseinandersetzung, aber eine von tie- fen gegenseitigen Vorbehalten geprägte (Ko-?)Existenz. Diese Abschottung, eingeleitet durch Be-rufspolitik der letzten hundert Jahre, beein- trächtigt die stationäre und ambulante Ver- sorgung. „Bescheiden- heit, Würde, Urteils-
fähigkeit und Ruhe, Entschiedenheit und Lauterkeit im Denken und Tun“
sind gerade im Gesundheitswesen ge- fordert, von Pflegekräften und Ärzten gleichermaßen. Diese zur Teamarbeit befähigenden Eigenschaften resultieren aus der im „hippokratischen Eid“ for- mulierten Selbstverpflichtung des Be- rufs, dessen wesentlichste Aufgaben bis heute nicht durch Gesetz und Recht ab- zudecken sind. Inhaltlich floss dies auch in die Berufsehre der Pflegeberufe und anderen Heilberufe.
Ein im Ausmaß unverständlicher Un- terschied zwischen Ärzten und Pflege- kräften ist die gravierende Diskrepanz der Verdienste. Ein Blick zurück zeigt, dass diese historisch unbegründet ist.
Den ersten professionellen „Kranken- schwestern“, Diakonissen aus Kaisers- werth, wurde in der Charité ein Jahres- gehalt von 30 Talern bezahlt. Einschließ- lich freier Wohnung, freier Station und Kleidergeld bezogen sie 110 Taler im Jahr. Dies entsprach dem Existenzmini- mum einer vierköpfigen Arbeiterfami- lie. Zur gleichen Zeit an der Charité als
„Unterarzt“ tätig, bekam Rudolf Vir- chow 25 Taler. Davon zog die Verwal- tung 16 Taler ab: für Wohnung, Essen, Geschirr, Arzneien. Ihm blieben neun
Taler Monats- und 108 Taler Jahresge- halt. Finanzielle Gleichstellung von Ärzten und professionell Pflegenden:
Für ungelernte Pflegekräfte gab es zwölf Taler im Jahr.
Damals, im 19. Jahrhundert, sollte professionelle Pflege erstmals etabliert werden. Angesichts des heutigen Man- gels an Pflegekräften, gestiegenen An- forderungen und ungünstiger Arbeits- zeit sind wieder deutliche Anreize zu schaffen. Eine Annäherung der Stellung von Pflegekräften und Ärzten ist anzu- streben. Nur so wird auch eine durch- greifende Verzahnung von Therapie und
Pflege möglich. Sich ergänzendes Han- deln von Ärzten und Pflegekräften vom ersten Augenblick an ist Basis des The- rapieerfolgs. Bei Rehabilitation ver- stärkt das SGB IX seit 1. Juli 2001 die Zusammenarbeit, nicht nur der profes- sionellen Kräfte.
Praktizierter Brückenbau für mehr Gemeinsinn aller in beziehungsweise mit Kranken-, Behinderten- und Altenpflege Tätigen ist kaum erkennbar. Akademi- sche Weihen der Pflege sind weithin un- bekannt. Mehr Austausch und Anerken- nung sind erforderlich. Die gesetzliche Pflegeversicherung rückte dies ins Blick- feld. Mängel, wie die Todesfälle durch Dekubitus in Hamburg, wurden publik.
Die Zusammenarbeit der Ärzte mit den Pflegenden muss intensiviert wer- den. (Standes-)Grenzen zu überwinden ist eine der Kardinalaufgaben. Die ärzt- liche Selbstverwaltung hat sich bewährt.
Pflegekammern auf Landes- und Bun- desebene zu etablieren wäre zumindest schon formal eine Annäherung.
Mit dem seit dem Jahr 2001 imple- mentierten „Expertenstandard Dekubi- tusprophylaxe in der Pflege“ darf es nicht mehr vorkommen dass sich Pati- enten schwere offene Wunden holen.
Hinweise Pflegender dürfen vom Arzt
nicht abgetan, schon gar nicht obsolete Methoden angewandt, der Befund so verschleppt oder forciert werden. Die Oberlandesgerichte Oldenburg und Köln urteilten 1999, dass ein Dekubitus ein Pflegefehler ist. Pflegeheime muss- ten Schmerzensgeld zahlen. Pflegedo- kumentationen zeigen aber, dass Ärzte immer noch Abstruses verordnen. Dies ist nicht der Pflegekraft anzulasten, die die Wundversorgung nach ärztlicher Verordnung vornimmt. Die Untersu- chungen in Hamburg haben das Pro- blem Dekubitus bei alten, pflegebedürf- tigen Menschen drastisch publik ge- macht. 500 000 Be- troffene leiden wei- ter. 10 000 Menschen sterben jährlich in Deutschland an De- kubitus/-folgen. Ärzte behandeln dies, wie in Hamburg. Aber die Verzahnung von Therapie und Pflege fehlt.
Im April 2002 schrieb das Bundes- gesundheitsministerium über den „Ex- pertenstandard Dekubitusprophylaxe“:
„Im Sinne einer Machbarkeitsstudie . . . wurde der Beweis erbracht . . ., dass die Einführung des Expertenstandards . . . in der bundesdeutschen Pflege möglich ist . . . Es ist zu betonen, dass die betei- ligten Einrichtungen die Einführung des Standards und die Durchführung des Audits aus eigenen Mitteln bestrit- ten haben, also keine Sonderbedingun- gen geschaffen wurden.“
Das Beispiel Dekubitus offenbart, wie wichtig die Verknüpfung pflegeri- schen und ärztlichen Handelns ist. De- kubitus-Vermeidung steht im Vorder- grund. Tritt ein Druckgeschwür auf, ist nach Expertenstandard zu behandeln.
Der Arzt hat die Therapie – auch die (Wund-)Pflege – festzulegen. Diese Kompetenz muss er sich aneignen. Es geht um seine Patienten. Aber auch:
6 000 Euro je Dekubitus-Fall verursa- chen jährlich – vermeidbare – Kosten von gut zwei Milliarden Euro.
Dr. med. Wolfgang Wagener
Facharzt für Innere Medizin – Sozialmedizin – Diabetologe (DDG), 40670 Meerbusch