Konfuzius in der Volksrepublik China
'/ Von Rudolf Heezee, Bochum
Es erscheint wissenswert und reizvoU zugleich zu untersuchen, welches
Schicksal Konfuzius, chinesisch K'ung-tzu (551—479 v. Chr.), Heihger
und ungekrönter König durch zwei Jahrtausende chinesischer Ge¬
schichte, in der Volksrepublik China erfahren hat. Welche Bewertimg
wird der Persönhchkeit des Weisen und seiner Lehre zuteil ? Trifft die
Mutmaßung zu, Konfuzius sei als provozierendes Symbol einer verab-
scheuungswürdigen Gesellschaftsordnung, des Feudalismus, im kom¬
munistischen China endgültig der Verdammung anheimgefallen ?
Die frühesten in der Volksrepublik China veröffentlichten Beiträge,
die das Thema der Bewertimg des Konfuzius und seirer Lehre zum
Gegenstand haben, erscheinen in der ersten Hälfte der fünfziger Jahre.
Gefördert durch die relative geistige Freiheit in der Periode der Hundert-
Blumen-Bewegung 1956—1957, wieder abebbend infolge der von Cn'Eisr
Po-TA 1958 verkündeten und für die chinesische Kulturpolitik der
darauffolgenden Zeit maßgebenden Devise hou-chin po-ku (Großen
Wert auf das Neue, geringen Wert auf das Alte legen), erreicht die
Diskussion über Konfuzius in den Jahren 1961—1962 ihren Höhepunkt,
um schließlich 1963 völlig abzubrechen.
Publikationsorgane für die zahlreichen, häufig zuerst auf Symposien
geleisteten Diskussionsbeiträge sind vor allem Zeitungen und Zeit¬
schriften wie Kuang-ming jih-pao, Che-hsüeh yen-chiu, Wen-shih-che
und Hsin chien-she, um nur die wichtigsten zu nennen.'
' Das sicherlich vollständigste Verzeichnis chinesischer Literatur zum
Thema bietet Chan Wing-tsit, Chinese Philosophy, 1949—1963: An an¬
notated bibliography of Mainland China publications. Honolulu 1967, S.
15—17 u. 72—113. Besondere Erwähnung verdienen zwei Aufsatzsammlun¬
gen, in denen die wichtigsten Diskussionsbeiträge zusammengefaßt sind: 1.
K'ung-tzu t'ao-lun wen-chi. Tsinan 1961. 2. K'ung-tzu che-lisiXeh t'ao-lun chi
(im folgenden abgek. KTCHTLC). Peking 1963 (mit Bibliographie). An
Sekundärliteratur in englischer Sprache sind zu nennen: Joseph R. Leven-
son, The Place of Confucius in Communist China. In : The China Quarterly,
No. 12, 1962, S. 1—18; ebonfails erschienen in: Confucian China and its
Modem Fate, Vol. 3, Berkeley 1965, S. 61—82. Ein brillianter Aufsatz, in
dem Einzelheiten der Argumentation jedoch kaum gegeben werden. Ferner
ein kurzer Abschnitt über Konfuzius im Rahmen eines weiter gefaßten Auf¬
satzes von Donald J. Muneo, Chinese Communist Treatment of tlie Thinkers
of the Hundred Schools Period. In: Tho Cliina Quarterly, No. 24, 1965, S.
Konfuzius in der Vollcsrepublik Ciiina 303
Das kulturelle Erbe
Die Auseinandersetzung über Konfuzius, wie sie innerhalb des ge¬
nannten Zeitraums in der Volksrepublik China stattfindet, verläuft
nicht in den Bahnen des Ikonoklasmus der frühen Jahre der Chinesischen
Republik, dem die Träger der Bewegung für kulturelle Erneuerung
zuneigten. Sie wird vielmehr im größeren Rahmen der Diskussion über
das kulturelle Erbe Chinas geführt. Die Übernahme und Pflege dieses
Kulturerbes bilden ein gemeinsames Anliegen aller soziahstischen
Staaten. Die Notwendigkeit der Beschäftigimg und Auseinandersetzung
mit dem vorhandenen kulturellen Erbe — im streng marxistischen Sinne
über den nationalen Rahmen hinaus mit dem der gesamten Mensch¬
heit — hat bereits Lenin in seiner berühmten Rede auf dem 3. Gesamt¬
russischen Kongreß des Kommunistischen Jugendverbandes Rußlands
am 2. Oktober 1920 hervorgehoben. Er führt aus:
,,Ohne die klare Einsicht, daß nur durch eine genaue Kenntnis der
durch die gesamte Entwicklung der Menschheit geschafienen Kultur,
nur durch ihre Umarbeitung eine proletarische Kultur aufgebaut wer¬
den kann — ohne eine solche Einsicht werden wir diese Aufgabe nicht
lösen. Die proletarische Kultur fällt nicht vom Himmel, sie ist nicht
eine Erfindung von Leuten, die sich als Fachleute für proletarische
Kultur bezeichnen. Das ist alles kompletter Unsinn. Die proletarische
Kultur muß die gesetzmäßige Weiterentwicklung jener Summe von
Kenntnissen sein, die sich die Menschheit unter dem Joch der kapitah-
stischen Gesellschaft, der Gutsbesitzergesellschaft, der Beamtengesell¬
schaft erarbeitet hat."*
Auf Grund des Alters und der Höhe der chinesischen Kultur wie auch
der Menge der überlieferten Kulturgüter erhält das kulturelle Erbe in
China ein ganz besonderes Gewicht. V. a. unter dem Aspekt der Her¬
stellung einer neuen Kontinuität zwischen Vergangenheit und Gegen-
125 127 (Communists on Confucius). Sohließlioh China News Analysis,
Hongkong, No. 398, 1961 (Of Confucius, Fung Yu-lan and Others).
Nach Fertigstellung des vorliegenden Airfsatzes sind die schriftlichen
Fassungen zweier auf dem XIX. Internationalen Siuologenkongreß in
Bochum 1967 zum Thema gehaltenen Referate erschienen: 1. Robebt P.
Kbamebs, The Re-Evaluation of Confucius in Modern Times (Confucius and
his image in communist China). In: Papers of the XIX International Con¬
gress of Chinese Studies. Bochum 1968, S. 1—18. 2. Bbunhild Staigeb,
Some Methodological Problems of the Chinese Communist Interpretation of
Confiuiius, a.a.O., S. 19—26.
Englische Übersetzungen einiger Artikel chinesischer Autoren über die
Bewertung des Konfuzius finden sich in Union Research Service, Hongkong,
21. 1960, 7-8; 25. 1961, 7-9.
* Die Aufgaben der Jugendverbände. Werke Bd 31. Berlin 1959, S. 276.
304 Rudolf Hebzer
wart wird die Frage der Übernahme dieses Kulturerbes, die Frage der
Einbeziehung der in einer mehrtausendjährigen Geschichte geschaffenen
geistigen Werte in die neue sozialistische Kultur zu einem wichtigen
Problem, das man —• wie es scheint — im Rahmen der chinesischen
Kulturpolitik in der zweiten Hälfte der fünfziger und Anfang der sech¬
ziger Jahre zu lösen bereit ist. Welche Bedeutung dem Kulturerbe m
dieser Zeit beigemessen wird, läßt ein Artikel des theoretischen Oi'gans
der Kommimistischen Partei Chinas ,,Rote Fahne" über die Frage des
Studiums und der Kritik des kultureUen Erbes erkennen. Dort heißt es:
„Zugleich mit dem Studium praktischer Probleme aUer Art ist seit
einigen Jahren in unseren kultureUen und akademischen Kreisen auch
eine nicht geringe Arbeit in bezug auf das Studium des kulturellen
Erbes geleistet worden. .. Die sozialistische Kultur ist eine Wider¬
spiegelung des äußerst aktiven und lebhaften wirtschaftlichen und poli¬
tischen Lebens des Volkes in der sozialistischen Gesellschaft. Sie ist die
schöpferischste und foitschrittlichste Kultur. Gleichzeitig jedoch muß
die sozialistische Kiütmr die positiven Ergebnisse der Kultur aller
vergangenen Epochen in voUem Maße nutzen. Erst auf der Grundlage
der kritischen Zusammenfassung des gesamten Erbes unserer Vorfahren
imd auf der Grundlage der Aneignung aller Werte der Geschichte kann
die soziahstische Kultur den reichsten Inhalt und das höchste Niveau
haben und die Kultur aller vergangenen Zeiten über treffen. "^
Der Autor des Artikels kann sich auf Mao Tse-tung berufen, der
sich bereits 1938 zur Frage des Studiums und der Übernahme des Erbes
geäußert und damit den Weg für die Behandlung des Problems gewiesen
hatte. In seiner Abhandlung „Der Platz der Kommunistischen Partei
Chinas im nationalen Kampf ' sagt dieser : , ,Die andere Aufgabe unseres
Studiums besteht darin, unser historisches Erbe zu studieren und es
unter Anwendung der marxistischen Methode kritisch zusammenzu¬
fassen. Unser Volk hat eine mehrtausendjährige Geschichte, es hat
seine Besonderheiten und seine sehr zahlreichen Kostbarkeiten. Im
Hinbhck auf dies alles sind wir vorläufig nicht mehr als Elementar¬
schüler. Das heutige China hat sich aus dem historischen China ent¬
wickelt. Wir vertreten das marxistische Geschichtsprinzip, wir dürfen die
Geschichte nicht abtrennen. Wir müssen sie — von Konfuzius bis Sun
Yat-sen — zusammenfassen und dieses kostbare Erbe übernehmen."*
Obwohl hier unmißverständlich zum Ausdruck gebracht wird, daß die
kritische Zusammenfassung des historischen Erbes unter Anwendung der
" Wu Chiang, Wen-hua i-ch'an ti hsüeh-hsi ho p'i-p'an wen-tH. In : Hung- ch'i, 1961, 6, S. 18.
* Chung-hua Kung-ch'an-tang tsai min-tsu chan-cheng chung ti ti-wei. Mao Tse-tung hsüan-chi, Bd 2, Peking 1961, S. 522.
Konfuzius in der Vollssrepublik Cliina 305
marxistischen Methode zu erfolgen habe, entwickelt sich in der Zeit
der Hundert-Blumen-Bewegung dennoch eine sehr lebhafte Ausein¬
andersetzung V. a. über die Frage, wie das philosophische Erbe Chinas
zu übernehmen sei.*
Einen vöUig unorthodoxen Lösungsvorschlag unterbreitet Feng Yf-
LAN, einer der bekanntesten und zugleich einer der wenigen chinesischen
Philosophen, die auch außerhalb Chinas einen Namen haben. Er führt
aus, daß in der philosophiegeschichtlichen Lehre und Forschung in Hin¬
blick auf die alte chinesische Philosophie in den letzten Jahren (d. h.
den Anfangsjahren der Chinesischen Volksrepublik) allzuviel negiert
worden sei. Werde viel negiert, dann sei das übernehmbare Erbe gering.
Wenn man, was notwendig sei, zu einem allseitigen Verständnis mancher
philosophischen Lehrsätze gelangen wolle, so müsse man die doppelte
Bedeutung dieser Lehrsätze beachten, einmal ihre abstrakte, zum
anderen ihre konkrete Bedeutung. Es sei nicht richtig, die Aufmerksam¬
keit allein auf die konkrete Bedeutung zu richten, auch die abstrakte
Bedeutung dürfe nicht außer acht gelassen werden. Es gebe grund¬
legende Gedanken, die, wenn man sie von der konkreten Bedeutung
ihrer Zeit loslöse, bleibenden Wert hätten. Wenn z. B. Konfuzius sagt
,, Lemen und sich ständig darin üben"', so meine er damit das Studium
der Ivlassiker und anderer Dinge der Überlieferung. Dieser konkrete,
zeitgebundene Inhalt habe seine Gültigkeit verloren, aber die abstrakte
Idee des Studiums sei geblieben. Dies schließlich führe zu der Frage, ob
gewisse philosophische Lehrsätze, wenn man speziell deren abstrakte
Bedeutung zugrunde lege, nicht allen Klassen dienen könnten.'
Gegen diesen Lösungsvorschlag Feng Yu-lan's wendet sich Hu
Sheng, ein marxistischer Historiker. Wenn Feng Yu-lan sage, gewisse
philosophische Lehrsätze in der chinesischen Philosophiegescbichte
könnten allen Klassen dienen, sofern man von der abstrakten Bedeutung
der betreffenden Lehrsätze ausgehe, so scheine nach dieser Argumentation
das Problem des Zusammenhangs zwischen dem Klassencharakter und
der Übernehmbarkeit der Philosophie bereits gelöst zu sein. In Wirklich¬
keit jedoch sei die von Feng Yu-lan angewandte Methode falsch, und
man könne mit ihr das Problem der Übemahme der alten Philosophie
nicht lösen, weil Feng Yu-lan, wenn es gelte, an Hand der Tatsachen
eine konkrete Analyse durchzuführen, vom Subjektiven ausgehe und
eine einfache gedankhche Abstraktion vornehme. Der Ellassencharakter
* Die wichtigsten Diskussionsbeiträge zu dieser Frage enthält der Sammel¬
band Chung-kuo che-haüeh-shih wen-t'i t'ao-lun chvan-chi. Peking 1957.
' Lun-yü (im folgenden abgek. LY) I, 1.
' Chung-kuo che-Jmieh i-ch'an ti chi-ch'eng wen-t'i. In : Chung-kuo che-
haüeh-shih wen-t'i t'ao-lun chuan-chi, S. 273—274 u. 279.
306 Rudolf Hebzeb
aber sei ein Wesensmerkmal des philosophischen Denkens, und wenn
man glaube, mit Bülfe dieser Methode der Abstraktion beweisen zu
können, ein Teil des philosophischen Denkens habe keinen Klassen¬
charakter, so könne das nur als Spiel mit Begriffen bezeichnet werden.^
Während Hu Sheno den Klassencharakter der Philosophie hervor¬
hebt und auf den Zusammenhang zwischen Klassencharakter und
Übernehmbarkeit der alten Philosophie hinweist, geht Ai Szu-ch'i, ein
namhafter Marxist, in einem Artikel zur Frage der Übernahme des
philosophischen Erbes von dem Grundsatz Mao Tse-tung's aus, die
Einstellung der Marxisten-Leninisten gegenüber dem kulturellen Erbe
der Vergangenheit müsse sein, den Kern, das Beste davon aufzunehmen
und den Abfall auszuscheiden.*
Das Beste im Erbe der Vergangenheit, fährt Ai Szu-Oh'i fort, werde
verkörpert durch das Demokratische, Wissenschaftliche und den Massen
Zugängliche, d.h. das Volkstümliche; den Abfall bilde, was antidemo-
liratisch, wissenschaffcs- und volksfeindlich sei. Die Kultur, die man
schaffen wolle, sei eine nationale, demokratische, wissenschaftliche und
den Massen zugängliche Kultur ; deshalb müsse man die demokratischen,
wissenschaftlichen und den Massen zugängUchen BestandteUe der alten
Kultur übernehmen und das Antidemokratische, Wissenschafts- und
Volksfeindliche verwerfen. Dies sei ein aUgemeingültiger Grundsatz, der
auch in bezug auf die Geschichte der chinesischen Philosophie beachtet
werden müsse. Die Ansicht Feng Yu-lan's zur Frage der Übernahme des
phUosophischen Erbes verstoße gegen diesen Grimdsatz. Nach Meinung
Feng's soUe man die allgemeine, die abstrakte Bedeutung in den philo¬
sophischen Lehrsätzen der Vergangenheit übernehmen, gleichsam als ob
nur diese eine Seite der Lehrsätze das Beste sei und die besondere, die
konkrete Bedeutung der AbfaU. Feng's Fehler bestehe darin, daß er den
abstrakten Dingen Realität und Dauer zuerkenne, die konkreten Dinge
aber als vorübergehend und nicht-real betrachte. Der Standpunkt bei
der Übemahme des philosophischen Erbes müsse der Standpunkt des
dialektischen Materialismus sein. Der dialektische Materialismus zeige,
daß die Geschichte der Philosophie die Geschichte des Aufkeimens, der
Entstehung und der Entwicklung des wissenschaftlichen Materiahsmus,
d. h. des dialektischen Materiahsmus, sei. Entstehung und Entwicklung
des dialektischen Materialismus bildeten die generelle Tendenz der
gesamten Philosophieentwicklung.
Bei der Behandlung des Problems der Übernahme müsse man von die¬
ser Auffassung ausgehen. Zu bejahen seien die Elemente des Mate-
° Vgl. Hsin min-chu chu-i lun. In: Mao Tse-tung hsüan-chi, Bd. 2. S.
700—701.
' Kuan-yü che-hsüeh-shih ti yen-chiu, a.a.O., S. 516.
Konfuzius in der Volksrepublik China 307
rialismus und der Dialektik im philosophischen Erbe der Vergangen¬
heit, zu negieren Idealismus und Metaphysili. Was die Philosophen in
der Geschichte angehe, einerlei ob Idealisten oder Materialisten, so sei,
sofern nur ihr Denken Elemente des Materialismus imd der Dialektik
enthalte, der Zusammenhang mit dem dialektischen Materialismus
gegeben. Idealismus und Metaphysik üi ihrem Denken müßten auf dem
Wege der Kritik ausgeschaltet werden. Wie z. B. Marx die Dialektik
der Hegeischen Philosophie übernommen, Hegels Idealismus hingegen
negiert habe, oder wie er den Materialismus Feuerbachs aufgenommen,
dessen Metaphysik und den Ideahsmus seiner religiösen Ethik aber
verworfen habe. Wenn Feng Yu-lan sage, daß der Ausspruch des Kon¬
fuzius ,, Lemen und sich ständig darin üben" Bejahens wertes enthalte,
so sei er der gleichen Auffassmig. Jedoch nicht deshalb, weil dieser
Satz eine abstrakte Bedeutung habe, sondern weil er Elemente der
materialistischen Erkenntnistheorie enthalte. Weil er zeige, daß mensch¬
liche Erkenntnis erst durch Studium und praktische Übung erlangt
werden könne und nicht unmittelbar und spontan durch das mensch¬
liche Gehirn hervorgebracht werde, ebensowenig durch göttliche Offen¬
barung oder durch geheimnisvolle Eingebung.'"
Die hier resümierten Ausführungen lassen erkennen, welche Maßstäbe
und Prinzipien für die Übernahme des philosophischen Erbes und
damit für die Einordnung der alten Phüosophen in das marxistische
Wertgefüge gelten. Aus der Grundanschauung vom Klassencharakter
der Phüosophie, d. h. der Auffassung, daß jede Philosophie die Interessen
einer bestimmten Klasse zum Ausdruck bringt, jeder Philosoph in den
Begriffen einer bestimmten Klasse denkt, ergibt sich die für seine
Bewertung entscheidend wichtige Frage nach seinem Klassenstand¬
punkt; und aus der Auffassung der Geschichte der Philosophie als der
Geschichte des Aufkeimens, der Entstehung und Entwicklung des
dialektischen Materialismus — womit ausgedrückt wird, daß aUein von
Belang und Interesse ist, was mit diesem Entwicklungsprozeß zusammen¬
hängt und ihn gefördert hat — ergibt sich die für die Einschätzung
eines Phüosophen nicht weniger wichtige Frage, welchen Beitrag er zur
Entwicklungsgeschichte des dialektischen Materialismus, der ,, Voll¬
endung aller bisherigen Phüosophie", geleistet hat, d. h. ob und in
welchem Maße sein Denken Elemente des Materialismus und der Dialek¬
tik enthält.
Damit ist das Schema auch für die Beurteüung des Konfuzius gegeben.
Man kann die Frage der Bedeutung des Weisen und seiner Lehre nicht
isohert erörtern, losgelöst von den historischen Beduigungen seiner Zeit
" Tui „Chung-kuo che-hsüeh i-ch'an ti chi-ch'eng wen-t'i" ti i-hsieh i-chien.
In : Chung-kuo che-hsüeh-shih wen-t'i t'ao-lun chuan-chi, S. 438—440.
308 Rttdolf Hebzeb
und unabhängig von seiner Klassenposition. Welche Klasse also reprä¬
sentiert Konfuzius, eine fortschrittliche oder eüie reaktionäre? Die
Interessen welcher Klasse bringt seine Lehre zum Ausdruck, ist sie
fortschrittlich oder konservativ? Und schließlich: Ist sein Denken
ideahstisch oder ist es materiahstisch bzw. überwiegen darin die idea¬
listischen oder die materialistischen Elemente ?
Die Ellassenposition des Konfuzius
Bei der Erörterung der Klassenposition des Konfuzius und des Klas¬
sencharakters seiner Lehre ergibt sich eine große Schwierigkeit in Gestalt
des noch ungelösten Problems der Periodisierung der alten chinesischen
Geschichte. Es bedarf kaum des Hinweises, daß die Geschichte in der
Volksrepublik China den Lehren des historischen Materiahsmus ent¬
sprechend interpretiert wird. Demzufolge gilt für die Betrachtung der
chinesischen Geschichte das historisch-materiahstische Schema des Ent¬
wicklungsablaufs, wonach sich die geschichtliche Entwicklung als ob¬
jektiv-gesetzmäßiger Prozeß auf dem Wege der Herausbüdung und des
Wechsels einzelner — seit Lenin für aUe GeseUschaften gleicher
GeseUschaftsformationen, der Urgemeinschaft, der Sklaverei, des Feuda¬
lismus usw., vollzieht. Hieraus wird deduziert, daß auch die chinesische
GeseUschaft diese Entwicklungsstufen durchlaufen hat und infolgedessen
z. B. die SklavenhaltergeseUschaft nicht als eine nur mögliche Entwick-
limgsphase, sondern als ein notwendiges Durchgangsstadium der geseU-
schaftlichen Entwicklung Chinas erscheint.
In unserem Zusammenhang geht es konkret um das Problem der
zeitlichen Festlegung von Sklavenhaltergesellschaft und Feudalismus in
China.
Die Divergenzen der chinesischen Historiker in dieser Frage stehen
sich nach Kuan Feng und Lm Yü-shih, zwei häufig gemeinsam publi¬
zierenden marxistischen Phüosophen, wie folgt dar: „Die eine Gruppe
ist der Auffassung, daß die Westliche Chou-Dynastie [1027—771 v. Chr.]
eine feudalistische GeseUschaft darsteUt, daß die geseUschaftliche Um¬
wandlung von der Ch'un-ch'iu-Zeit [770—481 v. Chr.] zur Chan-kuo-
Zeit [480—222 V. Chr.] eine Umwandlung vom System der Lehnsherren
zur Wirtschaft der neu aufstrebenden feudalen Grundbesitzer und der
Klassenkampf zur damaligen Zeit ein Kampf zwischen Lehnsherren, der
neu aufstrebenden Klasse der Grundbesitzer und Leibeigenen war.
Die andere Gruppe ist der Auffassung, daß die Westliche Chou-
Dynastie noch eine SklavenhaltergeseUschaft darsteUt, die geseUschaft¬
liche Umwandlung von der Ch'un-ch'iu- zur Chan-kuo-Zeit eine Um¬
wandlung von der Sklaverei zum Feudalismus und der Klassenkampf
zur damahgen Zeit ein Kampf zwischen Sklavenhaltern, der neu auf-
Konfuzius in der Vollisrepublilc Cliina 309
strebenden Grundbesitzerklasse und Sklaven war. Da die konkreten
,grundlegenden historischen Zusammenhänge', an denen jede [Gruppe]
festhält, verschieden sind, so gelangt sie natürlich auch notwendiger¬
weise in bezug auf den Klassenstandpunkt des Konfuzius und in bezug
auf den Klassencharakter seiner Lehre zu unterschiedhchen Schlu߬
folgerungen.""
Namhaftester Verfechter des Standpunktes, daß die Periode der
Sklaverei mit der Ablösung der Shang- durch die Chou-Herrschaft endet
und der Feudahsmus mit der Westlichen Chou-Zeit beginnt, ist der
Historiker Fan Wen-lan.
Prominentester Vertreter der zweiten Gruppe, nach deren Auffassung
sich der Wechsel von der Sklavenhaltergesellschaft zum Feudalismus
in der Periode des Übergangs von der Ch'un-ch'iu- zur Chan-kuo-Zeit
vollzieht, ist der Historiker, Dichter und Staatsfunktionär Kuo Mo-JO.
Abgesehen von einer dritten Gruppe, deren Vertreter glauben, daß
die Periode der Sklaverei bis zum Ende der östlichen Han-Zeit (220 n.
Chr.) fortbesteht und sich bis in die Wei-Zeit (220—265 n. Chr.) und
Chin-Zeit (265—420 n. Chr.) hinein erstreckt, scheint die Mehrzahl der
Historiker in der Volksrepublik China — bei mehr oder weniger ab¬
weichenden Auffassungen in Einzelfragen — grundsätzhch entweder
dem Standpunkt Fan Wen-lan's oder Kuo Mo-jo's zuzuneigen.'*
Da sich die Klassenposition des Konfuzius auf Grund des bisher un¬
gelösten Problems der Periodisierung der alten chinesischen Geschichte
nicht eindeutig bestimmen läßt, werden immer wieder die gleichen
historischen Ereignisse und Tatsachen in unterschiedlicher Ausdeutung
als Beweis für den fortschritthchen oder reaktionären Klassenstand¬
punkt des Philosophen angeführt.
Als einer der Angelpunkte für die Beurteilung der Klassenposition
des Konfuzius güt dessen Einstellung zum herzogUchen Haus seines
u Tsai lun K'ung-tzu. In: KTCHTLC, S. 307.
'2 Siehe zur Frage der Periodisierung der alten chinesischen Geschichte die
Literaturangaben bei A. Feubbwebkbb. und S. Cheng, Chinese Communist
Studies of Modern Chinese History. Cambridge, Mass. 1961, S. 21—26. Ferner den Sammelband Chung-kuo ku-tai-shih fen-ch'i wen-t'i t'ao-lun chi. Fotolith.
Nachdr. Daian, Tökyö 1968. Zusammenfassende Überblicke über den
Diskussionsstand bis zu den Jahren 1956 bzw. 1957 geben Chiang Ch'üan-,
Kuan-yü Chung-kuo li-shih shang nu-li-cMh ho feng-chien-chih fen-ch'i wen-
t'i ti t'ao-lun, in: Jen-min jih-pao 4. 7. 1956, und LrN Kan-chuan, When
Bid Slave Society End in China and Feudalism Begint In: People's China,
1957, 5, S. 15—21. Siehe ferner den Beitrag von A. Marks, Konfuzianische und kommunistische Deutung der chinesischen Feudalzeit (1050 — 221 v. Chr.).
In: Saeculum 8, 1957, S. 341—358. Und schließlich A. Feuebwebkeb,
China's History in Marxian Dress. In: The American Historical Review,
Vol. LXVI, 1961, 2, S. 336—340.
21 ZDMG II9/2
310 Rudolf Hebzer
Heimatstaates Lu (Schantung) und zu den sogenannten Drei Huan-
Familien'*, insbesondere zum Haupt der Chi-Familie.
Kuan Feng und Lm Yü-SHm erblicken darin den grundlegenden
historischen Anhaltspunkt für die Erforschung des Klassenstandpunktes
K'ung-tzu's. Sie glauben, daß der Antagonismus zwischen dem herzog¬
lichen Haus von Lu und dem Haupt der Chi-Familie ein klassenmäßiger
Antagonismus ist, daß das erstere den Sklavenhalter-Adel repräsentiert
und das Sklavensystem stützt, das Oberhaupt der Chi-Famihe hingegen
der Repräsentant der aufstrebenden Grundbesitzerklasse ist, der danach
strebt, dem herzoglichen Haus die politische Macht vöUig zu entreißen
und das feudalistische Ausbeutungssystem durchzusetzen.'*
Seit der Regierung des Herzogs Hsüan von Lu (607—590 v. Chr.) habe
sich die Macht praktisch in den Händen des Oberhauptes der Chi-Familie
befunden. Aber auch die Hausbeamten der Chi-Famihe hätten sich
erhoben, um für ihre eigenen Interessen zu kämpfen. Unter dem Vor¬
wand, das herzogliche Haus stärken zu woUen, hätten sie sich gegen das
Haupt der Chi-Familie empört. So habe Kung-shan Fu-jao, eben ein
Hausbeamter der Chi-Familie, in der Stadt Pi rebelliert und Konfuzius
zu sich rufen lassen. Dieser sei geneigt gewesen zu gehen. Auf die Vor¬
haltungen Tzu Lu's, seines Schülers, habe er geantwortet: ,,Daß er mich
rufen läßt, hat sicherlich einen Grund. Wenn jemand mich braucht, kann
ich dann nicht die östliche Chou-Dynastie wieder ins Leben rufen?"'*
Da Kung-shan Fu-jao nicht gegen das herzogliche Haus von Lu rebelliert
habe, sondern gegen dessen politischen Gregner, das Oberhaupt der Chi-
PamUie, könne man die vorübergehende Bereitschaft des Konfuzius, dem
Ruf Kung-shan Fu-jao's zu folgen, nicht dahingehend interpretieren,
daß er den Rebellen habe helfen wollen, die Revolution durchzuführen.'*
Seine Absicht sei vielmehr gewesen, Kung-shan Fu-jao zur Ausschaltung
der Drei Huan-Famihen zu benutzen, um die Kultur und die Institu¬
tionen der Chou wiederherzustellen. Die geschilderte Begebenheit
beweise, daß Konfuzius den Standpunkt des Sklavenhalter-Adels ver¬
treten habe."
'^ Das sind die in Lu herrschenden Adelsfamihcn Meng-sun, Chi-aun und
Shu-sun, die alle ihren Ursprung auf den Herzog Huan von Lu (710—693
v. Chr.) zurückführten.
" Lun K'ung-tzu. In: KTCHTLC, S. 254.
" LY XVII, 5.
" Diese Argumentation richtet sich gegen Kuo Mo-jo, der in seinem
Essay K'ung Mo ti p'i-p'an zum Ausdruck bringt, Konfuzius sei bereit
gewesen, Rebellen wie Pi Hsi (vgl. LY XVII, 7) und Kung-shan Fu-jao zu
imterstützen {Shih p'i-p'an sJiu, Mo-jo wen-chi, Bd. 15, Peking 1961, S. 86).
" Vgl. Lun K'ung-tzu, a.a.O., S. 256£f.
Konfuzius in der Volksrepublik China 311
Dieses Urteil über die Klassenposition des Konfuzius wird nach Auf¬
fassung der genannten Autoren auch durch eine andere Begebenheit be¬
stätigt, die in die Zeit fällt, als Konfuzius Justizminister in Lu war. Es
handelt sich um die Schleifung der Mauern der drei Städte Pi, Hou und
Ch'eng.'* Das waren die stark befestigten Hauptstädte der schon ge¬
narmten, in Lu herrschenden Famüien Chi-sun, Shu-sun und Meng-sun ;
sie bildeten die Stütze für deren Macht. Dort ausbrechende Revolten
von Hausbeamten der Drei Famüien ließen die genannten Städte jedoch
zur Bedrohung für diese selbst werden. Um der Gefahr für ihre eigene
Existenz entgegenzuwirken, hätten die Drei Famüien mit dem herzog¬
Uchen Haus von Lu eine gemeinsame Front gegen die revoltierenden
Hausbeamten gebüdet und der von Konfuzius befürworteten PolitUi
entsprochen, indem sie die Mauern der Städte Pi und Hou geschleift
hätten. Dies sei in den Augen der Drei Famihen ein Mittel zur Unter¬
werfung ihrer rebeUierenden Hausbeamten gewesen, für den Herzog von
Lu und für Konfuzius jedoch ein Mittel zur Schwächung der Drei Fami¬
lien mit dem Ziel, die politische Macht zurückzugewinnen, die sich in
deren Händen befand. Man könne deshalb nicht von der Gleichheit der
Wünsche und Ziele der beiden Parteien sprechen, sondern es sei dies
eine Eiiüieit der Gegensätze gewesen. Jede der beiden Seiten habe ver¬
sucht, die andere zu benutzen.'*
Als weiteren Beweis für die konservative Haltung des Konfuzius
führen Kuan Feng und Lin Yü-shih an, daß dieser sich nachdrückUch
gegen die Einführung des Grundsteuersystems durch das Oberhaupt der
Chi-Famihe, des Repräsentanten der neuen Grundbesitzerklasse — wie
sie meinen —, gewandt habe.*" Die Ursache für seine Ablehnung des
Grundsteuersystems erblicken sie darin, daß er an den Satzungen des
Herzogs von Chou, dem Chou-li, festgehalten habe. Nicht im Interesse
des arbeitenden Volkes habe Konfuzius sich der Auferlegung der Grund¬
steuer widersetzt, sondern wegen der Verletzung der Regeln des Chou-li
durch das Oberhaupt der Chi-Famüie. Ursprünghch sei es die Hoffnung
K'ung-tzu's gewesen, über seinen im Dienste der Chi-Famüie stehenden
Schüler Jan Ch'iu die eigenen pohtischen Ideale in Lu verwirkhchen zu
können. Aber entgegen seinen Erwartungen habe Jan Ch'iu das Haupt
der Chi-Famüie bei der Einführung des Grundsteuersystems unterstützt
und dadurch mitgeholfen, die Chi-Famihe noch reicher und mächtiger
zu machen.
" Vgl. Tso-chuan, Ting-kung 12. Jahr. Legge, The Chinese Classics V,
S. 781 (Nachdr. Hongkong Univ. Pr. 1960).
" Imu K'ung-tzu, a.a.O., S. 258ff.
20 Vgl. Tso-chuan, Ai-kung 11. Jahr. Legge, The Chinese Classics V, S.
826.
21*
312 Rudolf Hebzeb
Das Fazit aus dem Gesagten ist für Kuaüt Feng und Lin Yü-shih:
Seit seinen mittleren Jahren stand Konfuzius auf selten des herzoglichen
Hauses von Lu und in Opposition zur Chi-Famihe; sein politischer
Standpunkt war von diesem Zeitpunkt an notwendigerweise reaktionär,
wenn man voraussetzt, daß das herzogliche Haus von Lu den unterge¬
henden Sklavenhalter-Adel und das Haupt der Chi-Familie die auf¬
strebende Grundbesitzerklasse repräsentiert hat.^^
Zur Gruppe derer, die den Klassenstandpunkt des Konfuzius für kon¬
servativ halten, gehört auch Jen Chi-yü. Für ihn ist die ausgehende
Ch'un-ch'iu-Zeit, die Lebenszeit des Konfuzius, ebenfalls die Periode
des Übergangs von der Sklaverei zum Feudahsmus. Insgesamt unter¬
scheidet er sechs verschiedene Klassen bzw. Gesellschaftsschichten, wo¬
bei er gleichfalls das Haupt der Chi-Famiüe der aufstrebenden Grund¬
besitzerklasse zurechnet. Konfuzius dagegen habe den Standpunkt der
adligen Sklavenhalter vertreten und mit Entschiedenheit das Sklaven¬
system gestützt. Aus seinen überlieferten Äußerungen gehe hervor, daß
er sich Reformen an diesem System auf Grund seiner konservativen
Einstellung stets widersetzt habe.**
Entgegengesetzter Auffassung in bezug auf den Klassenstandpunkt
des Konfuzius ist Chad Sung-t'ing. Auch für ihn repräsentiert das
herzogüche Haus von Lu die Sklavenhalterklasse und die Chi-Familie
die neue Klasse der Grundbesitzer. Aber er ist der Meinung, daß sich
Konfuzius weder gegen das Haupt der Chi-Familie gestellt hat, noch
daß er das herzogliche Haus von Lu stärken woUte. Konfuzius habe den
Standpunkt der neuen Grundbesitzerklasse vertreten und sei der Ten¬
denz der geschichtlichen Entwicklung gefolgt. Aus der Untersuchung
der geschichthchen Beziehungen zwischen Konfuzius und dem Haupt
der Chi-Famihe gehe hervor, daß deren Verhältnis durchaus nicht gegen¬
sätzlicher Natur gewesen sei. Ohne die Förderung und Unterstützung
durch das Haupt der Chi-Familie hätte Konfuzius niemals zum Minister
für öffentliche Arbeiten und zum Justizminister seines Heimatstaates
Lu aufsteigen können. Daraus gehe hervor, daß das Haupt der Chi-
Familie ihm Wertschätzung entgegengebracht habe. Dies wäre schwer
vorstellbar, wenn Konfuzius die Stärkung des herzoglichen Hauses
angestrebt und sich gegen das Haupt der Chi-Famihe gestellt hätte.
Was die Schleifung der Mauern der drei Städte anbelangt, jenes be¬
deutsamste Ereignis während der Amtszeit des Konfuzius als Justiz-
minister in Lu, so hält Chao Sung-t'ing die Auffassung Kuan Feng's
und Lin Yü-shih's für unzutreffend, daß das herzogliche Haus von Lu
" Lun K'ung-tzu, a.a.O., S. 264f.
^2 K'ung-tzu cheng-chih shang ti pao-shou li-ch'ang ko che-hsüeh shang ti
wei-hsin chu-i. In: KTCHTLC, S. 148f.
Konfuzius in der Volksrepublilc Cliina 313
in Gremeinschaft mit Konfuzius imd das Haupt der Chi-Familie sich
dabei wechselseitig zur Erreichung ihrer Ziele, d. h. zur Wiedergewinnung
bzw. Stärkung ihrer Macht, benutzt hätten. Konfuzius sei durchaus
nicht vom Haupt der Chi-Famüie benutzt worden. Vielmehr habe sein
Wirken gerade darin bestanden, die Politik des Hauptes der Chi-Familie
durchzuführen.
Wenn sich Konfuzius gegen die Einführung des Grundsteuersystems
durch das Haupt der Chi-Famüie gewandt habe, so sei die Ursache dafür
nicht Ablehnung des neuen Steuersystems gewesen. Was er abgelehnt
habe, sei die zu hohe und somit ungerechtfertigte Besteuerung des
Volkes durch das Haupt der Chi-Familie gewesen. Darin drücke sich
ebenfalls seine Fortschrittlichkeit aus. Auch die Tatsache, daß Kon¬
fuzius mit keinem Wort die Vertreibung des Herzogs Chao von Lu
(540—509 V. Chr.) durch das Haupt der Chi-Famüie erwähnt habe,
trotz seines sonstigen Brauchs, Persönhchkeiten und besondere Ereig¬
nisse der kritischen Beurteüung zu unterziehen, erlaube es kaum zu
sagen, er hätte das herzogliche Haus unterstützt.**
Völlig anders wird die Klassenzugehörigkeit des Oberhauptes der Chi-
Famüie von Chung Chao-p'eng beurteUt. Er bringt zum Ausdruck, daß
für die Voraussetzimg, das Haupt der Chi-Famüie habe die aufstrebende
Grundbesitzerklasse repräsentiert, jeder haltbare Beweis fehlt. Ebenso
wie der Herzog von Lu hätten auch die Drei Huan-Famüien zur Klasse
der Sklavenhalter gehört, wie auch die politische Macht zur damaligen
Zeit (d. h. zu Ausgang der Ch'un-ch'iu-Zeit, der Lebenszeit des Konfu¬
zius) ihrem Charakter nach die Macht der Sklavenhalter gewesen sei.
Insbesondere aber sei das Haupt der Chi-Famihe ein Vertreter der im
Besitz der realen Macht befindUchen Partei einflußreicher Sklavenhalter
gewesen, und der sogenannte Kampf zwischen dem herzogUchen Haus
und den privaten Familien spiegele im grundlegenden die inneren Wider¬
sprüche der Sklavenhalterklasse wider. Der Einfluß jener im wesent¬
lichen die Partei der realen Macht, den Adel der erblichen Häuser re¬
präsentierenden privaten Famüien habe sich teUweise bis zum Ende der
Chan-kuo-Zeit erhalten. Deshalb hätten sich die Träger fortschrittlicher
Gedanken und die Befürworter von Reformen zuerst gegen die privaten
Famihen wenden müssen. Opposition gegen die privaten Famüien sei zu
jener Zeit fortschrittlich gewesen.**
Als weiterer wichtiger Anhaltspunkt für die Beurteüung der Klassen¬
position des Konfuzius güt, daß dieser sich gegen das Gießen der Drei¬
füße im Staate Chin (Schansi), in welche die Strafgesetze von Chin ein-
23 Tui-yü Kuan Feng, Lin Yü-shih erh t'ung-chih „Tsai lun K'ung-tzu" ti sluing -ch'üeh. In: KTCHTLC, S. 456—459.
2* Lüeh-lunK'ung-tzuszu-hsiangtichieh-chi-hsing. In: KTCHTLC, S. 184f.
314 Rudolf Hebzeb
graviert waren, gewandt hat. Das Fixieren von Gesetzen zur Zeit des
Konfuzius wird von den chinesischen Autoren den Neuerungen von
historischer Bedeutung zugerechnet, welche kennzeichnend für die großen
Veränderungen in der chinesischen Gesellschaft dieser Epoche sind. Das
Tso-chuan berichtet unter dem Jahr 512 v. Chr. vom Gießen der Drei¬
füße in Chin. Konfuzius habe sich wie folgt dazu geäußert: ,,Chin wird
untergehen! Es hat seme gesetzlichen Regelungen preisgegeben. Chin
sollte die Gesetze und Regeln einhalten, die T'ang Shu** zur Ordnung
seines Volkes empfangen hat. Wenn Minister und hohe Würdenträger
diese entsprechend ihrem Rang einhalten, so kann das Volk die Adligen
achten, und die Adligen können ihr Erbe bewahren. Daß die Adligen
und die geringen Leute ohne Fehl sind, das ist, was man [gute] gesetzliche
Regelung nermt ... Jetzt, da man diese Regelungen aufgibt und statt¬
dessen Dreifüße gießt mit den Strafgesetzen darauf, wird das Volk die
Aufmerksamkeit den Dreifüßen zuwenden. Wie kann es dann die Adligen
achten, und wie können diese ihr Erbe bewahren ? Wenn es keine Rang¬
ordnung zwischen Adligen und geringen Leuten gibt, wie kann ein
Staat da bestehen?"*«
Die Kritik, die Konfuzius am Gießen der Dreifüße übt, wird unter¬
schiedlich interpretiert.
Kuan Feng und Lin Yü-shih führen aus, die Gesetze und Regeln, die
T'ang Shu empfangen habe, seien jene nicht mehr erhaltenen Gesetze
und Regeln (T'ang-kao) gewesen, die Chou-kung, der Herzog von Chou,
gelegentlich der Belehnung T'ang Shu's zu Begiim der Chou-Zeit diesem
übermittelt habe. Daß Chou-kung, der der Sklavenepoche zuzurechnen
sei, nicht die politischen Satzungen der feudalistischen Grundbesitzer¬
klasse an T'ang Shu habe übermitteln köimen, sei offensichtlich. Konfu¬
zius habe das Gießen der Dreifüße mit den eingravierten Strafgesetzen
von Chin eben wegen dieser von T'ang Shu aus der Hand des Herzogs
von Chou empfangenen Gesetze und Regeln, worunter die Chou-Riten
zu verstehen seien, verurteilt. Das Ziel des Konfuzius sei gewesen, die
unter dem Sklavensystem gültige Rangordnung zwischen Adligen und
geringen Leuten zu erhalten.
Konfuzius habe das Gießen der Dreifüße mit den eingravierten Straf¬
gesetzen von Chin den Chou-Riten, den T'ang Shu übermittelten Gesetzen
und Regeln, entschieden gegenübergestellt. Dies könne ebenfalls als
Beweis dafür dienen, daß es zur damaligen Zeit fortschrittlich gewesen
sei, für eine Regierung durch Gesetze einzutreten und sich gegen eine
" Bruder des Chou-Königs Ch'eng (1104—1068 v. Chr.) und Gründer des
Staates Chin.
2« Tao-chuan, Chao-kung 29. Jahi-. Legge, The Chinese Classics V, S. 732.
Konfuzius in der Volksrepublik China 316
Regierung durch Riten zu wenden, d. h. die Chou-Riten zu mißbilligen.
Konfuzius aber habe sich gegen das Gießen der Dreifüße mit den Ge¬
setzen gewandt. Dies sei ein Beweis für seinen konservativen Stand¬
punkt.*'
Nach anderer Interpretation ist die Kritik des Konfuzius am Gießen
der Dreifüße mit den eingravierten Strafgesetzen in Chin Ausdruck für
dessen fortschrittliche Haltung. Die Strafgesetze auf den Dreifüßen
hätten den hundert Jahre früher (620 v. Chr.) von Chao Hsüan-tzu** in
12» geschaffenen Gesetzen entsprochen*" und damit auch dessen Regelung des ,, Fahndens nach Flüchtigen"*^ enthalten. Unter ,, Flüchtigen" seien
entflohene Sklaven zu verstehen. Besonders daraus lasse sich entneh¬
men, daß es sich um eine Art Sklavengesetze gehandelt habe.
So faßt Chung Chao-p'eng die betreffenden Gesetze als Gesetze zur
Unterdrückung der Sklaven und des Volkes auf. Er sieht in ihnen die
Bestätigung dafür, daß das Sklavensystem in der Endperiode der Ch'un-
ch'iu-Zeit das Stadium des Zerfalls erreicht hatte. Es habe sich um
Gesetze zur Rettung der durch die Massenflucht von Sklaven und Auf¬
ruhr in den Grundfesten erschütterten Macht der Sklavenhalter gehan¬
delt. Sie seien durchaus nicht fortschrittlich gewesen. Es herrsche die
falsche Meinung vor, die Begrifi'e ,, Strafe" und ,, Gresetz", wenn immer
diese in der Ch'un-ch'iu- und Chan-kuo-Zeit genannt werden, als Aus¬
druck fortschrittlichen politischen Denkens zu betrachten, ohne den In¬
halt der Gesetze zu analysieren. Daß Konfuzius Kritik am Gießen der
Dreifüße mit den Strafgesetzen geübt habe, könne nicht als Beweis da¬
für dienen, daß er gegen das fortschrittliche System der Gresetze gewesen
sei, wohl aber als Beweis dafür, daß er sich gegen die Beibehaltung reak¬
tionärer Gesetze der Sklavenhalter gewandt habe.**
Auch Chung Ebh-chü bringt zum Ausdruck, daß die nach dem Tso-
chuan für Konfuzius maßgebenden Gründe, das Gießen der Dreifüße
mit den Strafgesetzen zu mißbiUigen, nicht ausreichten zu beweisen,
Konfuzius habe den Standpunkt der Sklavenhalter-Aristokratie ver¬
treten. Sein Widerstand gegen das Gießen der Dreifüße körme sich
gegen das „Sklavengesetz" auf diesen gerichtet haben.**
" San lun K'ung-tzu. In: KTCHTLC, S. 408f.
28 D. i. Chao Tun, ein Offizier des Staates Chin.
29 Ort im Staate Chin.
30 Vgl. Tso-chuan, Wen-kung 6. Jahr. Legge, The Chinese Classics V, S.
243/44.
31 Vgl. Tso-chuan, a.a.O.
»^Lüeh-lun K'ung-tzu szu-hsiang ti chieh-chi-hsing. In: KTCHTLC, S.
ISSff.
33 Shih-lun K'ung-tzu ti clieng-chih lisüeh-shua ho chieh-chi li-ch'ang. Kuang- ming jih-pao 22. 10. 1962.
a
316 Rudolf Heezbb
Die Riten
Die Frage, welche Haltung Konfuzius bezüglich der Chou-Riten ein¬
genommen hat, ist eine der zentralen Fragen bei der Beurteilung seines
pohtischen Standpimktes. Hat er die Wiederbelebung der Chou-Riten
angestrebt oder nicht ? Die Meinungen darüber sind geteilt. Zu denen,
die die Auffassung vertreten, Konfuzius habe die Chou-Riten wieder¬
beleben woUen, gehören u.a. Kuan Feng und Lin Yü-shih.
Diese führen aus: ,,Die Riten, von denen Konfuzius spricht, sind die
Riten der Chou, d.h. das gesamte System der Regeln und Satzungen
und die Gesamtheit der moralischen Normen der Westhchen Chou-
Dynastie. Diese bilden den Überbau der in Rangstufen gegliederten
Gesellschaft der Sklavenhalter-Aristokratie.**
Der Verfall der Chou-Riten in der ausgehenden Ch'un-ch'iu-Zeit, den
das Wort deutlich mache ,,Der Fürst ist nicht Fürst, der Untertan nicht
Untertan; der Vater ist nicht Vater, der Sohn nicht Sohn"**, spiegele
die Veränderimgen der wirtschaftlichen Grundlage der damaligen Gesell¬
schaft im Bereich des Überbaues wider. Die verrottete Sklavenhalter-
Aristokratie habe nicht die Macht gehabt, die Chou-Riten zu bewahren
und Verstöße gegen diese zu verhuidern; sie habe häufig selbst die durch
die Chou-Riten gesetzten Grenzen überschritten. Die wirtschaftliche
Kraft der Grundbesitzer und Kaufleute habe sich entwickelt, und die
Umwandlung vom Sklavensystem zur feudalistischen Produktions¬
weise, vom Staat der Sklavenhalter-Aristokratie zum Staat der feuda¬
len Grundbesitzer sei rasch vorangeschritten. Fortschrittliche politische
Denker der aufstrebenden Grundbesitzerklasse seien für die Ablösung
des Ritensystenjs durch eme Regierung durch Gesetze eingetreten.
Konfuzius jedoch habe die Wiederbelebung der Chou-Riten angestrebt,
und zwar mittels seines Begriffs der Menschenliebe, jen. Dies sei konser¬
vativ gewesen.**
Bis zu einem gewissen Grad habe Konfuzius die Chou-Riten jedoch
geändert. Fortschrittlich zu werten sei, daß er die Einhaltung der Riten
durch Fürst und Untertan, Vater und Sohn, Höherstehende und Unter¬
gebene, Arme und Reiche, Herrschende und Beherrschte als bindend
für beide Seiten angesehen habe und für Zugeständnisse gegenüber dem
Volk eingetreten sei. Ferner habe er zuerst in der auf Blutsverwandt¬
schaft beruhenden Sippenordnung den Menschen als Individuum ent¬
deckt, wenngleich er den Einzelmenschen grundsätzlich an die Normen
der Chou-Riten gebunden habe. Diese Entdeckung des Menschen als
3* Lun K'ung-tzu. In: KTCHTLC, S. 218.
äi^LYXn, 11.
36 Lun K'ung-tzu. In: KTCHTLC, S. 219f.
Konfuzius in der Volksrepublik China 317
Individuum sei die Voraussetzung für seinen Begriff der Menschenliebe, jen, gewesen, für Konfuzius die Eigenschaft des ,, Edlen", über die der
,, gewöhnliche Mensch" nicht verfügt. Auch das bedeute eme Änderung
gegenüber den überlieferten Chou-Riten. Schließlich sei er, wiederum in
Abweichung von der Überlieferung der Chou-Riten, für die Erhebrmg
der Würdigen eingetreten.*'
Kuan Feng und Lin Yü-shih wenden sich gegen die Auffassung,
Konfuzius habe nur nach außen hin die Erneuerung der Chou-Riten
angestrebt und in Wirklichkeit diese grundlegend geändert, so daß die
Riten des Konfuzius im wesentlichen nicht mehr die der Chou, sondern
gleichsam neue Riten gewesen seien. Mit dem Argument, er sei dafür
eingetreten, daß die Riten hinabreichen sollten zum gewöhnlichen Volk,
zu dem auch die Sklaven gehört hätten, könne nicht bewiesen werden,
daß er die Chou-Riten grundlegend geändert und sie in Riten der Grund¬
besitzerklasse umgewandelt habe. Entscheidend sei die Frage des Inhalts
dieser Riten. Wenn man beweisen wolle, daß die Riten des Konfuzius im
wesentlichen nicht mit den Riten der Chou übereinstimmten, so müsse
man sie mit den Chou-Riten vergleichen und die prinzipiellen Unterschiede
im Inhalt aufzeigen. Gegenwärtig habe noch niemand derartige Unter¬
schiede aufgezeigt, und solche könnten auch kaum gefunden werden.
Unter Berufung auf die Satzungen des Herzogs von Chou habe sich
Konfuzius gegen die Einführung der Grundsteuer durch das Haupt der
Chi-Familie gewandt, das Lun-yü sei voll des Tadels gegenüber Verstößen
gegen die Chou-Riten. Das Gießen der Dreifüße in Chin mit den eingra¬
vierten Strafgesetzen habe er ebenfalls unter Berufung auf die von
T'ang Shu empfangenen Gesetze, eben die Chou-Riten, getadelt. Bei all
dem sei es schwer vorstellbar, daß Konfuzius die Chou-Riten nicht habe
bewahren wollen.**
Auch Jen Chi-yü ist der Auffassung, daß Konfuzius die Wiederher¬
stellung der Chou-Riten angestrebt hat. Er führt aus: ,,Das Lebensziel
des Konfuzius bestand in der Wiederbelebung der Chou-Riten. Das
politische Mittel zur Wiederbelebung der Chou-Riten war die Richtig¬
stellung der Begriffe.** Die Richtigstellung der Begriffe bildete die
*' a.a.O., S. 226.
*8 Tsai lun K'ung-tzu. In: KTCHTLC, S. 321 f.
3» Darunter versteht Konfuzius, daß die Dinge mit dem richtigen Namen
genannt worden müssen, wie er es in dem Wort ausdrückt „Der Fürst sei
Fürst, der Untertan sei Untertan; der Vater sei Vater, der Sohn sei Sohn"
(LY XII, 11). D.h. jeder soll sich verhalten und handeln, wie es die Regehi
für seinen Stand — die Riten — vorschreiben, und ebenso soll er auch ent¬
sprechend seinem Stand von anderen behandelt werden. Weicht sein Ver¬
halten als Fürst, Untertan, Vater oder Sohn von den Normen ab, wird die
durch die Riten vorgeschriebene Ordnung gestört.
318 Rudolf Hebzeb
politische Leitlinie des Idealismus K'ung-tzu's. Die ideologische Garan¬
tie für die Wiederbelebung der Chou-Riten war die Erfüllung des Grund¬
satzes der Menschenliebe."*"
Für Ch'e Tsai, der in der Wiederherstellung der Chou-Riten eine
politische Forderung des Konfuzius sieht, sind diese Riten die Waffe
der feudalistischen Ausbeuterklasse zur Beherrschung der ausgebeuteten
Klasse. Wenn Konfuzius sagt ,,Was gegen die Riten verstößt, darauf
schaue nicht ; was gegen die Riten verstößt, darauf höre nicht ; was gegen
die Riten verstößt, davon rede nicht; was gegen die Riten verstößt,
das tue nicht"*i, so wolle er mit der Waffe der „Wiederherstellung der
Riten" das Denken der Menschen in Fesseln schlagen.**
Nach Auffassung der genaimten Autoren war die von Konfuzius ange¬
strebte Wiederbelebung der Chou-Riten konservativ, ja sogar reaktionär
— allenfalls schloß sie gewisse Elemente der Reform ein. Der entgegenge¬
setzte Standpunkt lautet, daß die Riten, für die Konfuzius eingetreten sei,
nichtdieChou-Riten in ihrer ursprünglichen, unveränderten Form waren.
So äußert Chung ChHAO-p'ENO: ,,Was er [Konfuzius] ,Zurückkehren
zu den Riten' nermt, heißt, diese unter der äußeren Form der Rückkehr
zum Alten mit neuem Inhalt zu füllen."** Als wesentliche Änderungen,
die Konfuzius an den Chou-Riten vorgenommen habe, führt Chung
Chao-p'eng die folgenden an : Konfuzius habe die Liebe zu den Menschen
verkündet anstelle der Liebe zu den Blutsverwandten, dem nach den
Chou-Riten geltenden Prinzip; er habe die Auswahl von hervorragend
Tüchtigen für die Verwaltung des Staates befürwortet anstelle der Aus¬
wahl von Verwandten und Freunden; er habe den Geltungsbereich der
Riten auf das gewöhnliche Volk ausgedehnt, während es im Li-chi heiße
„Die Riten reichen nicht hinab zum gewöhnlichen Volk"**; er sei dafür
eingetreten, daß die Regierung durch Tugend und Riten ausgeübt werde
statt durch Strafen und Gesetze; schließlich sei er dafür eingetreten,
das einfache Volk an Bildung und Erziehung teilhaben zu lassen, im
Gegensatz zum Bildungsprivileg des Adels, wie es nach den Chou-Riten
bestand. Das mache die zwischen dem Denken des Konfuzius und den
Chou-Riten vorhandenen grundsätzlichen Unterschiede deutlich. Nur
die aufstrebende Grundbesitzerklasse habe derartige Neuerungen her¬
vorbringen können. Dies rechtfertige das Urteil, Konfuzius habe das
Denken der feudalistischen Grundbesitzerklasse repräsentiert.**
K'ung-tzu ti „jen" ti pcui-shou szu-hsiang chung ti chin-pu i-i. Zit. n.
Kuang-ming jih-pao 12. 11. 1962.
" LY XII, 1.
^2 K'ung-tzu lun jen. In: KTCHTLC, S. 166.
^3 Lüeh-lun K'ung-tzu szu-hsiang ti chieh-chi-hsing. In: KTCHTLC, S. 188.
" Li-chi, Kap. Ch'ü-li 16a (ed. Szu-pu pei-yao).
Lüeh-lun K'ung-tzu szu-hsiang ti chieh-chi-hsing, a.a.O., S. 189ff.
Konfuzius in der Volicsrepublik China 319
Grundsätzlich positiv wird der politische Standpunkt des Konfuzius
auch durch An Tso-chang beurteilt. Dieser ist ebenfalls der Meinung,
daß Konfuzius die Chou-Riten verändert hat. Er habe die Auffassung
vertreten, daß man die überlieferten Riten übernehmen könne, daß aber
noch wichtiger ihre kritische Umgestaltung sei, um sie den Forderungen
der Zeit anzupassen. Deshalb habe er gesagt: ,,Die Yin stützten sich auf
die Riten der Hsia; was sie davongenommen und dazugetan haben,
kann man erkennen. Die Chou stützten sich auf die Riten der Yin; was
sie davongenommen und dazugetan haben, kann man erkennen. Mag
eine andere Dynastie die Chou fortsetzen, so wird man selbst nach
hundert Generationen erkennen können [was sie davongenommen und
dazugetan hat]."**
Nach Meinung An Tso-chang's unterscheiden sich die Riten des
Konfuzius in wenigstens drei Punkten von denen der Vergangenheit :
1. Konfuzius habe die Riten neu erklärt und sich dagegen gewandt, diese
lediglich als äußere Formen zu betrachten. Aus Aussprüchen, wie
,,Wenn die Oberen die Riten lieben, so ist das Volk leicht zu verwen¬
den"*', gehe hervor, daß die Riten, von denen Konfuzius spricht, aus¬
schließlich politischen Zwecken gedient hätten — nämlich das arbei¬
tende Volk der Autorität der Herrschenden zu unterwerfen. Zugleich
aber habe sich Konfuzius mit den Riten gegen die zu schwere Aus¬
beutung und Unterdrückung des Volkes durch den Sklavenhalter-
Adel gewandt, was in der damaligen Zeit den Forderungen der Volks¬
massen entsprochen habe.
2. Konfuzius habe die Anwendung der Riten, vordem das Monopol des
Sklavenhalter-Adels, auf das gewöhnliche Volk ausgedehnt, d.h. er
habe die Stellung des gewöhnlichen Volkes so erhöht, daß es die
Normen der Riten empfangen konnte. Zur damaligen Zeit sei dies
eine neue Lehre gewesen, weil durch sie die alte Einschränkung „Die
Riten reichen nicht hinab zum gewöhnlichen Volk" aufgehoben worden
sei und weil sie die Forderung der Grundbesitzerklasse nach Gleich¬
stellung mit dem Sklavenhalter-Adel widergespiegelt habe wie auch
die Hoffnung der Volksmassen auf Befreiung von zu strenger Herr¬
schaft.
3. Schließlich habe Konfuzius jew, Menschenliebe, zum neuen Inhalt der
Riten gemacht und diese dadurch grundlegend verändert. Er habe die
Frage gestellt, ob die Riten noch einen Nutzen hätten, wenn ihr
wesentlicher Inhalt nicht jen sei. Dies beweise die Unhaltbarkeit des
Arguments, Konfuzius habe die alten Riten wiederherstellen wollen.**
« LY II, 23.
*' LY XIV, 44.
** Kuan-yü K'ung-tzu ti „li" ho „jen" ti iisüeh-shuo. In : KTCHTLC, S. 97 ff.
320 Rudolf Hebzeb
Ähnlich äußert sich auch Chung Ebh-chü. Wenn Konfuzius sagt „Zu¬
rückkehren zu den Riten", so könne dies nicht einfach als Wiederher¬
stellung der Chou-Riten ohne Ändenmgen interpretiert werden. Obwohl
die Riten des Koirfuzius die alten Formen behalten hätten, seien sie in
ihrer Substanz doch nicht mehr die Chou-Riten im vollständigen Sirme
gewesen.**
Nach Auffassung der zuletzt genannten Autoren unterschieden sich
die Riten des Konfuzius weitgehend von denen der Chou und hatten in
der damaligen Zeit im wesentlichen fortschrittliche Bedeutung. Zumin¬
dest aber bildeten sie ein reformiertes Ritensystem auf der Grundlage
der alten Riten.
Der Jere-Begriff
Ziemlich einmütig sind die Teilnehmer an der Diskussion über Konfu¬
zius der Ansicht, daß der Kern seiner Lehre jew ist. Beträchtliche Auffas-
sungsunterschiede bestehen aber bezüglich des Inhalts und der Funktion
dieses Begriffs. Nach Memung Kuan Feng's und Lm Yü-shih's enthält
der jew-Begriff des Konfuzius zwei Grundgedanken :
1. „Ein Mensch mit jen gibt anderen Halt, wie er selbst fest zu stehen
wünscht, und er läßt andere zum Ziel gelangen, wie er selbst es zu
erreichen wünscht."*"
2. „Was du selbst nicht wünschst, füge anderen nicht zu."*^
Miteinander verbunden bringen beide Grundgedanken zum Ausdruck,
was Konfuzius — seinem Schüler Tseng-tzu zufolge — mit dem Aus¬
spruch ,, Meine Lehre ist in einem befaßt" meint : das Prinzip der Loyali¬
tät, chung, und das Prinzip der Gegenseitigkeit, shu.^^
Der konkrete Inhalt seiner Aussprüche „Anderen Halt geben, wie
man selbst fest zu stehen wünscht, andere zum Ziel gelangen lassen,
wie man selbst es zu erreichen wünscht" und „Was du selbst nicht
wünschst, füge anderen nicht zu" bestehe hauptsächlich darin, die Be¬
ziehungen, wie sie in dem Wort zum Ausdruck kommen ,,Der Fürst sei
Fürst, der Untertan sei Untertan; der Vater sei Vater, der Sohn sei
Sohn", zu verbessern und aufrechtzuerhalten ebenso wie die ursprüng¬
lichen Beziehungen der Klassenherrschaft.**
Nach Meinung Yang Jung-kuo's ist der Inhalt des Begriffs jen sehr
vielfältig. Ihm zufolge umfaßt dieser Pietät, brüderliche Liebe, LoyaUtät,
" Shih-lun K'ung-tzu ti cheng-chih hsüeh-shuo ho chieh-chi li-ch'ang. Kuang- ming jih-pao 21. 10. 1962.
LY VI, 28.
*» LY XII, 2.
*2 LY IV, 15.
*3 Lun K'ung-tzu. In: KTCHTLC, S. 222 f.
Konfuzius in der Volksrepublik China 321
Gegenseitigkeit, rechte Sitte, Weisheit, Tapferkeit, Ehrerbietung, Gro߬
zügigkeit, Vertrauen, Eifer und Güte. Den Kern jedoch bilden, wie er
glaubt, Pietät und brüderliche Liebe**.
O '
Wieder andere Autoren sind der Auffassung, daß die Grundidee des
Begriffs jew Menschenliebe ist, so z. B. Kao Tsan-pei** und Kao Heng**.
Für Feng Yu-lan schließlich ist das jew des Konfuzius nicht nur ein
Moralbegriff, sondern es hat für ihn auch die Bedeutung einer Welt¬
anschauung".
Weit heftiger umstritten ist jedoch die Frage, wie die jew-Lehre des
Konfuzius zu werten sei : hat sie fortschrittliche Bedeutung oder ist sie
konservativ ?
Die Diskussion konzentriert sich darauf, ob in der von Konfuzius
gegebenen Definition des Begriffs jew als „Liebe zu den Menschen", ai-
Jen^, auch die Beherrschten eingeschlossen sind, also alle Menschen
ohne Unterschied. Was die Beantwortung dieser Frage angeht, so gibt
es zwei entgegengesetzte Ansichten. Die eine ist die, daß jew, Menschen,
und min, Volk, im Lun-yü streng zu unterscheiden sind. Chao Chi-pin,
der Begründer dieser Auffassung, geht von dem Ausspruch des Konfuzius
aus ,,Die Leitung eines Staates von tausend Kriegswagen erfordert Sorg¬
falt in den Staatsgeschäften und Vertrauen, Sparsamkeit im Verbrauch
und Liebe zu den Menschen sowie die Verwendung des Volkes entspre¬
chend der Zeit"**. Die Haltung der Regierenden gegenüber den ,, Men¬
schen" sei demzufolge dm'ch ,, Liebe" gekennzeichnet, gegenüber dem , ,Volk" bestehe sie darin, dieses zu „verwenden". Anhand von Textstellen
aus dem Lun-yü und unter Heranziehung zahlreicher Kommentare
versucht Chao Chi-pin nachzuweisen, daß hier ein klassemnäßiger Unter¬
schied zum Ausdruck kommt, dergestalt daß jew, Menschen, als Be¬
zeichnung für die Herrschenden, min, Volk, hingegen als Bezeichnung
für die Beherrschten gebraucht wird — oder entsprechend den beiden
Hauptklassen der Sklavenhaltergesellschaft jew für die Sklavenhalter
und min für die Sklaven*".
Kuan Feng und Lin Yü-shih vertreten die Auffassung, daß die jew-
Lehre des Konfuzius eine reformistische, im wesentlichen den Stand¬
punkt der Sklavenhalter zum Ausdruck bringende Lehre zur Versöhnung
der Klassenwidersprüche ist. Um die Klassenwidersprüche zu versöhnen,
habe sich Konfuzius der Menschenliebe als Aushängeschild bedient.
** Lun K'ung-tzu szu-lisiang. In: KTCHTLC, S. 376.
K'ung-tzu szu-hsiang ti ho-hsin: jen. In: Wen-shih-che 1962, 5.
** K'ung-tzu szu-hsiang san lun. In: KTCHTLC, S. 356.
*' Lun K'ung-tzu kuan-yü „jen" ti szu-hsiang. In: KTCHTLC, S. 293.
68 LY XII, 22.
*9 LY I, 5.
<">Lun-yü hsin-t'an. Peking 1962, S. 7fr.
322 Rudolf Hebzeb
Nach der Bedeutung von jen gefragt, habe er geantwortet ,, Liebe zu den
Menschen". Der Grundsatz der Menschenliebe, für den er eingetreten sei
komme auch zum Ausdruck in seinen Aussprüchen ,, Anderen Halt geben,
wie man selbst fest zu stehen wünscht' ' und ,, Was du selbst nicht wünschst, füge anderen nicht zu." Liebe zu den Menschen" und ,,Was du selbst nicht wünschst, füge anderen nicht zu" seien abstrakte Redensarten.
K'ung-tzu's Liebe zu den Menschen hingegen habe einen konkreten
Klasseninhalt. Wenn er sich dieser Aussprüche bediene, so beziehe er
nicht das Volk (die Sklaven) ein. Im Lun-yü werde ein strenger Unter¬
schied im Gebrauch der Worte jen und min gemacht. Wie Chao Chi-pin
richtig dargelegt habe, beziehe sich jen auf die Klasse der Sklavenhalter, min auf die Klasse der Sklaven*^.
Jen Chi-yü äußert die Auffassung, K'ung-tzu's Prinzip der Menschen¬
liebe, jen, sei mit den Riten, li, verknüpft. Der Zusammenhang zwischen
jen und li sei klar : Das alte System, das sich in den Riten darstelle und
welches eben das von Konfuzius gestützte Sklavensystem verkörpere,
könne nicht verändert werden, die herrschende Ordnung von Oberen
und Unteren könne nicht gestört werden. Zwar habe Konfuzius die Herr¬
schenden aufgefordert, für die Verbesserung des Lebens und der gesell¬
schaftlichen SteUung der Arbeitenden (der Sldaven) Sorge zu tragen,
doch beziehe sich sein jen speziell auf die Herrschenden, die Beherrschten
seien nicht einbegriffen. In dem Ausspruch „Edle, die nicht menschlich
sind, die gibt es wohl; nie aber hat es gewöhnliche Menschen gegeben,
die doch menschlich waren"** komme dies deutlich zum Ausdruck**.
Ch'e Tsai hebt den Klassencharakter der Menschenliebe des Konfu¬
zius hervor. Daß Liebe zu den Menschen in einer KlassengeseUschaft
umfassende Liebe zu aUen Menschen bezeichne, sei eine Täuschung.
K'ung-tzu's Menschenliebe beziehe sich aUein auf die Ausbeuterklasse**.
Nach Meinung dieser Autoren war die jew-Lehre des Konfuzius konser¬
vativ und enthielt höchstens gewisse Elemente des Fortschritts.
Die entgegengesetzte Auffassung lautet, daß jew, Menschen, eine Be¬
zeichnung ganz aUgemeiner T^t darstellt, daß sich K'ung-tzu's Liebe zu
den Menschen ebenso auf die Angehörigen der beherrschten Klasse
bezieht.
So vertritt Kao Heng die Ansicht, eine objektive und allseitige Unter¬
suchung des Lun-yü-Textes lasse erkennen, daß K'ung-tzu's Liebe zu
" Lun K'ung-tzu. In: KTCHTLC. S. 227.
" LY XIV, 7.
" K'ung-tzu cheng-chih shang ti pao-shou li-ch'ang ho che-hsüeh sJtang ti
wei-hsin chu-i. In: KTCHTLC, S. 15.3.
«* Lun K'ung-tzu t'an „jen" ti chieh-chi-hsing. In: KTCHTLC, S. 136.
Konfuzius in der Volksrepublik China 323
den MensclieD, ai-jen, die Liebe zum Volk einschließt. Zwar sei der
Beweggrund fih' Konfuzius, das Volk zu lieben, in erster Linie die
Festigung der Herrschaft der herrschenden Klasse gewesen, aber des¬
wegen könne sein Gedanke der Liebe zum Volk nicht geleugnet werden.
Ausgehend von diesem Gedanken sei er dafür emgetreten, dem Volk
Fürsorge zu schenken«*, ihm zu nützen*«, es wohlhabend zu machen und
es zu unterweisen«' ; dem Volk Frieden zu geben«^, dem Volk in freigebig¬
ster Weise Gutes zu tun und allen helfen zu können«», sei sein höchstes
Ideal gewesen'".
Ch'äO Süng-x'ing führt zahkeiche Beispiele aus dem Tso-chuan und
dem Lun-yü an, um zu zeigen, daß während der Ch'un-ch'iu-Zeit kein
strenger Unterschied im Gebrauch der Worte jen, Menschen, und min,
Volk, gemacht worden sei. Wenn Konfuzius von Liebe zu den Menschen
spreche, so tue er dies durchaus nicht nur mit Bezug auf die herrschende
Klasse, sondern mit Bezug auf die Menschen im allgemeinen'^.
Auch Feng Yct-lan vertritt die Ansicht, daß jem, Menschen, zur Ch'un-
ch'iu-Zeit in ganz allgemeinem Sirme gebraucht worden sei. Wenn Kuan
Feng und Lin Yü-shih sagten, jen bedeute zur Ch'un-ch'iu-Zeit allein
die Adhgen, so widersprächen sie damit ihrer eigenen Auffassung, nämlich
daß Konfuzius sich der Menschenliebe als Aushängeschild bedient habe,
um die Widersprüche zwischen den Klassen zu versöhnen — denn ai-jen
sei dann in jedem FaU ausschließlich Liebe zum Adel'*. Der Wortbedeu¬
tung nach sei es jedoch unmöglich, ai-jen als Liebe zur Sklavenhalter-
Aristokratie zu erklären. Dem Wortsiim nach habe Konfuzius von der
Liebe zu allen Menschen gesprochen. AUerdings schränkt Feng Yit-lan
seine Aussage insofern wieder ein, als er hinzufügt, daß der hier erörterte
Begriff jen, Menschen, selbstverständhch abstrakt aufzufassen sei. In
Wirklichkeit sei es doch nur die Ausbeuterklasse gewesen, auf die sich
K'ung-tzu's Menschenliebe bezogen habe ; aber es gehe nicht an, deshalb
zu sagen, jen, Menschen, bezeichne spezieU die Sklavenhalter-Aristo¬
kratie'*.
»5 LY V, 16.
«6 LY XX, 2.
«' LY XIII, 9.
«« LY XIV, 45.
69 LY VI, 28.
'0 K'ung-tzu szu-hsiang san lun. In: KTCHTLC, S. 360f.
'1 Tui K'ung-tzu „jen" ti i-hsieh k'an-fa. Hu-pei jih-pao 1. 9. 1961.
'2 In einem späteren Artikel ergänzen Kuan Fbng und Lin Yü-shih ihre
Auffassung dahingehend, daß sie den Begriff jen, Menschen, nicht allein auf die Sklavenhalter bezogen wissen wollen, sondern auch auf die Angehörigen
der Grundbesitzerldasse und auf das freie Volk {Tsai lun K'ung-tzu. In:
KTCHTLC, S. 319).
'3 Lun K'ung-tzu kuan-yü „jen" ti szu-hsiang. In: KTCHTLC, S. 289.
324 Rudolf Hebzeb
Das philosophische Denken des Konfuzius
Die Beantwortung der Frage, wie das philosophische Denken des
Konfuzius zu charakterisieren sei, als materialistisch oder ideahstisch
bzw. als vorwiegend materiahstisch oder vorwiegend idealistisch, hängt
v. a. davon ab, auf welche Weise der Hinmielsbegrilf des Konfuzius
interpretiert wird. So erfährt z. B. der Begriff Himmel im Ausspruch des
Konfuzius ,,Was redet denn der Himmel? Die vier Jahreszeiten gehen
ihren Gang, und alle Dinge entstehen. . eine ganz unterschiedhche
Deutung. Jen Chi-yü ist der Auffassung, daß sich für Konfuzius der
Himmel als persönlicher Gott darstellt und einen Willen besitzt. Was
den betreffenden Ausspruch des Konfuzius anbelangt, so scheine es
zwar, als sei hier der natürliche Himmel als Gegenpol zur Erde gemeint.
In Wirklichkeit jedoch habe Konfuzius geglaubt, daß der Himmel reden
könne, hingegen nicht die Notwendigkeit bestehe, daß er redet. Hätte
Konfuzius das völlige Unvermögen zu reden ausdrücken wollen, warum
habe er dann nicht gesagt ,,Was reden denn die Steine ?", ,,Was reden
denn die Bäume ?" Konfuzius habe sich vor der Macht des himmlischen
Herrschers gebeugt und deshalb die Menschen gelehrt, sich dem Willen
des Himmels, der himmlischen Schickung zu unterwerfen. In Wirkhch¬
keit jedoch sei die himmlische Schickung der WiUe des Sklavenhalter-
Adels auf Erden gewesen. Alles Unerklärbare und Irrationale habe
Konfuzius auf die himmlische Schickung zurückgeführt und damit die
Probleme als gelöst angesehen.
Was Geister und Götter anbelangt, so sei deren Existenz nicht klar
und eindeutig durch Konfuzius verneint worden. Er habe geäußert:
„Geister und Götter ehren, aber sich fernhalten von ihnen"'* oder ,,Wenn
man noch nicht den Menschen dienen kann, wie soUte man den Geistem
dienen können?" und ,,Weim man noch nicht das Leben kennt, wie
sollte man den Tod keimen ?"'* In diesem Verhalten gegenüber Geistem
und Göttern sähen manche Genossen Elemente des Atheismus. Tatsäch¬
lich aber habe Konfuzius die Existenz von Geistem offen anerkannt, so
wenn er sagt ,, Anderen Geistem als denen der verstorbenen Ahnen zu
opfern, ist Schmeichelei"". Auf Grund dessen, daß sich für Konfuzius der
Himmel als persönlicher Gott dargestellt habe, müsse sein Standpunkt
in dieser wichtigsten Frage als antimaterialistisch gelten. Wenn es auch
in der Frage der Geister und Götter bei Konfuzius gewisse Elemente des
Skeptizismus gebe, so könne dies an seiner idealistischen Einstellung
nichts ändern'*.
'* LY XVII, 19. '6 LY VI, 20. " LY XI, 11. " LY II, 24.
" K'ung-tzu cheng-chih shang ti pao-shou li-ch'ang ho che-hsüeh shang ti wei-hsin chu-i. In: KTCHTLC, S. ISöff.
Konfuzius in der Volksrepublik China 325
T'UNG Shu- YEH weist auf die Widersprüchlichkeit der Weltanschauung
des Konfuzius hin. Einerseits habe er den Himmel als persönhchen Grott
betrachtet, der einen Willen besitzt, andererseits aber enthielten seine
Äußerungen über den Himmel auch naturalistische Elemente. In dem
Ausspruch „Was redet denn der Himmel? Die vier Jahreszeiten gehen
ihren Gang, und alle Dinge entstehen ..." gemahne der Begriff Himmel
an Natur. Von seiner Neigimg zum Naturahsmus und seiner skeptischen
Haltung gegenüber Geistern und Göttern aus beurteüt, enthalte die
Weltanschauung des Konfuzius einige materialistische Bestandteüe. Von
seinem Glauben an Himmel und Schicksal aus beurteüt, sei sie religiös-
ideahstisch. Im ganzen müsse gesagt werden, daß in semem Denken der
Idealismus vorherrsche".
Überraschend objektiv ist der Standpunkt, den Kuan Feng und Lm
Yü-shih in bezug auf das phüosophische Denken des Konfuzius ein¬
nehmen. Sie führen aus, daß es unmöglich sei, die Naturauffassung des
Konfuzius zu untersuchen und zu erörtern, da dieser das metaphysische
Problem der Natur des WeltaUs nicht diskutiert habe. Auf Grund des
Ausspruchs ,,Was redet denn der Himmel ? Die vier Jahreszeiten gehen
ihren Gang, und aUe Dinge entstehen. .." sei erörtert worden, ob Kon¬
fuzius bejaht oder verneint habe, daß der Himmel einen WiUen besitzt,
und ob seine Naturauflfassung ideahstisch oder materialistisch gewesen
sei. Es erscheine aber sehr schwierig, in dieser Frage zu einer einheithchen
und definitiven Schlußfolgerung zu gelangen. Einen Punkt gebe es je¬
doch, der ganz klar sei und der einen sehr wichtigen Platz im Gedanken¬
system des Konfuzius einnehme: die himmlische Schickung, tHen-ming.
Das Schicksal verkörpere für Konfuzius eine mechanische Gesetzmäßig¬
keit, eine äußere, von der GeseUschaft unabhängige und doch auf diese
einwirkende Macht, welche die Wandlung der Dinge beherrscht und
regelt. Manche sagten, Konfuzius habe nur im Zustand der Emotion
vom Himmel und von der himmlischen Schickung gesprochen. Deshalb
könne man darauf nicht den Beweis gründen, daß er anerkannt habe,
der Himmel besitze einen WiUen, und daß er Idealist gewesen sei. Eine
Prüfung der entsprechenden Äußerungen ergebe zwar, daß Konfuzius
diese nur zum Teil im emotionalen Zustand getan habe, wichtiger jedoch
sei, daß man hier Theismus und Atheismus nicht direkt und vollständig
mit Ideahsmus und Materiahsmus gleichsetzen könne. Außer Zweifel
stehe aber, daß Konfuzius die Existenz des Schicksals und einer himm¬
lischen Schickung, die das Schicksal der GeseUschaft von außen her be¬
stimmen, anerkannt habe. So könne er als idealistischer mechanischer Fa¬
talist charakterisiert werden*".
™ K'ung-tzu szu-hsiang yen-chiu. In: KTCHTLC, S. 6ff.
Lun K'ung-tzu. In: KTCHTLC, S. 238fif.
22 ZDMQ II9/2
326 Rudolf Hebzeb.
Die himmlische Schickung, wie sie Konfuzius versteht, schließe das
menschliche Handeln aus. Widersprüchlich sei, daß er einerseits die
menschliches Handeln ausschließende himmlische Schickung betont
andererseits die Wichtigkeit des menschlichen Handelns anerkannt
habe*'^.
Im übrigen sei Eklektizismus das für Konfuzius maßgebende Prinzip
oder die Methodik beim Aufbau seines Gedankensystems gewesen. Sein
philosophisches Denken könne aber nicht dualistisch genannt werden
sondern stelle vielmehr eine eklektische Mischung aus objektivem und
subjektivem Idealismus dar. Schließlich : Da Konfuzius erkenntnistheo¬
retische Probleme nicht speziell erörtert habe, sei es unmöglich, über seine
Erkenntnistheorie zu .sprechen. Lediglich in seinem pädagogischen Den¬
ken, besonders im Bereich der Lehrmethoden, gebe es einige einfache
materialistische Gedanken, die die Erkenntnistheorie berührten**.
Die Lehrtätigkeit des Konfuzius
Was die Beurteilung des Koirfuzius als Lehrer betrifft, so wird diesem
von der überwiegenden Zahl der Urteilenden das Verdienst zugesprochen, in China der erste gewesen zu sein, der als private Persönlichkeit gelehrt
hat. Dadurch sei das Wissensmonopol des Adels durchbrochen worden.
Entsprechend seinem Wort ,, Andere belehren, ohne zu ermüden"** habe
er eine Vielzahl von Schülern aus allen Schichten der Gesellschaft seiner
Zeit, der Überlieferung nach dreitausend, unterwiesen. Er habe den
Grundsatz vertreten „Beim Lehren gibt es keine Klassenunterschiede"**.
Jeder, der nur ein „Bündel Dörrfleisch" mitgeführt habe, sei von ihm als
Schüler angenommen worden**. Ebenfalls positiv zu beurteilen sei, daß
er der Nachwelt das Erbe der alten Kultur übermittelt habe, dem er zu¬
gleich eine bleibende Form gegeben habe u. a. m.
Für die mehr ins einzelne gehende Würdigung der Lehrtätigkeit des
Konfuzius und seines pädagogischen Denkens spielt indessen der Stand¬
punkt eine maßgebende Rolle, den die Urteilenden bezüglich der Klassen¬
position bzw. der politischen oder philosophischen Anschauungen des
Konfuzius eirmehmen.
Kuan Feng und Lin Yü-shih sehen zwei Aspekte seines pädagogischen
Denkens :
1. Da sich Konfuzius fast das ganze Leben lang der Lehrtätigkeit gewid¬
met habe, spiegele sein pädagogisches Denken notwendigerweise die
Erfahrungen seiner Unterrichtspraxis wider. Deshalb gebe es in seinem
pädagogischen Denken, insbesondere in seinen Lehrmethoden, einige
einfache materiahstische Elemente.
" a.a.O., S. 242. 8" a.a.O., S. 245f. LY VII, 2.
8* LY XVIII, 38 . 85 LY VII, 7.