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Archiv "Interview mit Dr. Christine Bergmann, Unabhängige Beauftragte zur Aufarbeitung des sexuellen Kindesmissbrauchs „Wir würden gerne die Erfahrungen der Ärzte mit einbeziehen“" (24.09.2010)

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A 1798 Deutsches Ärzteblatt

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Heft 38

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24. September 2010

„Wir würden gerne die Erfahrungen der Ärzte mit einbeziehen“

Christine Bergmann ist seit März dafür zuständig, aus Wünschen und Hinweisen sexuell Missbrauchter Empfehlungen für den Runden Tisch zu formulieren – eine erste Bilanz.

INTERVIEW

mit Dr. Christine Bergmann, Unabhängige Beauftragte zur Aufarbeitung des sexuellen Kindesmissbrauchs

missbrauch“ eingesetzt wurde, habe ich drei Aufgaben: zum ersten, eine Anlaufstelle zu schaffen, also mög- lichst viel aufzunehmen von den Erfahrungen der Betroffenen sexu- ellen Missbrauchs. Zum zweiten, herauszufinden, welche Forderun- gen und Wünsche die Betroffenen und deren Angehörige an die Politik haben, also aufzuarbeiten. Die drit- te Aufgabe ist es, Erfahrungen aus- zuwerten, die die Mitarbeiter in Beratungsstellen gesammelt haben.

Zusätzlich würden wir auch gerne die Erfahrungen von Ärztinnen und Ärzten einbeziehen, die wir aus- drücklich bitten, sich zu melden.

Wie groß ist denn die Resonanz auf Ihre Angebote?

Bergmann: Wir haben inzwischen mehr als 750 schriftliche Berichte Frau Dr. Bergmann, nach Bekannt -

werden zahlreicher Missbrauchsfälle in Schulen und Internaten Anfang des Jahres wurde die Bundesregierung aktiv und setzte Sie als Unabhängige Beauftragte zur Aufarbeitung des sexuellen Kindesmissbrauchs ein. Wie ist die bisherige Bilanz Ihrer Arbeit?

Bergmann: Als Unabhängige Be- auftragte, als die ich zusammen mit dem „Runden Tisch gegen Kindes-

bekommen, überwiegend von Be- troffenen. Die lese ich alle. Seit Ende Mai besteht auch eine telefo- nische Anlaufstelle, wo erfahrene Fachkräfte, Sozialpädagogen, Psy- chotherapeuten und Mediziner für Gespräche zur Verfügung stehen.

Mittlerweile haben wir rund 1 500 Anrufe bekommen. Das ist schon eine ganze Menge.

Was machen Sie mit all den Berichten und Anregungen?

Bergmann: Die Arbeit soll schließ- lich in Empfehlungen für den Run- den Tisch beziehungsweise für die Bundesregierung über materielle und immaterielle Hilfen für Betrof- fene münden. Dabei geht es nicht nur um sexuellen Missbrauch in Institutionen , sondern auch in der Familie, was es ein Stück schwerer macht.

Wer meldet sich denn überwiegend?

Bergmann: Überwiegend melden sich Menschen, bei denen der Missbrauch lange zurückliegt, bei vielen sogar Jahrzehnte. Das Durch - schnittsalter der Betroffenen liegt zwischen 50 und 55 Jahren. Bei vielen wird deutlich, wie sehr die- ses Geschehen in der Kindheit oder Jugend das ganze Leben beeinflusst

Die gebürtige Dresdenerin Christine Bergmann war von 1998 bis 2002 Bundesfamilienministerin (SPD) unter Gerhard Schröder. In den 90er Jahren gründete die heute 70-Jährige als Berliner Arbeits- und Frauensenatorin unter anderem das Berliner Interventionsprojekt gegen häusliche Gewalt.

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24. September 2010 hat und welche Schäden sie davon-

getragen haben. Schriftlich melden sich mehr Männer als Frauen. Viele Männer sprechen das erste Mal über den Missbrauch. Es ist er- schreckend: Da ist jemand 70 ge- worden und hat eigentlich noch nie mit jemandem über das Erlebte re- den können. Entweder, weil Sexua- lität in der damaligen Zeit tabui - siert war, oder aber, weil sie be- fürchteten, sowieso keine Hilfe zu bekommen.

Wie erklären sich die Betroffenen, dass sie keine Hilfe bekamen?

Bergmann: Diejenigen, die dar - über gesprochen haben, sagen über- wiegend, dass ihnen nicht geglaubt wurde. Sie sind zum Teil in den In- stitutionen noch dafür bestraft wor- den. Das ist dann gleich doppelter Missbrauch. Der Schutz der Insti - tutionen kam vor der Hilfe für die Betroffenen. Erschütternd ist auch, dass der größte Teil massive, jah - relange Missbrauchserfahrungen schildert. Sie wurden zum Teil über Jahre von unterschiedlichen Tätern missbraucht. Inzwischen melden sich auch viele Opfer von sexueller Gewalt in der Familie, Fälle, die fast noch härter sind. Wenn die Mutter dem eigenen Kind nicht hilft, obwohl sie weiß, was passiert – das ist grausam.

Melden sich auch Kinder und Jugend - liche bei Ihnen?

Bergmann: Kaum. Es melden sich aber die Mütter. Knapp ein Fünftel der Anrufer sind Kontaktpersonen, davon fast 70 Prozent Mütter. Das ist eine sehr hohe Quote.

Wie erklären Sie sich, dass sich die Betroffenen erst jetzt melden? Spielt die breite öffentliche Diskussion über Missbrauch eine große Rolle?

Bergmann: Ich denke schon. Eine gewisse Sensibilisierung hat in den letzten Jahren stattgefunden, die es leichter macht, darüber zu re- den. Durch die Häufung von Missbrauchsfällen in renommierten Schulen und Institutionen, wie dem Canisius-Kolleg, ist das Thema mehr in die Mitte der Gesellschaft gedrungen. Man kann es nicht mehr in der Unterschicht verorten. Vielen macht es unsere Anlaufstelle, bei der sie anonym bleiben, aber wohl auch leichter, sich zu öffnen.

Was empfehlen die Fachkräfte der telefonischen Anlaufstelle den Betrof- fenen?

Die Fachkräfte können ein intensi- ves Erstgespräch führen, dafür ha- ben sie die entsprechende Qualifi- kation. Bei Bedarf nennen wir Hilfsangebote in der Nähe. Wir können aber keine Rechtsberatung

machen, sondern nur Hinweise ge- ben, wie beispielsweise das Vor - gehen bei einer Anzeige ist. Wir fra- gen jeden Anrufer: Was hat Ihnen geholfen, was nicht? Welche Er- wartungen an mich und an die Poli- tik haben Sie?

Und was fordern die Betroffenen am häufigsten?

Bergmann: Nahezu alle fordern:

Kümmert euch darum, dass es an- deren Kindern nicht so geht, wie es mir ergangen ist. Gleich danach for- dern sie die Anerkennung dessen, was sie erlebt haben, als bitteres Unrecht, von der Gesellschaft, aber am besten auch vom Täter. Das Be- kenntnis der Schuld ist den Betrof- fenen wichtig, wenn auch schwer zu erreichen.

Eine Entschädigung oder materielle Hilfen scheinen, so wie Sie es schil- dern, nicht so wichtig zu sein?

Bergmann: Die Entschädigung spielt natürlich auch eine Rolle.

Manche fordern die Finanzierung einer vernünftigen Psychotherapie.

Viele wollen aber auch eine finan- zielle Entschädigung, weil sie zum Beispiel sagen: Durch den Miss- brauch habe ich Ausbildungen ab- gebrochen. Nichts lief mehr rund, zu niemandem konnte ich mehr Vertrauen fassen. Der Missbrauch zog sich durch mein Leben, und ich habe dadurch zu viele Nachteile er- fahren. Eine finanzielle Entschädi- gung wird aber auch als ein Aner- kennen des Unrechts gesehen.

Sie sagten, dass die Fachkräfte bei Be- darf auf Beratungsstellen verweisen.

Unter der kostenfreien Rufnum- mer 0800 2255530 der Unabhän- gigen Beauftragten können Betrof- fene sexuellen Missbrauchs und Angehörige mit Fachkräften aus der Sozialpädagogik, Psychologie und Medizin sprechen. Sie zeigen Möglichkeiten der Hilfe und Bera- tung auf.

Ärztinnen und Ärzte werden ge- beten, sich zu melden, um von ih-

ren Erfahrungen zu berichten oder um Anregungen zum weite- ren Umgang mit Betroffenen zu bekommen. Alle Anliegen können auch schriftlich gerichtet werden an:

Unabhängige Beauftragte zur Aufarbeitung des sexuellen Kindes- missbrauchs, 11018 Berlin, Fax: 030 1855541555, E-Mail:

kontakt@ubskm.bund.de pb

DIE TELEFONISCHE ANLAUFSTELLE

„Die Erfahrungen der Ärzte interessie- ren uns sehr.“ – Christine Bergmann im Gespräch mit den DÄ-Redakteurinnen Sabine Rieser und Petra Bühring

Fotos: Georg J. Lopata

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24. September 2010 Sind diese denn für einen möglichen

Ansturm gerüstet?

Bergmann: Die Beratungsstellen müssen natürlich entsprechend aus- gestattet werden. Viele, die gute Ar- beit machen, kämpfen von Jahr zu Jahr um eine halbe Stelle, um ein paar Euro für einen Flyer oder dar - um, eine Fortbildung für Schulen an- bieten zu können. Es muss ein konti- nuierliches, qualitativ gutes Angebot abgesichert sein, das den Betroffe- nen zeitnah helfen kann. Ich glaube, hier wird kräftig nachzubessern sein.

Vor allen Dingen fehlt es an Angebo- ten für Männer. In Großstädten wie Berlin gibt es zwar eher Angebote, auf dem Land sieht es aber sehr viel schlechter aus, weil es dort immer noch ein tabuisiertes Thema ist.

Wie beurteilen Sie die neuen Leitlinien der Deutschen Bischofskonferenz, die Anfang September vorgelegt wurden?

Bergmann: Die Leitlinien sind ein Schritt in die richtige Richtung. Sie müssen natürlich konsequent um - gesetzt werden. Es gibt aber auch Kritikpunkte, beispielsweise bei der Auswahl der Beauftragten als An- sprechpartner für Verdachtsfälle auf sexuellen Missbrauch. Nach den neuen Leitlinien sollen die beauf- tragte Personen der Diözese ange - hören. Eine Einschränkung besteht

zwar darin, dass, wenn es nur ein Beauftragter ist, dieser nicht zur Lei- tung des Bistums gehören soll. Wer- den mehrere beauftragt, soll mindes- tens einer nicht zur Leitung gehören.

Für mich stellt sich dabei die Fra - ge der Unabhängigkeit. Eigentlich zeigt die Erfahrung bei allen Institu- tionen, dass es besser ist, jemanden von außen einzusetzen, damit Ver- trauen aufgebaut werden kann.

Sehen Sie weitere Punkte der neuen Leitlinien kritisch?

Bergmann: Auch die Anzeige- pflicht steht in der Diskussion. Die Leitlinien sehen vor, dass die Ein- schaltung der Strafverfolgungsbe- hörden entfallen soll, wenn das Opfer dies ausdrücklich wünscht.

Das finde ich richtig, weil eigent- lich alle Beratungsstellen empfehlen, die Betroffenen selbst entscheiden zu lassen, ob das Vergehen ange- zeigt werden soll. Die Befürchtung ist, dass bei einer Verpflichtung die Betroffenen gar nicht mehr zu einer Aussage bereit sind.

Was hat Sie bewogen, die Aufgabe der Unabhängigen Beauftragten zu übernehmen?

Bergmann: Ich habe in meinem politischen Leben immer schon zu häuslicher Gewalt, gewaltfreier Er- ziehung und Ähnlichem gearbeitet.

Das sind Themen, die treibt man vor - an, weil sie einem wichtig sind, oder man sollte es lassen. Da kann man

eigentlich nicht Nein sagen, wenn eine entsprechende Anfrage kommt.

Belastet die jetzige Tätigkeit Sie manchmal?

Bergmann: Es ist belastend, natür- lich. Ich lese, wie gesagt, alle Briefe von Betroffenen. Es ist furchtbar für mich, mir vorzustellen, was der Missbrauch für diese Menschen nach wie vor täglich bedeutet.

Manchmal lese ich Schilderungen, 20 Seiten handschriftlich, und am Ende steht der Satz: Warum schrei- be ich Ihnen das eigentlich? Ich wollte es einfach mal loswerden.

Dann spüre ich, dass diese Arbeit Sinn macht.

Wie sehen die nächsten Schritte aus in der Aufarbeitung des sexuellen Kindes- missbrauchs?

Bergmann: Wir werden dem Run- den Tisch, der das nächste Mal am 30. September tagt, erste Ergebnisse vorlegen. Außerdem starten wir jetzt die Kampagne „Das Schweigen bre- chen“, die diese Botschaft über Fern- sehspots, Plakate, Flyer, Postkarten und Anzeigen verbreitet. Wir hoffen, dass dadurch noch mehr Betroffene und Kontaktpersonen – wie eben auch die Ärzte – den Mut finden, sich bei unserer telefonischen Anlauf- stelle zu melden. Das Thema muss über aktuelle Skandalfälle hinaus auf der Tagesordnung bleiben. ■

Das Interview führten Petra Bühring und Sabine Rieser.

Der „Runde Tisch Sexueller Kindesmissbrauch“ wurde mit Kabinettsbeschluss vom 24. März von der Bundesregie- rung eingerichtet. Die gleichzeitig eingesetzte Unabhängi- ge Beauftragte ist Mitglied des Runden Tisches und hat die Aufgabe, die Anliegen der Betroffenen in Empfehlun- gen für dieses Gremium umzusetzen. Der Runde Tisch steht unter dem Vorsitz der Bundesministerinnen Kristina Schröder (Familie, Senioren, Frauen und Jugend), Sabine Leutheusser-Schnarrenberger (Justiz) und Annette Scha- van (Bildung und Forschung). Circa 60 Vertreter von Kin- derschutzverbänden, Beratungsstellen, Familienverbänden, Schul- und Internatsträgern, der freien Wohlfahrtspflege, den beiden Kirchen, der Wissenschaft, von Rechtswesen und der Politik nehmen daran teil. Der Runde Tisch soll in drei Arbeitsgruppen (1. Prävention, Intervention und Infor- mation, 2. Durchsetzung von Strafansprüchen, rechtspoli- tische Folgerungen, 3. Forschung und Lehre) Maßnahmen zum Schutz von Kindern vor sexuellem Missbrauch erar-

beiten und umsetzen. pb

DER RUNDE TISCH

Nahezu alle fordern: „Kümmert euch darum, dass es anderen Kindern nicht so geht, wie es mir ergangen ist.

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