Moderne chinesische Denlcer Von Alfred Forke
In seiner „Gesciiichte der letzten fünfzig Jahre des chi¬
nesischen Denkens" Tchin wu-schi nien tschung-kuo
sse-hsiang sehi') gibt Kuo Tschan-po*) eine Darstellung
der Ansichten der führenden Persönlichkeiten im heutigen
chinesischen Geistesleben, woran er seine eigenen Betrach¬
tungen über diesen Gegenstand anschließt. Aus dem ersten
Teile dieses interessanten Werkes bringe ich einen Auszug.
Die meisten dieser Denker kann man kaum als Philosophen
von Fach betrachten, sie sind vielmehr Soziologen, Politiker
und Wissenschaftler, die nach neuen Methoden suchen, um
damit die sie am meisten beschäftigenden Probleme zu lösen.
Über die eigentlichen Philosophen: K'ang Yu-wei, Liang
Tch'i-tsch'ao, T'an Sse-t'ung, WuTschi-hui und Wang
Kuo-wei*) habe ich bereits in meiner Geschichte der neueren
chinesischen Philosophie (1938) ausführlich berichtet und auf
andere kurz hingewiesen, werde deshalb nur noch die übrigen
hier behandeln.
Die modernen chinesischen Denker stehen fast alle mehr
oder minder unter dem Einfluß des europäisch-amerikanischen
Denkens und haben ihre neuen Ideen entweder direkt der
westlichen Philosophie entnommen oder sind zumindest da¬
durch dazu angeregt worden.
Kuo Tschan-po übernimmt von Li Ta-tschao (S. 23)
den marxistischen Satz, daß, wenn in der Wirtschaft einer
Epoche ein Umschwung erfolgt, auch ein Umschwung im
Denken kommt, und macht dann folgende Ausführungen:
1) a: + ^ + 1^ ffi. itP. ill
^) %mm
3) m^isi. mmm, m iiü m- 31:m %■ 1 m
A. Fobke, Moderne chinesische Denker 209
Der Ackerbau ist die Grundlage des chinesischen Staates.
Auf dieser hat sich die Großfamilie entwickelt, die aus Bluts¬
verwandtschaft und Wirtschaft entstanden ist. Seit zwei¬
tausend Jahren ruht darauf die chinesische Gesellschaft. Dar¬
über erheben sich als Oberbau Verwaltung, Gesetzgebung,
Ethik, Moral, Sitten, Wissenschaft, Philosophie. Die Ethik
und die Wissenschaft des Konfuzianismus hat nicht aus
eigener Kraft diese ganze Zeit China beherrscht, sondern nur
als Ausfluß des bäuerlichen Gesellschaftssystems. Zweitausend
Jahre verharrte er in todesähnlicher Ruhe, bis beim Ein¬
dringen der westländischen Kultur die chinesische Agrar-
wirtschaft durch die europäische Industrie erdrückt und zer¬
trümmert wurde. Mit der Großfamilie gingen auch die chi¬
nesischen Sitten, Verwaltung und Moral in Trümmer, und
der Konfuzianismus brach zusammen. Durch äußere und
innere Wirren wie den T'ai-p'ing- und den Boxeraufstand
ging das alte chinesische Gesellschaftssystem zugrunde').
Durch die politischen Mißerfolge in den Kämpfen mit den
Europäern und den Japanern während der letzten fünfzig
Jahre wurde zuerst das chinesische Denken ins Wanken ge¬
bracht (Liany Tch'i-tsch'ao).
In neuester Zeit hat das chinesische Denken verschiedene
Wandlungen durchgemacht. Kuo Tschan-po unterscheidet
drei Perioden. Die erste beginnt mit dem Jahre 1894, in
welchem die chinesische Intelligenz durch den unglücklichen
Ausgang des ersten japanischen Krieges aufgerüttelt wurde.
Der Selbsterhaltungstrieb lehrte sie, daß es in der alten
Weise nicht weitergehen könne. Die zweite Periode beginnt
mit dem Jahre 1911, in welchem das Kaisertum abgeschafft
und die Republik erklärt wurde. Die dritte Periode datiert
vom Jahre 1928, als China nach langen inneren Kämpfen
1) Diese materialistische Geschichtsauffassung erscheint sehr wenig
begründet. Die Großfamilie, die bäuerliche Wirtschaft und der Kon¬
fuzianismus sind zwar durch die westliche Kultur stark erschüttert, aber im Volke bestehen sie noch heute neben der geringen vom Ausland
eingeführten Industrie, und nur die kommunistisch angehauchten In¬
tellektuellen sehen die Dinge so wie ihre Theorie sie ihnen vorgaukelt.
Zeitacbrift d. DMG Bd. 96 (Neue Folge Bd. 31) 11
210 A. Forke, Moderne chinesische Denlcer
unter Tchiang Kai-schek wieder geeint wurde und reicht bis
1935, dem Erscheinen von Kuo's Buch. Diese drei Perioden
werden in folgender Weise charakterisiert:
I. Periode, 1894—1911. Letztes Aufflackern der alten
chinesischen Kultur. Hauptvertreter dieser Periode sind
K'ang Yu-wei und Liang Tch'i-tsch'ao. Sie sind für die
alte feudalistische Gesellschaftsform, aufgebaut auf der bäuer¬
lichen Familie und dem Sippenwesen, verehren Konfuzius
als die Quelle der alten Moral, Sitte und Wissenschaft und
halten an der chinesischen Literatur fest unter Ablehnung
der sogenannten materialistischen europäischen Kultur. Die
fremde Wissenschaft, namentlich die Naturwissenschaft wird
gering geschätzt.
II. Periode, 1911—1928. Zusammenprall des Feudalis¬
mus und der industriellen und kapitalistischen Gesellschafts¬
form, die vom Ausland eindringt. Ihre Haupt Vertreter sind
Tsch'en Tu-hsiu, Hu Schi und Wu Tschi-hui. Sie be¬
kämpfen Konfuzius und die alte Überlieferung und haben
die größte Verehrung für fremde Kultur und Naturwissen¬
schaft.
III. Periode, 1928—1935. Weder die alte chinesische
Gesellschaftsform noch Industrie und Kapitalismus werden
anerkannt, sondern der aus der letzteren Form hervor¬
gegangene und sie bekämpfende Sozialismus. Dazu tritt der
kritische Materialismus von Marx. Haupt Vertreter sind
Feng Yu-lan, Tschang Sung-nien und Kuo Mo-jo.
Da ich über K'ang Yu-wei, Liang Tch'i-tsch'ao,
T'an Sse-t'ung, Yen Fu und Wang Kuo-wei der ersten
Periode berichtet habe, so haben wir uns nur noch mit
Sun Wen zu beschäftigen.
1. Sun Wen
Sun Wen mit Zunamen Yi-hsien und Beinamen
Tsch'ung-schan') (Sun Yat-sen), der Gründer der chi¬
nesischen Republik, wurde 1866 im Dorfe T'sui-t'ing, im
1) M X- ^lll- + Ol
A. Forke, Moderne chinesische Denlcer 211
Hsiang-schan Distrikt der Provinz Kuang-tung') ge¬
boren. Sein Vater war Schneider in Macao. Er studierte in
Hongkong Medizin und praktizierte in Makao und Canton.
Schon früh beteihgte er sich an revolutionären Umtrieben.
1895 mußte er nach einem mißglückten Aufstand in Canton
nach Japan fliehen, wo er eine politische Gesellschaft grün¬
dete. Von dort begab er sich nach Honolulu, Amerika und
England. Überall im Ausland agitierte er unter den Emi¬
granten und Studenten und gewann sie für seine Ideen. In
London wurde er von der chinesischen Gesandtschaft gefangen¬
genommen und sollte nach China geschickt werden, mußte
aber auf den Protest der englischen Regierung wieder frei¬
gelassen werden. Auf seinen Reisen in Europa studierte er
die verschiedenen Staatsformen, was ihm die Anregung zu
seinem politischen Traktat San-min tschu-i gab. 1905
gründete er in Tokyo die Gesellschaft T'ung-mgng hui
(Verein der Verschworenen) und die „Volkszeitung" Min-
pao *). In China organisierte er überall militärische Aufstände,
die alle fehlschlugen, wobei zweiundsiebzig seiner Genossen
hingerichtet wurden. Er selbst entkam wieder und ging in
die Südsee. Nach dem Ausbruch der Revolution 1911 kam
er aus Amerika zurück und wurde der erste Präsident der
Repubhk in Nanking. Er starb 1925 in Peking.
Sun Yat-sen schrieb: Sun Wen hsüo-schuo, die
Lehren des Sun Wen, San-min tschu-i, die Drei nationalen
Grundlehren, Tchien-kuo ta-kang, Grundriß der Reichs¬
gründung, Tchien-kuofang-lüo, Plan der Reichsgründung.
Seine Reden sind gesammelt unter dem Titel Tschung-
schan ts'ung-schu').
Sun bezweckt mit diesen Schriften, die Mittel und Wege
aufzuzeigen, durch welche sein Volk ertüchtigen und wieder
erstarken kann, um es vor dem drohenden Untergang durch
1) mM^ [nm^'^^M
2) Isl Sä #• K ^
3) 3fc^tft-H s^±^-mm±m- ^la:*»»-
II«-
14*
212 A. Forke, Moderne chinesische Denker
die Kriegsmacht und die wirtschafthchen Methoden des Aus¬
lands zu retten. Der chinesische Staat ist nach seiner Ansicht
auf dem Famihen- und Sippenprinzip aufgebaut. Dafür sind
die Chinesen bereit, jedes Opfer zu bringen, selbst ihr Leben
hinzugeben. Die Volksgemeinschaft dagegen interessiert sie
sehr wenig. Zum Beweise wird auf die Klankämpfe in den
Provinzen Kuang-tung und Fu-kien hingewiesen, wobei es
meistens einige Tote gibt. Sun Yat-sen möchte nun die alte,
aus der Feudalzeit stammende Gesellschaftsform etwas um¬
gestalten, das Volksbewußtsein wecken und Familien und
Sippen dahinter zurücktreten lassen. Dabei wird der Unter¬
schied zwischen Volk und Staat hervorgehoben. Ein Staat
wird durch militärische Macht gegründet, ein Volk wächst
natürlich zusammen und entsteht durch Gemeinschaft des
Blutes, der Lebensform, der Sprache, Religion und Sitte.
Aus dem Volksbewußtsein wächst der Patriotismus her¬
vor, an dem es bisher den Chinesen fehlte. Um ihn zu pflegen,
müssen die alten chinesischen Tugenden, Wissenschaft und
Kunst geübt werden. Manche, sagt Sun, wollen auf die alten
Tugenden verzichten und glauben mit der europäischen
Kultur allein auskommen zu können, aber man soll das Gute,
das man hat, nicht verschmähen. Er stellt vier Gruppen von
Tugenden auf:
1. Loyalität und Pietät; 2. Wohlwollen und Liebe;
3. Treue und Gerechtigkeit; 4. Harmonie und Eintracht.
Die Loyalität muß sich nicht auf den Herrscher, sondern
auf das Volk richten. Es ist viel besser 400 Millionen als einem
einzigen zu dienen. Bei dem Gedanken, den Kaiser, den Sohn
des Himmels, den dieser als seinen Stellvertreter auf Erden
eingesetzt und der zweitausend Jahre über China geherrscht
hat, abgesetzt zu haben, scheint es aber doch Suri nicht so
ganz wohl zumute gewesen zu sein, denn er versucht, diesen
Schritt durch Berufung auf die alten Weisen zu rechtfertigen.
K'ung-tse schätzte angeblich Yao und Schun so, weil sie
nur dem Namen nach Herrscher waren und nur die Macht
des Volkes ausübten. Er soll gesagt haben: ,,Als der Große
Lauf verfolgt wurde, da war das Reich allen gemeinsam".
A. Forke, Moderne chinesische Denlcer 213
Das war die Große Gemeinschaft, aus welcher K'ang Yu-wei
seine kommunistische Weltansicht herleitete'). Meng-tse
stellte das Volk höher als Geister und Herrscher und sagte,
daß der Himmel durch das Volk sehe und höre-).
In Pietät sind die Chinesen allen Völkern voraus. Die
Vorschriften des Hsiao-tching umfassen alles, was die kind¬
liche Liebe betrifft, deshalb darf man die Pietät nicht ver¬
schmähen.
Liebe und Wohlwollen sind edle chinesische Tugenden.
Die allgemeine Menschenliebe lehrte besonders Me Ti ebenso
wie Christus die große Liebe predigte. Liebe und Wohlwollen
waren die Hauptthemata, über welche K'ung-tse und
Meng-tse zu reden pflegten. Im alten chinesischen Staate
wurden sie auch von den Herrschern gepflegt.
Treue haben die Chinesen gegenüber ihren Freunden und
auch im Verkehr mit den Nachbarstaaten geübt. Darin
kommen ihnen die Europäer nicht gleich. Auch zur Zeit ihrer
größten Macht haben sie die Gerechtigkeit nie aus den
Augen verloren. Niemals haben sie andere Staaten vollkom¬
men versklavt oder vernichtet und erfreuten sich daher bei
ihren Kolonialreichen großer Beliebtheit, während die Euro¬
päer von den von ihnen unterjochten Völkern gehaßt werden.
Der geringe Tribut, welchen Staaten wie Annam, Siam, Korea
zu zahlen hatten, war nur symbolisch, eine Anerkennung von
Chinas Oberhoheit. Dafür genossen diese Staaten Chinas
Schutz, und man ließ ihnen vollkommen ihre Freiheit, ohne
sich in ihre inneren Angelegenheiten einzumischen.
Harmonie und Eintracht sind Tugenden der Chinesen,
die darin die Ausländer weit übertreffen. Sie sind das einzige
wirkhch friedliebende Volk der Welt, welches nicht darauf aus¬
gebt, den andern ihr Land oder ihre Reichtümer wegzunehmen.
1) K'ung-tse war ausgesprochener Royalist. Die zitierte Stelle des
Li-yün stammt gar nicht von ihm, sondern von einem späteren Kon¬
fuzianer, der darin konfuzianische, taoistische und mehistische An¬
schauungen vereinigte. Vgl. Gesch. d. alten chin. Philosophie, S. 136.
2) M§ng-tse war kein Demokrat, sondern Aristokrat als Mitglied
einer vornehmen Familie a. a. O., S. 208.
1 .".
214 A. Forke, Moderne chinesische Denlcer
Alle diese Tugenden müssen geübt und noch weiter ent¬
wickelt werden. Sun verachtet die guten Eigenschaften der
Fremden durchaus nicht, im Gegenteil, er rät den Chinesen
sie noch hinzuzulernen und auch ihre Erfindungen zu über¬
nehmen, um ihnen gewachsen zu sein. Die fremde Zivilisation
erkennt er durchaus an, aber nicht ihre Kultur.
Die Familien und Sippen sind fest zusammenzuschließen,
so daß jedes Geschlecht mit gleichem Namen fest zusammen¬
hält. Von da aus ist der Staatsbürgerverband zu schaffen.
Das Leben des Volkes, der ,, Großen Gemeinschaft"
ist nach kommunistischen Grundsätzen zu regeln. Die von
Sun Yat-sen neu organisierte Regierungspartei Kuo-min
tang') stellt zwei Forderungen: 1. Gleichmäßige Verteilung
von Grund und Boden; 2. Reguherung und Begrenzung des
Kapitals. Das ist nicht Marxismus, denn dieser lehrt den
Klassenkampf, Sun dagegen will alles auf friedlichem Wege
durch Eintracht lösen. Die Chinesen, sagt Sun, sind ein
armes Volk, großer Reichtum wie in Europa existiert nicht,
und Plutokraten gibt es nicht. Man kann nur von größerer
und geringerer Armut sprechen. Schon nach der Tch'in-Zeit
(200 v.Chr.) ging der Feudalismus in China zugrunde und
damit der Besitz großer Grundstücke. Latifundien gibt es
seitdem in China nicht, sondern das Land ist unter kleine
Grundbesitzer aufgeteilt. Neun Zehntel aller Bauern sind
Pächter und nur ein Zehntel haben eigenes Land. In den
meisten Gegenden haben sich daraus keine Schwierigkeiten
ergeben, und erst durch das Eindringen europäischer Ideen
ist eine Agrarfrage entstanden. Sun möchte die ungerechte
Verteilung beseitigen und die Agrarfrage in der Weise lösen,
daß den Bauern das Land, welches sie jetzt nur als Pächter
für die Besitzer bewirtschaften, als Eigentum zugewiesen
wird. Der größte Teil des Ertrages fällt heute an die Besitzer.
China hat bis jetzt immer nach dem Satze gehandelt:
„Wissen ist leicht, handeln ist schwer". Er ist der größte
Feind Chinas gewesen und hat allen Fortschritt verhindert.
1) igä R i;
A. Forke, Moderne chinesische Denlcer 215
Sun stimmt dem Wang Yang-ming zu, welcher lehrt, daß
Wissen und Handeln stets vereint sein müssenund er dreht
den Satz um und sagt: ,, Wissen ist schwer und handeln ist
leicht". In China, Indien, Annam und Korea, heißt es, hat
man dem Satze, daß Handeln schwer sei, vertraut und ist
deswegen nicht weitergekommen''). In Europa und Amerika
hat der Satz nie gegolten, in Japan nur zum Teil, daher hat
man dort durch Neuerungen Reichtum und Macht erlangt.
Durch das San-min tschu-i*), welches von der Kuo-min
tang in ihr Programm aufgenommen ist und in den Schulen
gelehrt wird, hat Sun Yat-sen einen großen Einfluß auf das
chinesische Volk ausgeübt. Die Schrift bestehend aus sechs
Reden an die Partei ist eine große Anklage gegen die euro¬
päischen Unterdrücker Chinas, welche angeblich China
schlechter behandeln als einen Kolonialstaat. Ausgenommen
ist nur Rußland, das als Helfer der unterdrückten Staaten
gegen ihre Unterdrücker hingestellt wird*) (??). Sun will nach
dem Vorbild Gandhi's die Ausländer durch passiven Wider¬
stand bekämpfen und in China jeden Verkehr mit ihnen
abbrechen. Er hat den schönen Wahn, daß ein Volk durch
Recht und Moral dauernd seine Macht erhalten könne. Von
der Ertüchtigung durch den Dienst mit der Waffe, wodurch
allein China sich seiner Feinde erwehren könnte, finden wir
in seinen Schriften keine Spur.
Sun Yat-sen ist ein großer Agitator und Revolutionär;
Kuo Tschan-po hält ihn auch für einen großen Staatsmann.
Sein Hauptgedanke ist die Volksgemeinschaft, auf welche
er durch die beständigen Angriffe des Auslands gegen China
1) Gesch. d. neueren chin. Philosophie, S. 389.
2) Man hat das taoistische Wu-wei, Nichthandeln, geübt, die orien- talisciie Indolenz.
3) Übersetzt von Tsan Wan, Sun Yat-sen, Die Grundlehren von dem
Volkstum, Leipzig 1927.
4) Diese .\nsicht von Rußland wird ihm wohl von seinem russischen
Berater Borodin beigebracht sein, nach dessen Vorschlägen auch die
Organisationsform der Räteregierung auf die Kuo-min tang übertragen wurde.
216 A. Forke, Moderne chinesische Denlcer
gebracht wurde. Er wollte die alte chinesische Moral, Wissen¬
schaft und Kunst bewahren und den alten chinesischen Geist
erneuern. Durch seine Geburt bei Canton, nahe bei Hongkong,
und seine Reisen in der Südsee, Amerika und Europa, lernte
er die europäische Kultur kennen. Er lehnte die chinesische
Kultur nicht ab, um die europäische anzunehmen wie viele
seiner Landsleute, aber er verschmähte auch die europäische
nicht wie K'ang Yu-wei und Liang Tch'i-tsch'ao. Seine Lehre
ist ein Gemisch chinesischer und fremder Zeitgedanken, die
nebeneinander stehen ohne eine engere Verbindung ein¬
gegangen zu sein. Sun ist national, nicht international. Der
Internationalismus der Großmächte sei, meint er, nur eine
Tarnung ihres Imperialismus. Sie suchten sich überall ein¬
zumischen, nicht um den Schwachen Hilfe zu bringen, sondern
um sie sich dienstbar zu machen. Deutschland habe sich
früher, als es noch frei war, auch zum Internationalismus
bekannt, aber als geknechtetes Land sei es zum Volkstum
zurückgekehrt »).
2. Tsch'en Tu-hsiu.
Tsch'en Tu-hsiu, persönlicher Name Tch'ien-scheng,
Beiname Tschung-fu, Schriftstellername Tsch'en
Tschung-tse'), wurde 1880 in Huai-ning*) (Anhui) ge¬
boren. Er studierte in Japan. Nach seiner Rückkehr nach
Schanghai gründete er mit andern die Zeitung „Völkisches
Tageblatt" Kuo-min jih-pao*). Um die demokratische Re¬
volution durchzuführen, beteiligte er sich am Umsturz 1911.
Da er Yuan Schi-k'ai bekämpfte, mußte er nach Japan
fliehen und kehrte erst nach dessen Tode nach Schanghai
zurück, wo er die Zeitschrift „Neue Jugend" Hsin tch'ing-
nien') ins Leben rief. Darin bekämpfte er den Konfuzianis-
1) Tsan Wan, S. 107.
2) bili n ^- n dt. mi'^'f-
^)
4) gg ß R ^
5) fr
A. Forke, Moderne chinesische Denlcer 217
mus und die alte chinesische Literatur und führte in das
europäische Denken ein. 1916 war er Dekan der philosophi¬
schen Fakultät der Universität Peking, wo er für neue Kultur
und neue Literatur eintrat, wofür die Peking-Universität der
Hauptsitz wurde. Als er 1919 Flugblätter verteilte und zum
Widerstand gegen die Militaristen aufforderte, wurde er ver¬
haftet. Darauf ging er nach Schanghai zurück und gründete
dort 1921 die chinesische kommunistische Partei. Dann wurde
er zum Vorsitzenden des Erziehungsamtes in Canton ernannt.
1923 begab er sich nach Moskau, wo er Vorsitzender der
3. Internationale wurde. Man machte ihn zum Generalsekretär
der kommunistischen Partei. Er stand auf der Höhe seines
Ruhmes, und man nannte ihn den chinesischen Lenin. Als
die kommunistische Partei in China zerfiel, verlor er seinen
Vorsitz und wurde durch die Stalin'sche Richtung aus der
kommunistischen Partei ausgeschlossen. Er gründete eine
Gegenpartei Trotzky'scher Richtung. 1932 wurde er in der
Schanghainiederlassung verhaftet, nach Nanking geschafft
und ins Gefängnis geworfen. Damit hatte seine politische
Agitation vorläufig ein Ende.
Tsch'en Tu-hsiu entwickelte seine Ansichten hauptsäch¬
lich in den von ihm herausgegebenen Zeitschriften, von denen
namentlich seine „Neue Jugend" einen bedeutenden Einfluß
ausübte. Andere von ihm gegründete Zeitschriften sind:
„Echo" Hsiang-tao, „Feuerfunken" Huo-hua, ,, Schul¬
leben" Hsiao-nei scheng-huo, außerdem erschienen seine
gesammelten Aufsäze als Tu-hsiu wen-t'sun').
Tsch'en brachte die zweitausend Jahre alte chinesische
Weltanschauung ins Wanken und erschütterte den Konfu¬
zianismus. Er ist der Überzeugung, daß die Lehre des K'ung-
tse nicht mehr für unsere Zeit paßt, denn sie basierte auf
bäuerlicher, sippenförmiger, feudalistischer Gesellschaftsform,
die sich in die industrielle, kapitalistische verwandelt hat.
Tsch'en ist im Laufe der Zeit, wie sich aus der „Neuen Jugend"
ersehen läßt, immer radikaler geworden. Sein Werdegang war,
') m m- iKTc- ^m- mnisc4f
1•
218 A. Forke, Moderne chinesische Denlcer
wie folgt: 1915 bis 1917 arbeitete er allein, 1917 bis 1920 mit
Hu Schi und andern zusammen an der Einführung in die
industrielle, kapitalistische Gesellschaftstheorie der Europäer.
1921 wurde er Kommunist, trennte sich von Hu Schi und
versuchte mit Li Ta-tschao und Tschang Sung-nien
zusammen die Lehre von Karl Marx einzuführen.
Tsch'en Tu-hsiu's Gedankengang ist etwa der folgend:
Die Wirtschaft ist das Lebensprinzip der modernen Gesell¬
schaft. Sie setzt Selbständigkeit und Freiheit des Individuums
voraus. Diese fehlt in China, denn der Konfuzianismus negiert
sie durch die Übertreibung der väterlichen und der ehe¬
männlichen Gewalt. Die kindliche Liebe, wie sie der Kon¬
fuzianismus fordert, macht die individuelle Freiheit unmög¬
hch.
Der Sohn kann nichts selbständig erwerben, denn, was
er erwirbt, erwirbt er für den Vater. Er darf die Hausgemein¬
schaft nicht lösen und bleibt, so lange der Vater am Leben
ist, unselbständig. Der Vater kann den erwachsenen Sohn
sogar züchtigen und töten. Ein Sprichwort sagt: „Wenn der
Vater will, daß der Sohn stirbt, so muß er sterben, und wenn
der Fürst den Untergang eines Untertans will, so geht er
zugrunde"
Die Frau ist gänzhch unfrei und muß dem Vater, dem
Manne und dem ältesten Sohne folgen. Natürlich hat sie
keinerlei politische Rechte. Ein freier Verkehr zwischen Mann
und Frau wie in Europa ist verboten. Nach dem Liki darf
ein Mann nicht einmal einer Frau etwas zureichen, sondern
soll es in einen Korb tun, aus dem sie es nimmt, eine Regel,
die allerdings heute nicht mehr beobachtet wird. Die Frau
muß ihren Schwiegereltern wie eine Magd dienen, und diese
können, wenn es ihnen gefällt, die Ehe lösen, ohne sich um
die Gefühle der Ehegatten zu kümmern. In Europa ist die
Frau nicht an das Haus gefesselt, sie kann frei erwerben und
sich wieder verheiraten. In China gilt die Wiederverheiratung als unsittlich.
1) Kuo Tschan-po, S. 105.
A. Forke, Moderne chinesische Denker 219
Auch die Begräbnissitten hält Tsch'en für verkehrt, da
sie so große Kosten verursachen, daß die Familien oft da¬
durch ruiniert werden. Sie werden heute schon nicht mehr
strikte befolgt.
,,Die westliche Volksgemeinschaft, sagt Tsch'en Tu-hsiu,
ist auf Kampf und Streit aufgebaut, die östliche auf Frieden
und Ruhe. Die Konfuzianer schätzen Gewalt und Streit nicht
und noch viel weniger den Kampf. Die Taoisten geben nichts
auf Würde und fordern das Volk auf, nicht zu streiten. Sie
halten Waffen für Unglückswerkzeuge. Die Buddhisten ver¬
bieten das Töten von Tieren und verurteilen noch mehr das
harte Streiten. Die Volksgemeinschaften des Westens lieben
alle den Kampf und harten Streit, und in der Geschichte aller
Kulturen Europas ist jedes Wort mit frischem Blut ge¬
schrieben." ')
Die westliche Kultur beruht auf der Individualität, die
östliche auf dem Sippenverbande. Die erstere strebt danach,
dem Individuum Freiheit und Glück zu gewähren. Vor dem
Gesetze sind alle gleich. Das wird in allen Verfassungen be¬
tont. Die östliche Kultur ist aus dem Nomadentum hervor¬
gegangen*), das sich zum Sippentum und zum Feudalismus
entwickelt hat. Zuerst war ein Häuptling der Herrscher,
später folgte eine Feudalregierung. Auch heute ist es noch
nicht anders. Für Individuen ist kein Raum. Alle Familien¬
mitglieder gehorchen dem Familienhaupt. Pietät und Loyali¬
tät sind ihre besonderen Tugenden.
Das chinesische System hat vier Mängel: 1. Es vernichtet
die Selbständigkeit und Selbstachtung der Persönlichkeit.
2. Es hemmt die Freiheit ihrer Entschließung. 3. Es raubt
ihr die Gleichheit vor dem Gesetz. 4. Es nährt ihr Ab¬
hängigkeitsgefühl und lähmt ihre Erwerbskraft.
Seit dem Eindringen des industriellen, kapitalistischen
Gesellschaftsprinzips bricht das bäuerliche, sippenhafte, feu¬
dalistische immer mehr zusammen. Sein Hauptvertreter ist
1) Eod., S. 106.
2) Die alten Chinesen sind nicht Nomaden gewesen. Vgl. meinen
,, Ursprung der Chinesen", S. 3.
220 A. Forke, Moderne chinesische Denlcer
Konfuzius. Damit fällt auch seine Lehre, die alte Moral und
das alte Recht. Deswegen muß man sich einer neuen Lebens¬
ansicht zuwenden. Dazu äußert sich Tsch'en Tu-hsiu folgen¬
dermaßen:
„Was ist eigentlich der Zweck des menschlichen Lebens,
und wie sollte es geregelt sein ? Seit alter Zeit haben nicht
wenige sich mit der Beantwortung dieser Frage befaßt. Da
sind zuerst die Theologen. Die buddhistische Kirche zum
Beispiel erklärt, daß die Welt nur eine Illusion und daß das
Leben in Wirkhchkeit gar kein Leben sei. Die christliche
Kirche dagegen lehrt, das Menschengeschlecht sei ursprünglich
von Gott aus Erde geschaffen und nach dem Tode verwan¬
delte es sich wieder in Erde. An zweiter Stelle kommen
die Philosophen. Die Anhänger des K'u n g - 1 s e und Meng-tse
bilden eine große Gemeinde, die sich mit der Pflege der Moral
und mit der Verwaltung des Staates abgeben. Sie nehmen
an, daß das menschliche Leben einen sehr hohen Zweck
habe. Leute wie Lao-tse und Tschuang-tse sind der
Überzeugung, daß alle Dinge sich der Natur anpassen und
mit dieser in Übereinstimmung sein müssen. MeTi glaubt,
daß die Selbstaufopferung, um andern zu nützen, der Sinn
des Lebens sei. Yang Tschu legt auf das Ich das größte
Gewicht und hält es für überflüssig, mit andern über Tugend
zu reden. An dritter Stelle folgen die Wissenschaftler. Diese
betrachten die Menschen als eine Art materieller Wesen.
Sie haben nicht so etwas wie eine Seele. Lust und Leid,
Gutes und Böses während ihrer Lebenszeit unterliegen den
für die Sphäre der leiblichen Wesen gültigen natürlichen Ge¬
setzen. Nach dem Tode zerfällt der Leib, er verwandelt sich
und dient andern Zwecken, eine Erinnerung oder ein Bewußt¬
sein, anknüpfend an das Leben gibt es nicht. Von dieser Be¬
trachtung ausgehend können wir modernen Menschen die
Bedeutung des Lebens klar erfassen. Daraus sind folgende
Folgerungen zu ziehen:
i. Die einzelnen Menschen leben und sterben und sind
vergänglich, die Gesellschaft dagegen bleibt wirklich dauernd
erhalten.
A. FoKKE, Moderne chinesisclie Denker 221
2. Die Kultur und das Glück der Gesellschaft wird von
den einzelnen geschaffen, deshalb muß auch jeder einzelne
Anteil an dem Genuß haben.
3. Die Gesellschaft besteht aus Individuen, ohne diese
gibt es keine Gesellschaft, deswegen muß auf den Willen und
die Wünsche der Individuen Rücksicht genommen werden.
4. Die Gesellschaft stellt das allgemeine dauernde Leben
der einzelnen dar. Wenn die Gesellschaft sich auflöst, dann
fällt die fortlaufende Erinnerung und das Bewußtsein nach
dem Tode der einzelnen fort. Darum muß auf den Aufbau
und die Gliederung der Gesellschaft besonderes Gewicht ge¬
legt werden.
5. Das Festhalten an Entschlüssen und die Erfüllung von
Hoffnungen sind die Triebfedern, welche den einzelnen am
Leben erhalten. Sie ändern sich niemals.
6. Alle Religion, Gesetzgebung, Moral und Verwaltung
sind nur unentbehrhche Mittel zur Aufrechterhaltung der Ge¬
sellschaft. Sie sind nicht der Grund, weswegen der einzelne
das Leben liebt. Man kann sie nach Zeit und Umständen
ändern.
7. Glück im Leben ist, was der Mensch aus eigener Kraft
erwirbt. Es ist nicht ein Geschenk Gottes, und man erlangt
es nicht, wenn man sich auf den natürlichen Lauf der Dinge
verläßt.
8. Der einzelne in der Gesellschaft ist wie ein Embryo
im menschlichen Körper. Leben und Sterben folgen aufein¬
ander, es gibt keine Dauer, Jugend und Alter lösen sich ab.
Das entspricht der Vernunft, und man hat nicht den gering¬
sten Grund sich zu fürchten.
9. Wenn man Glück genießen will, darf man den Schmerz
nicht fürchten, denn oft bringt der Schmerz der lebenden
Generation das Glück der zukünftigen hervor')."
Tsch'en lehnt also die alten Ansichten der Theologen und
Philosophen ab und stellt eine neue, wie er glaubt, rein wissen¬
schaftliche Lebensansicht auf. Sie unterscheidet sich von den
1) A. a. O., S. 108.
222 A. Forke, Moderne chinesische Denlcer
alten Ansichten in folgenden Punkten: Der neue Mensch,
den Tsch'en schaffen möchte, soll sein frei und nicht sklavisch,
fortschrittlich und nicht reaktionär, weiterstrebend und
nicht weltentsagend, weltmännisch und nicht nationalistisch,
auf Vorteil bedacht und nicht rein schöngeistig, wissenschaft¬
lich und nicht nur Idealist.
Nachdem Tsch'en Tu-hsiu Marxist geworden war, erklärte
er die Grundgedanken dieser Lehre, die materielle Geschichts¬
auffassung, der Mehrwert der Arbeit, der Klassenkampf und
die Herrschaft des Proletariats. Die Gesellschaft und die
Produktion der Güter erschienen ihm als die Grundlage und
das Knochengerüst des ganzen Systems. Kultur, Religion,
Ethik, Erziehung, Verwaltung, Philosophie und Politik sind
nicht primär, sondern aus der Wirtschaft hervorgegangen,
denn, wie er es in einem Schreiben an Hu Schi ausdrückt,
diese geistigen Äußerungen stehen nicht mit der Wirtschaft
auf einer Stufe wie Brüder, sondern sind ihre Kinder. Hu Schi
stellt sie der Wirtschaft gleich. Die Bedeutung dieser geistigen
Bewegungen verkennt Tsch'en keineswegs, denn sie sind für
das Leben unbedingt nötig.
Als die kommunistische Partei sich in die Trotzky'sche
und die Stahn'sche Richtung spaltete, war Tsch'en Tu-hsiu
für die erstere, die chinesische rote Armee aber für letztere.
Diese glaubte, daß China noch im Feudahsmus lebte und
wollte die Bauern revolutionieren. Tsch'en war der Meinung,
daß der Kapitalismus schon erreicht sei. Der Feudalismus sei
in China längst vorbei und der freie Grundbesitz älter als in
Europa. Nur einige Überbleibsel von Feudalismus seien noch
im Markt- und Dorfverkehr zu finden.
Da er nicht mit der herrschenden Richtung überein¬
stimmte, wurde Tsch'en aus der Partei ausgeschlossen. Zu
seinen ketzerischen Ansichten gehörte auch sein Eintreten für
die besitzenden Klassen, die er höher stellte als Arbeiter und
Bauern. Eine chinesische Revolution, meinte er, sei erst
möglich, sobald die besitzenden Klassen reif dafür wären.
Durch das Studium der Schriften von Marx und Lenin
müßten sie darauf vorbereitet werden. Vorläufig müsse man
A. FoBKB, Moderne chinesische Denlcer 223
alle revolutionäre Tätigkeit vermeiden. Daher sei die rote
Armee mit ihren Sowjets aufzulösen, auf Streiks und Demon¬
strationszüge müsse man verzichten, statt dessen mit allen
Mitteln Kapital schaffen, um damit das Volk zu unterstützen.
Tsch'en Tu-hsiu erinnert uns etwas an K'ang Yu-wei,
insofern er die Zeit für die Durchführung seiner extremen
Ansichten noch nicht für gekommen erachtete und sie des¬
wegen hinausschob.
3. Hu Schi')
Meine Angaben über Hu Schi, geb. 1891, beschränken
sich auf sein materialistisches Glaubensbekenntnis, einige
Daten aus seinem Leben und seine bekanntesten Schriften*)
und sind zu ergänzen. Zunächst noch einige Werke : Geschichte
der Volkssprache Pai-hua wen-hsüe sehi. Das Buch von
Huai-nan tse Huai-nan wang schu. Kurze Geschichte des
chinesischen Denkens im mittleren Altertum Tschung-kuo
tschung-ku sse-hsiang sehi t'i-yao, Selbstbiographie im
Alter von 40 Jahren Sse-schi tse-schu, Sammlung von
Hu Schi's Schriften Hu Schi wen-ts'un (3 Sammlungen),
Auswahl aus Hu Schi's Schriften HuSchiwen-hsüan, Kurze
Erzählungen und Geschichten Tuan-p'ienhsiao-schuotchi
(3 Sammlungen), Sammlung von Tse-Gedichten Tse-hsüan,
Eindrücke von einer Reise im Süden Nan-yu ts'a-i*).
Hu Schi hat die Kenntnis des modernen Denkens vermittelt
und das alte chinesische Wissen verbessert. Den Konfuzianis¬
mus und das alte Wissen hat er bekämpft. Die leichtere Lite¬
ratur und die nichtkonfuzianische Philosophie hat er zur
Geltung gebracht und die Alleinherrschaft des Konfuzianis¬
mus gebrochen. Bei dem Kampf um die Einführung der
1) mm
2) Gesch. d. neueren chin. Philosophie, S. 648.
3) ö ffi§ ^ ^ m I #. + s + * m JS. & ^
^. m n m- m ^- m m X m- mm m m- m
m-mmm m-
224 A. Forke, Moderne chinesische Denker
Volkssprache an Stelle der alten Schriftsprache war er einer
der Hauptwortführer.
Den größten Einfluß auf sein Denken haben Huxley
und Dewey') ausgeübt. Von Huxley lernte er den Zweifel
und nichts zu glauben, wofür nicht vollständige Zeugnisse
und Beweise vorhanden waren, von Dewey die Denkmethode,
alle Lehrsätze und Ideen nur als Hypothesen hinzunehmen,
die Punkt für Punkt erst bewiesen werden mußten. So lernte
er die naturwissenschaftliche Methode des Denkens, die auch
Tsch'en Tu-hsiu gefordert hatte.
Darwin*) hat mit den Zeugnissen und Beweisen für die
Entwicklungslehre den Kirchenglauben an die Weltschöpfung
zerschlagen. Huxley ist sein Vorkämpfer. „Huxley sagte,
nur das Wissen, wofür vollständige Zeugnisse und Beweise
vorhanden sind, kann man glauben, sofern sie nicht vor¬
handen sind, muß man Zweifel hegen und darf nicht glauben.
Das ist die große Bedeutung des Zweifels. Unter keinen Um¬
ständen darf man Dinge, für welche nicht vollständige Be¬
weise vorliegen, hinnehmen und glauben. Das ist, was Huxley
, Zweifel hegen' nennt*)."
Dewey ist Pragmatist. Der Pragmatismus stammt von
Peirce und wurde von James*) und Dewey weiter ent¬
wickelt. James hat sich über die Wahrheit wie folgt ge¬
äußert: ,,Alle wahren Sätze können wir uns assimilieren und
sie gebrauchen, wir können sie nachprüfen und können sie
durch äußere Zeugnisse beweisen. Wir können in ihren Kern
eindringen und ihre Richtigkeit zeigen. Bei allen falschen
Annahmen ist das nicht der Fall. Der Beweis eines wahren
^) mmm-itm 2) <f
3) Hu Schi verwechselt den Zweifel M mit Agnostizismus
-f« ''f . Agnostizismus ist nach Huxley die Ansicht, daß man von
transzendenten Dingen kein Wissen haben könne. Den Pragmatismus
nennt er "Ff ^ , das bedeutet ,, experimentell prüfen", es muß heißen m . Vgl. Kuo T.schan-po, S. 122/123.
*) m m ±
A. KouKE, Moderne chinesische Deniter 225
Satzes besteht darin, daß wir iiin zu unserer vollständigen
Befriedigung gebrauchen können und daß er uns weiterführt.
Wenn ein Gedanke uns von unseren Erfahrungen auf einem
Gebiet zu neuen Erfahrungen auf einem andern Gebiet führt,
uns in allen seinen Folgerungen befriedigt und alles gut er¬
klärt, wenn er verwickelte Dinge klar und einfach macht
und schwierige Probleme leicht, wenn er alles das zustande
bringt, denn ist er wahr." Dazu bemerkt Hu Schi:
,,Ein wahrer Gedanke fällt nicht vom Himmel herab, er
ist dem Menschen auch nicht angeboren, sondern wird vom
Menschen geschaffen und dient ihm als Werkzeug. Weil ein
solcher Gedanke sich früher bewährt hat, deshalb haben
frühere Menschen ihn wahr genannt. Sollte aber eines Tages
eine andere Wahrheit zutage treten und die frühere Annahme
nicht dazu passen, dann ist sie nicht wahr, und wir müssen
nach einem neuen wahren Satze suchen und ihn an die Stelle
des alten setzen')."
Nach dieser Methode untersucht Hu Schi die alte Lehre
von den Drei Pflichten und den Fünf Beziehungen, San-
kang, wu-lun*). Die Alten hielten diese Pflichten für wahre
Grundsätze und göttliche Gebote, aber die Zeiten haben sich
geändert und die Regierungsform hat gewechselt. Der Fürst
ist weggefallen und damit auch die Pflicht des Gehorsams
und der Loyalität der Untertanen. Die Verordnungen des
Himmels und der Erde gelten nicht mehr*).
In der Lebensphilosophie interessiert Hu Schi ganz
besonders der Freiheitsbegriff und er stützt sich dabei
auf Ibsen's beide Dramen Nora und der Volksfeind. Nora
wird von ihrem Manne verhätschelt, aber sie muß alle seine
1) A. a. 0., S. 125.
2) H il?- -E Ifei die Pflichten des Untertans, des Sohnes und der
Frau gegenüber dem Fürsten, dem Vater und dem Manne. Dazu treten
dann noch die Beziehungen zwischen älteren und jüngerem Bruder und
zwischen Freunden.
3) Auch die Ansichten über das Verhältnis zwischen Eltern und
Kindern, Brüdern und Ehegatten haben sich in den führenden Schichten geändert.
Zeitschrift d. DMO Bd. 96 (Neue Folge Bd. 31) 15
226 A. Forke, Moderne chinesische Denlcer
Launen ertragen, darf keinen eigenen Willen haben und wird
als Sklavin behandelt. Darum verläßt sie ihren Mann, ihre
Famihe, ihr Kind, um ihre Persönlichkeit zu retten. Ihre
individuelle Freiheit ist ihr wichtiger als die Forderungen der
Gesellschaft. Dr. Stockmann im Volksfeind will seine Selb¬
ständigkeit haben und frei seine Meinung sagen und die
Schäden der Gesellschaft, in der er lebt, aufdecken. Sein
Motto ist: Der Starke ist am stärksten allein. Deshalb wird
er zum Volksfeind erklärt. Als überzeugter Individualist
spricht Hu Schi die Worte: „Kämpft für eure persönliche
Freiheit, dann kämpft ihr für die Freiheit des Staates, und
kämpft für eure Menschenwürde, dann kämpft ihr für die
Würde des Staates. Ein freier Staat mit Gleichberechtigung
kann nicht von einer Horde Sklaven errichtet werden')."
In der chinesischen Familie gibt es nach Hu Schi keine
Freiheit, und es haften ihr vier große Mängel an: Selbst¬
sucht und Eigennutz, Vertrauen auf andere und Sklavensinn,
falsche Tugenden und Verstellung, Schwäche und Mutlosig¬
keit. Die Moral der Ibsen'schen Gesellschaft ist verfault,
ebenso wie in China. Ein Beispiel: Die freie Verheiratung
ohne die Mitwirkung der Eltern ist gegen die Sitte, dagegen
können die Väter sich so viele Frauen nehmen, wie sie wollen.
Die chinesische Familie, sagt Kuo Tschan-po, kennt keine
Persönlichkeiten, nur äußerliche Sittsamkeit und erheuchelte
Tugenden. Diese falschen Tugenden, Vorschriften und Ver¬
gewaltigungen müssen vernichtet und freie Persönlichkeiten
geschaffen werden, die sich nur auf sich selbst, nicht auf
Gott verlassen, nur der Gegenwart vertrauen und sich nicht
um die Zeit nach dem Tode kümmern.
Was die Unsterblichkeit anbetrifft, so unterscheidet
Hu Schi das große und das kleine Ich, den einzelnen und
die Gemeinschaft. Nur letztere ist unsterblich '). Dem großen
Ich gegenüber hat das kleine die größten Verpflichtungen.
Hu Schi's eigene Worte sind :
1) A. a. O., S. 128.
2) Diese Theorie hat Hu Schi dem Liang Tsch i-tsch'ao entlehnt.
Vgl. Gesch. d. neueren chin. Philosophie, S. 609.
A. Forke, Moderne chinesische Denlcer 227
„Mein jetziges kleines Ich trägt dem großen, ewigen und
unvergänglichen Ich der unendlichen Vergangenheit gegen¬
über eine schwere Verantwortung und gegenüber dem großen,
ewigen und unvergänglichen Ich der unendlichen Zukunft
ebenfalls eine schwere Verantwortung. Wie sehr muß ich
mich anstrengen, mein jetziges kleines Ich zu fördern, damit
ich gegenüber dem großen Ich der unendlichen Vergangenheit
nicht versage, und wie sehr muß ich mich für mein kleines
Ich anstrengen, damit ich nicht Schädigungen für das große
Ich der unendlichen Zukunft hinterlasse!"
„Das auf der Lebensphilosophie und der Gesellschafts¬
lehre beruhende Wissen lehrt den Menschen, daß das kleine
Ich jedes einzelnen stirbt und erlischt, daß aber das große
Ich der Menschheit nicht stirbt und nicht vergeht. Es lehrt
den Menschen, daß das große Ich für alle Geschlechter und
tausend Generationen am Leben bleibt. Das ist Religion,
die höchste Religion. Diejenigen Religionen, welche für die
Individuen nach dem Tode ein Paradies oder Elysium ') er¬
dacht haben, sind selbstsüchtige und eigennützige Reli¬
gionen *)."
Das ist Hu Schi's naturwissenschaftliche Lebensauffassung.
Sehr scharf wendet er sich gegen die von Tschuang-tse
und Wu Tschi-hui geäußerten Ansichten: ,,Es gibt Leute,
die zu dir sagen: Das menschliche Leben ist wie ein Traum,
es ist wie ein Theater*). In Wahrheit ist das menschliche
Leben kein Traum und kein Theater, sondern es ist sehr
ernste und schwere Wirklichkeit. Wenn du Getreide pflanzst,
dann können Menschen ihren Hunger damit stillen. Wenn du
Bäume pflanzst, dann können andere Brennholz davon
hacken oder die Kühle der Bäume genießen. Wenn du aber
faules Zeug aufhackst, dann können die Menschen erkranken
und, wenn du Wildfeuer anlegst, dann können Menschen
darin verbrennen. Wenn du Gurken pflanzst, dann erntest
1) Das buddhistische Sukhävati.
2) A. a. O., S. 130.
3) Vgl. Gesch. d. neueren chin. Philosophie, S. 645.
15»
228 A. Fobke, Moderne chinesische Denlcer
du Gurken, und wenn du Bohnen pflanzst, Bohnen. Säst du
Disteln und Dornen, dann erntest du Disteln und Dornen.
Was wollt ihr pflanzen, meine jungen Freunde, und was
könnt ihr pflanzen ') ?"
Hu Schi übt an der konfuzianischen und östlichen Kultur
die schärfste Kritik und preist die westliche in allen Tonarten:
Die Leute sagen: die östliche Kultur sei eine geistige, die
westhche eine materialistische. Das ist törichtes Gerede, um
die Beschämung zu verdecken. Die Chinesen haben einige
Erfindungen gemacht und einige gute Bücher geschrieben,
aber dann sind sie stehengeblieben, haben die Hände in den
Schoß gelegt und eine Philosophie der Indolenz geschaffen.
Im Kampf mit den Dingen sind sie unterlegen. In Jahren
von Mißernten sind sie geflohen und statt Krankheiten zu
heilen, haben sie die Geister angerufen. Einfältige Leute haben
der Jugend einreden wollen, daß die alte chinesische Kultur
jeder fremden überlegen sei und ihre Ethik besser als die
irgendeines andern Landes. Leute, die nie aus ihrem Lande
herausgekommen sind, rufen unter Aufbietung aller ihrer
Stimmittel der Jugend zu: ,, Wendet euch nach Osten, nach
Osten *)! Die Akrobatenkunststücke *) des Westens wollen wir
nicht mitmachen." Darauf antwortet Hu Schi: „Ich sage
euch, laßt euch von diesen Leuten nicht betören! Wir müssen
eingestehen, daß wir den Europäern nicht nur in der Industrie
und im Maschinenbau nicht gleichkommen, nicht nur in der
Regierung und Verwaltung, sondern auch in der Moral, in
der Wissenschaft, in der Literatur, in der Musik, in der Kunst
und in der Körperpflege."
„Das charakteristischste Zeichen der östlichen Kultur ist
die Zufriedenheit, das der modernen westlichen Kultur die
Unzufriedenheit. Die zufriedenen Ostasiaten finden sich mit
ihrem primitiven, schlechten Leben ab. Deshalb streben sie
1) A. a. O., S. 131.
2) Das ist der Ruf des Liang Schu-ming, S. 29.
3) Wu Tschi-hui macht sich über das Seiltanzen und die Akrobaten¬
kunststücke der Philosophie lustig.
A. Fobke, Moderne chinesische Denlcer 229
nicht danach, durch materielle Genüsse in die Höhe gehoben
zu werden. Sie denken nicht daran, die Natur sich Untertan
zu machen und lassen sich mit dem, was der Himmel und das
Schicksal ihnen bieten, genügen. Auf diese Weise werden sie
von ihrer materiellen Umwelt festgehalten und regiert, und
sie vermögen nicht ihr zu entfliehen. Sie können nicht ihr
Denken und ihre Verstandeskräfte in Bewegung setzen, um
ihre Umwelt umzugestalten und die augenblickliche Form
ihrer Kultur zu verbessern. Das ist die Kultur einer trägen
und nicht fortschrittlichen Volksgemeinschaft. Das ist in
Wahrheit eine materialistische Kultur."
,,Die Menschen im Westen sind ganz anders. Sie sagten
sich, die Unzufriedenheit ist ein heiliger Geist. Da sie mit den
materiellen Dingen nicht zufrieden waren, so schufen sie
dieses Zeitalter von Eisen und Stahl, das Zeitalter der Dampf¬
maschine und der Elektrizität, und da sie mit den geistigen
Dingen nicht zufrieden waren, so schufen sie dieses wissen¬
schaftliche Zeitalter. Auf diese Weise setzten sie die mensch¬
liche Klugheit und Intelligenz vollkommen in Bewegung und
fanden die wahren Prinzipien, um den menschlichen Geist zu
befreien. So unterwarfen sie sich die Natur und machten sie
den Menschen dienstbar, und sie schufen das größte Glück
für die größte Anzahl von Menschen. Das ist wahrlich eine
idealistische Kultur und keine materialistische')."
In der Politik gibt es nach Hu Schi in China drei Rich¬
tungen :
1. Sun Yat-sen und die Regierungspartei wollen für China
Freiheit und Gleichberechtigung.
2. Die Jugendpartei will die Selbständigkeit des Reichs,
Freiheit des einzelnen und freie Bewegung im inter¬
nationalen Verkehr.
3. Die Kommunisten wollen die Sicherung der Herrschaft
der Sowjets und der Revolution des chinesischen Prole¬
tariats.
1) A. a. O., S. 132/133.
230 A. Forke, Moderne chinesische Denlcer
Hu Schi ist für keine dieser Parteien. Er wünscht einen
Staat, in welchem Ruhe, Wohlstand, Bildung und Einheit
herrscht. Fünf Feinde sind zu beseitigen, närrilich Armut,
Krankheit, Unbildung, Schmutz, Aufruhr. Jede gewaltsame
Revolution lehnt er ab, da sie nur Unheil schafft, den Frieden
stört, die schlechten Triebe der Menschen anfacht und die
genannten fünf Feinde fördert. Dagegen will er eine friedliche,
geistige Revolution auf allen Gebieten und schrittweisen Fort¬
schritt.
Hu Schi hat das europäisch-amerikanische Denken in
China eingeführt und dadurch das chinesische Denken in
manchen Punkten verbessert. Durch seine Gedankenfülle und
Klarheit hat er großen Einfluß auf die chinesische Wissen¬
schaft und Literatur ausgeübt. Da er aber über seinen Stand¬
punkt im Jahre 1918 nicht hinausgegangen ist, so hat er die
Führung im heutigen chinesischen Geistesleben wieder ver¬
loren.
4. Li Ta-tschao
Li Ta-tschao, mit dem Beinamen Schou-tsch'ang'),
1888—1927 wurde in Lo-t'ing hsien*) (Tschih) geboren. Er
studierte in Peking und an einer japanischen Universität Ver¬
waltung und Wirtschaft und wurde zuerst an der Bibliothek
der Peking-Universität angestellt. 1920 zum Professor für
Geschichte ernannt, las er über Verwaltung, dann als Lehrer
am Lehrerinnenseminar in Peking über Geschichte der
Frauenbewegung, Soziologie und Geschichte der Philosophie.
Darauf wurde er Professor für Verwaltung und Wirtschaft.
Mit Hu Schi und Tsch'en Tu-hsiu zusammen gab er die
Zeitschrift „Neue Jugend" heraus. 1924 wurde er zum Kom¬
missar der Kuo-min tang in der Zentrale ernannt. 1927 wurde
er bei den politischen Unruhen in Peking in der russischen
Gesandtschaft gefangen und mit zwanzig andern von den
Soldaten des „christlichen" Generals F§ng Yü-hsiang er-
1) m:k m- ^
2) mi^-m
A. FoRKB, Moderne chinesische Denlcer 231
drosselt. Kuo Tschan-po bemerkt dazu, daß Li wie Sokrates
für seine Überzeugung den Tod erlitten habe.
Da Li Ta-tschao sehr arm war, war kein Geld für das
Begräbnis vorhanden, und der Sarg wurde vorläufig in einem
Tempel aufbewahrt. Erst 1933 fand seine feierliche Beisetzung
in den Westlichen Bergen statt. Der Präsident der Peking¬
universität hatte eine Sammlung dafür veranstaltet. Das
Volk folgte dem Sarge und feierte den Verstorbenen als
Helden. In der Totenklage hieß es: ,,Im Süden ist Tsch'en')
ins Gefängnis geworfen — was nützte ihm seine Weisheit ? —
aber er konnte über den Tod später lächeln. — Li im Norden
ist noch wie lebend unter uns — warum sollten wir um ihn
weinen ? — Für die Revolution hat er gekämpft — für die
Revolution hat er sich geopfert — sicherlich hat er seinen
Tod nicht beklagt. — Er hat unter Bedrückung gelebt —
und unter Bedrückung hat er geseufzt — wie hätte er sein
Leben noch länger ertragen können!"
Li Ta-tschao schrieb: Wichtige Punkte der Geschichts¬
wissenschaft Schi-hsüe yao-lun, Geschichte der An¬
sichten über Geschichtswissenschaft Schi-hsüe sse-hsiang
sehi, Geschichtsauffassung Schi-kuan, Wert der materia¬
listischen Geschichtsauffassung für die moderne Geschichts¬
wissenschaft Wei-wu schi-kuan tsai hsien-tai shi-
hsüe schang tschi tchia-tschi, Saint Simon's Ge¬
schichtsauffassung Sang-hsi- men ti li-schi-kuan,Comtes
Geschichtsauffassung K'ung-tao-hsi ti li-schi kuan, Er¬
klärung der Veränderungen des modernen chinesischen Den¬
kens aus der Wirtschaft Yu tching-tch'i schang tchieh-
schi tschung-kuo tchin-tai sse-hsiang pien-tung
tschi yuan-yin, Demokratische Regierung und Arbeiter¬
regierung P'ing-min tscheng-tschi yü kung-jen
tscheng-tschi, Untersuchungen über Rußland 0-lo-sse
yen-tchiu, Wechsel der materiellen Bedingungen und
Wechsel der moralischen Anschauungen Wu-tschi pien-
tung yü tao-te pien-tung, Jugend Tch'ing-tsch'un,
1) Tsch'to Tu-hsin.
232 A. Forke, Moderne chinesische Denlcer
Jetzt und einst Tchin yü ku, jetzt Tchin. Diese Aufsätze
sind in verschiedenen Zeitschriften verstreut und noch nicht
gesammelt
Im Anschluß an die europäische Philosophie entwickelte
Li seine eigenen Gedanken und wies manche alten chinesischen
Ansichten zurück. Dadurch leitete er die dritte Epoche,
1928—1935, ein.
Seine Weltansicht ist die des Heraklit. Die Welt ist
in beständigem Fluß, in ewiger Entwicklung und Zerfall. Die
Gegenwart geht aus der endlosen Vergangenheit hervor und
mündet in die unendliche Zukunft. In diesem Fluß fließt auch
das Leben meines Ichs dahin. „Daher ist die Wirklichkeit
Bewegung und das Leben ein Dahinströmen *)." Die Welt ist
unendlich in Raum und Zeit und in ewiger Evolution und
Dissolution begriffen. Die Einzelwesen sind nicht unendlich.
Der Wechsel entsteht durch Gegensätze.
„Einige Philosophen sagen von der Zeit, es gäbe nur
Vergangenheit und Zukunft, aber keine Gegenwart. Andere
behaupten dagegen, Vergangenheit und Zukunft seien beides
Gegenwart. Mir scheint der Satz, daß Vergangenheit und
Zukunft Gegenwart sind, nicht unbegründet zu sein. Nämlich
die Gegenwart ist die aus der Vergangenheit zusammen¬
geströmte Zeit, mit andern Worten, alles, was vergangen ist,
ergießt sich in die Gegenwart. Die Gedankenflut einer Zeit
bleibt nicht nur in jener Zeit im Leeren hängen, denn es gibt
sehr viele Gedankenströme, von denen man sehr wohl sagen
kann, daß sie aus dem Zusammenfließen von Gedanken aus
früherer Zeit entstanden sind. Wenn ich einen Stein in den
Strom der Zeit werfe, so werden die Wellen, welche er erregt,
und der Ton bis in alle Ewigkeit sich ausbreiten, weiter-
1) öl ^ © SR öl- * M- ms^ &m^.^
ji:tmii.- ^m^m- iimmmm
^ m- ^ mm±mm ^ m i&.R Bmm^ :t m-^
Si^iämxAmiü-mmmm^-mnmwjmmm
m ^- ff m- ^mis.^.
2) A. a. O., S. 144.
A. Forke, Moderne chinesische Denlcer 233
fließen und nie zur Ruhe kommen. Der Schuß gegen den
Kopf Lincolns wird auf ewige Zeiten im leeren Räume wider¬
hallen. Jede Bewegung einer Zeit hört niemals auf und bleibt
auch in der darauffolgenden Zeit erhalten, und so pflanzt
sie sich bis ins Unendliche fort. Die Dinge des gestrigen
Tages bilden mit den Dingen des heutigen Tages durch Ver¬
knüpfung sehr viele komplizierte Dinge, und diese kompli¬
zierten Dinge vereinigen sich weiter mit vielen komplizierten
Gebilden des morgenden Tages zu sehr verwickelten Dingen.
Kraft vereint sich mit Kraft, und eine Frage zieht die andere
nach sich')."
Das Kostbarste in der Welt ist die Gegenwart. Man muß
die Gegenwart benutzen, um die Zukunft zu gestalten. Gutes
und Schlechtes pflanzen sich fort. Pflicht des Lebens ist es,
für spätere Menschen Gutes zu tun, „damit mein ewiges Ich
es genießen kann". Dann versteht man auch den Sinn des
Satzes: ,,Die Welt ist das Ich, und Ich bin die Welt" (das
Große Ich)*).
Li Ta-tschao ist Optimist. Man soll sich der Gegenwart
freuen, sich anstrengen, nicht betrüben und nicht fürchten,
denn das nützt nichts.
Über das Wesen der Geschichte hat Li viel nachgedacht
und viel geschrieben. Historische Tatsachen, sagt er, stehen
fest, sind unabänderlich und tot, aber die Erklärung wechselt
nach Zeit und Personen und ist lebendig. Um eine richtige
Ansicht vom Leben zu erlangen, muß man eine sichere und
richtige Geschichtsauffassung haben. Geschichte sind nicht
die alten Werke oder das Material. Daraus wird die lebendige
Geschichte erst geformt. Es ist ein Abschnitt, welcher eine
Darstellung des Lebens der Gesellschaft gibt, des Lebens des
Menschengeschlechts, eine Verknüpfung von Vergangenheit,
Gegenwart und Zukunft.
1) A. a. O., S. 146. Die geistreichen Ausführungen sind nicht sehr
überzeugend. Die Vergangenheit ragt mit gewissen Auswirkungen in die
Gegenwart hinein, aber nur mit wenigen. Die Vergangenheit als Ganzes
ist nicht in der Gegenwart enthalten. Wäre auch die Zukunft Gegen¬
wart, so müßte man sie voraussehen können.
2) Kod., S. I'i7.
1 •
234 A. Fobke, Moderne chinesische Denlter
Die sittliciien Grundsätze sind in der Gemeinschaft
wirksame Kräfte, die den Lebensbedürfnissen entsprechen
und sich mit diesen ändern und entwickeln. Die Lehren der
Heiligen und Weisen eines Zeitalters sind nicht unabänder¬
liche Wahrheiten für alle Zeit. Sie werden nach den Er¬
fordernissen der Volksgemeinschaft und der Entwicklung des
Volkslelens umgestaltet. Sie können ihre Bedeutung und
ihren Wert verlieren, wenn sich irgendwo oder irgendwann
große Veränderungen vollziehen. Neue Grundlagen der ma¬
teriellen Kultur bringen auch neue sittliche Grundsätze her¬
vor. Es gibt nur einen Fortschritt, kein Stehenbleiben und
keinen Rückschritt der materiellen Kultur, und dem folgt
auch die Ethik. Materielle Dinge sind die Grundlage der
Gemeinschaft, sittliche Grundsätze ein Reflex dieser Gemein¬
schaft, ein Aufbau, der sich mit einer Änderung der Grund¬
lage ändern muß.
Die alte Gesellschaft ist von der neuen verschieden. Die
alte Gesellschaft hatte höhere und niedere Klassen, die hö¬
heren unterdrückten die niederen mit Gewalt. Die neue hat
die Klassen zerschlagen, verlangt Gleichheit und sucht alle
durch Liebe zu einen.
Auch die konfuzianische Lehre ist nicht für die
Ewigkeit. Konfuzius war Philosoph eines bestimmten Zeit¬
alters, aber nicht für alle Zeiten. Seine Lehre paßte für die
bäuerliche Gesellschaftsform, welche sich zweitausend Jahre
kaum verändert .hat. Jetzt ist ein Wechsel in der Wirtschaft
eingetreten, daher ist sie nicht mehr geeignet. Die alte chi¬
nesische Ethik hat die „Großfamihe" zu ihrer Voraussetzung.
Diese Gesellschaftsform ist mit dem Wandel des modernen
Denkens zusammengebrochen (?). Wenn man zu der alten
Kultur zurückkehren will, muß man die neue, auf die euro¬
päische basierende, wegfegen. Dazu ist niemand imstande.
Das neue Denken beruht auf der neuen Form der Wirtschaft,
es ist keine Erfindung der chinesischen Jugend.
Die östliche und die westliche Kultur haben ver¬
schiedenen Charakter, die erstere ist ruhig, die letztere be¬
wegt. Die chinesische Kultur wird von der europäischen
A. Fobke, Moderne chinesische Denker 235
durch das Tafelland von Hochasien und durch hohe Gebirge
getrennt, die von Osten nach Westen laufen. Die Chinesen
bewohnen den Süden, die Europäer den Norden. Der Süden
hat reichlich Sonne und ist von der Natur gut bedacht und
reich beschenkt, daher lebt er mit der Natur und mit den
Artgenossen im Einklang. Der Norden hat nur wenig Sonne
und ist von der Natur stiefmütterlich behandelt, daher in
stetem Kampf mit der Natur und den Artgenossen. Demnach
sind die Chinesen so, wie die Natur sie geschafien hat, fried¬
lich, negativ, abhängig, konservativ, die Europäer umge¬
wandelt, kämpferisch, positiv, selbständig, fortschrittlich.
Für die Chinesen hat die Natur gut gesorgt, die Europäer
haben sich die Natur unterworfen.
Der Süden ist reich an Naturgütern, daher wandte er sich
dem Ackerbau mit seßhafter Bevölkerung zu, der Norden ist
schlecht versorgt, daher zogen die Leute umher, wurden
Händler und Handwerker. Der Süden, da seßhaft, war reich
an Familien, der Norden unstät umherziehend weniger zahl¬
reich. So entwickelte der Süden einen starken Familiensinn,
der Norden die Einzelpersönlichkeit. Im Süden hatte man
mehr Frauen als Männer, daher kam Vielweiberei und die
Geringschätzung der Frau, im Norden mehr Männer, daher
stammt die Monogamie und die Ehrung der Frau.
Zu diesen sehr maßvollen Ansichten passen Li Ta-tschao's
radikale politische Ideen sehr wenig. Statt der Volks¬
herrschaft, der Demokratie, befürwortet er die Herrschaft der
Arbeiter, die er nach Bohun') Ergatokratie nennt. Zur
Zeit bestehe angeblich die Volksherrschaft, aber in Wahrheit
sei es die Herrschaft der Bürger, der Mittelklasse. Zuerst
müsse durch die Diktatur des Proletariats die Herrschaft der
Mittelklasse beseitigt werden, dann fallen alle Klassen weg
und es folgt die Arbeiterherrschaft, denn es gibt dann nur noch
Arbeiter. In seinen politischen Auseinandersetzungen zitiert
Li auch Masaryk.
1) Wohl ein Russe.
236 A. Fobke, Moderne chinesische Denlter
5. Liang Scliu-ming
Meine Ausführungen über Liang Schu-ming') aus
Kuei-lin*) in Kuangsi, geboren 1894*), bedürfen noch der
Ergänzung. Liang studierte in der Schule für Rechtswissen¬
schaft und Verwaltung in Tschili, wurde Sekretär im Justiz¬
ministerium und 1917 Professor der Philosophie in Peking,
wo er indische Philosophie lehrte. Dann wurde er im Schul¬
wesen von Schantung beschäftigt, Kommissar in der Pro¬
vinzialverwaltung von Kuang-tung und Leiter einer Schule
für Dorfverwaltung in Ronan, so daß er außer seinen philo¬
sophischen Arbeiten auch einen Kalender für Dorfverwaltung
schrieb. Seine Aufsätze sind unter dem Titel: Schu-mings
Aufsätze vor 30 Jahren Schu-ming san-schi nien tch'ien
wen-lu und Schu-mings Aufsätze nach 30 Jahren Schu-
ming san-schi nien hou wen-lu gesammelt. Außerdem
schrieb er noch Das sehr späte Erwachen der chinesischen
Volksgemeinschaft bei ihren Versuchen zur Selbstrettung
Tschung-kuo min-tsu tse-tchiu yün-tung tschi tsui-
hou chiao-wu*).
Liang Schu-ming ist einer der wenigen, welche den Re¬
formbestrebungen ihrer Zeitgenossen entgegen und für die
alte chinesische Kultur eintreten. Die indische Kultur soll für
China ganz unbrauchbar sein, die europäische ist anzu¬
nehmen, aber von Grund auf umzugestalten, und die alte
chinesische Kultur ist wieder zu Ehren zu bringen. Die
europäische Kultur nennt er Akrobatik oder Körper¬
verrenkung und fordert seine Landsleute auf nach Osten
zu gehen und nicht nach Westen. Die europäische Kultur
sei materialistisch, die chinesische idealistisch. Statt
selbst die europäische Bildung anzunehmen, empfiehlt er den
1) mmm 2) tt
3) Gesch. d. neueren chin. Philcsophie, S. 633.
^)^m^-]r¥m%m,mm^-i'^m^u-^m
&mjä ^mm:tMm^m-
•
A. Fobke, Moderne chinesische Denker 237
Europäern die weniger engherzige Lebensauffassung des Kon¬
fuzius.
Weder Demokratie noch Bolschewismus, weder Kapitalis¬
mus noch Kommunismus eigneten sich für China. Gegen die
Demokratie macht er besonders folgendes geltend. Die Volks¬
herrschaft ist für China nicht geeignet, denn das chinesische
Leben ist noch zu einfach und primitiv. Nur wenige Menschen
können lesen und schreiben, die meisten sind zum Herrschen
ganz ungeeignet. China ist zu groß und seine Verkehrswege
sind noch nicht entwickelt, daher kann sich das Volk nicht
viel um die Regierung kümmern. Auch Handel und Gewerbe
sind noch nicht soweit entwickelt, daß eine Volksregierung
wünschenswert erscheinen könnte.
Das Prinzip, worauf sich in China die Regierungsgewalt
stützt, ist die Sitte. Dies läßt sich mit der Demokratie
nicht vereinigen, denn darin geht die Herrschaft vom In¬
dividuum aus, das die andern bekämpft.
6. Tschang Tung-sun
Tschang Tung-sun stammt aus Hang-hsien') in
Tschekiang und wurde im Jahre 1886 geboren. Er war
Professor an verschiedenen Hochschulen, zuletzt Direktor
einer Hochschule in Canton. Sehr lebhaft in seinem Wesen,
zeigte er ein warmes Interesse für die Jugend. Zur Ein¬
führung der ausländischen Philosophie in China hat er mit
am meisten beigetragen. Er machte sich mit den verschieden¬
sten Richtungen, mit Plato und Aristoteles, dem Nomi¬
nalismus und Realismus des Mittelalters, dem modernen
Empirismus und Rationalismus und dem neuen Re¬
alismus und Evolutionismus der neuesten Zeit bekannt
und nahm daraus Anregungen für seine eigene Philosophie.
Obwohl er niemals in Europa gewesen ist, kannte er mehr
von der europäischen Literatur als die meisten chinesischen
Studenten, welche lange im Auslande gelebt haben. Im
Jahre 1923 nahm er an dem denkwürdigen Streit zwischen
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238 A. Forkb, Moderne chinesische Denlcer
Metaphysik und Naturwissenschaft lebhaften Anteil und war
einer der wenigen, welche für die Geisteswissenschaften
kämpften'). Damals schrieb er die Aufsätze ,, Vergebliche
Mühe" Lao erh wu kung und „Philosophie und Natur¬
wissenschaft" Tsche-hsüe yü ko-hsüe"). Er rühmt sich
selbst eines skeptischen Idealismus. In seinen Schriften
ist er am meisten beeinflußt von Plato, Kant und G. H.
Lewes*).
Seine Schriften sind: Sechs Platonische Dialoge Po-la-
t'u tui-hua tchi liu-tschung, ferner übersetzte er die
Hauptwerke Bergson's, L'Evolution creatrice Tschuang-
hua lun, Matiere et Memoire Wu-tschi yü tchi-i*) und
Essai sur les donnöes immediates de la conscience und schrieb
eine Kritik über die Philosophie Bergson's und Russell's
und über die Philosophie von William James, Whitehead
und Rickert. Weitere Werke sind: Philosophie Tsche-
hsüe, ABC der Philosophie Tsche-hsüe ABC, Abriß
der Geschichte der neueren westländischen Philosophie
Tchin-schi hsi-yang tsche-hsüe sehi kang-yao,
Moderne Ethik Hsien-tai lun-li hsüe, ABC der psychi¬
schen Analysis Tching-schen fen-hsi ABC, Das ABC
der Lebensansicht Jen-scheng kuan ABC, Moralphilo¬
sophie Tao-te tsche-hsüe. Gesammelte Aufsätze über
moderne Philosophie Hsin tsche-hsüe lun-t'sung, Er¬
kenntnistheorie Jen-tschi lun. Tschang gab auch die Zeit¬
schriften Leuchte der Wissenschaft Hsüe-teng und Wieder¬
geburt Tsai-scheng*) heraus.
Mit besonderer Vorliebe hat Tschang Tung-sun erkenntnis¬
theoretische Probleme behandelt, wobei er sich an Lewes
1) Gesch. d. neueren chin. Philosophie, S. 647 ff.
2) ^mm:fj}.=sm m^^m
3) Positivist und Verfasser einer bekannten Goethe-Biographie.
4) ifü&mmmi&:^m-Mutm-m^^<i^nmtiiM
5) © e^ ABC. & ikmw=smAm^-^mii
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A. Forke, Moderne chinesische Denlcer 239
anschließt. Er nimmt eine Mehrheit von Elementen der Er¬
kenntnis an und spricht daher von Epistemological Plu¬
ralism. Kant soll nur zwei Elemente der Erkenntnis an¬
nehmen, das Subjekt und das Objekt und die Prinzipien und
Normen nur dem Subjekt zuschreiben. Tschang fmdet sie
auch in der Außenwelt. Nach seiner Ansicht setzt sich die
Erkenntnis zusammen aus 1. Anschauung; 2. Norm; 3. Urteil.
Die einzelnen Elemente der Erkenntnis sind: 1. Der Er¬
kennende; 2. Das Erkannte. Außer dem Erkannten gibt es
dann noch 3. Das absolut unerkennbare äußere Ding').
4. Die relativ erkennbare äußere Welt. In dem Erkennenden
ist 5. Das absolut unerkennbare Selbst. 6. Die relativ erkenn¬
bare innere Welt.
Auf dieser Theorie ruht seine Weltansicht, die er so
formuliert: ,, Unsere Welt ist nicht die wirkliche Substanz,
sondern nur ein Gebilde, und dieses Gebilde ist nicht von selbst
vollständig in sich abgeschlossen, sondern es bedarf noch der
Hinzunahme unseres Erkenntnisvermögens, da wir dieses
nicht beiseite schieben können, um das Wesen dieses Gebildes
zu erschauen. Aber wenn dieses Gebilde in unserer Erkenntnis
auch nicht ganz der Wirklichkeit entspricht, so weicht es
doch nicht vollkommen davon ab. Daher können wir sagen,
daß die Welt ein Gebilde ist')".
Der Sinn scheint zu sein, daß wir die Welt nicht erkennen,
wie sie wirklich ist, denn das Gebilde, welches unser Erkennt¬
nisvermögen uns zeigt, ist nicht das wahre Sein. Aber dieses
Bild ist auch nicht eine reine Illusion, sondern es gleicht doch
bis zu einem gewissen Grade dem Ding an sich, so daß wir
von diesem zwar keine vollständige, aber doch eine an¬
nähernde Vorstellung haben.
Tschang's Lebensansicht läuft darauf hinaus, daß das
Leben ursprünglich keinen Zweck und kein Ziel hat, ebenso
wie eine abgefeuerte Rakete kein Ziel hat. Später kann ein,
wenn auch begrenztes Ziel hinzugefügt werden. Das soll wohl
1) Das Ding an sich.
2) A. a. O., S. 188.
240 A. Fobke, Moderne chinesische Denlcer
heißen, daß dem Leben ein Ziel zugeschrieben werden kann,
weil es dieses faktisch erreicht, wenn es auch ursprünglich
nicht beabsichtigt war. Dies Ziel soll darin bestehen, daß
das Leben aus dem Nichtsein kommt und ins Sein übergeht.
Von der Freiheit wird etwas Ähnliches behauptet. Aus der
Unfreiheit gelangt der Mensch zur Freiheit'). Den Wert des
Lebens sieht Tschang in der Kultur, der Neigung zum
Guten und der Vervollkommnung. Zu dem Zweck müssen
der natürliche Lebensprozeß und die Vernunft zusammen¬
wirken.
Das lieben wird begrenzt durch Raum und Zeit. Die
Menschheit strebt danach, sich darüber zu erheben durch die
Kultur. Diese zerfällt in verschiedene Teile. Eng mit den
realen Dingen zusammenhängend ist die Wirtschaft. Die Bin¬
dung der Mengen geschieht durch die Regierung, das Er¬
kennen der Prinzipien vermittelt die Wissenschaft und die
Normen für das Handeln liefert die Ethik.
Uns umgibt die Kultur wie den Fisch das Wasser. Wie die
Natur des Fisches durch das Wasser geändert werden kann,
so kann auch die Menschennatur durch die Kultur geändert
werden. Der Mensch kann ohne Kultur nicht leben, ebenso¬
wenig der Fisch ohne Wasser.
Die Ethik, heißt es weiter, erzeugt den Fortschritt zum
Guten und hält vom Bösen ab. Sie geht aus von Aufrichtig¬
keit und Wohlwollen. Aufrichtigkeit und Treue beziehen sich
auf die eigene Person, Wohlwollen und Gegenseitigkeit auf
andere. Alle andern Tugenden entstehen aus der weiteren
Entwicklung dieser Grundtugenden. Die Tugend ist der wich¬
tigste Teil der Kultur, wodurch der Mensch sich über das
reine Naturleben erhebt.
In der Staatsphilosophie tritt Tschang Tung-sun für
die republikanische Staatsform ein und stützt sich dabei auf
die Naturwissenschaften.
1) Eod.