Bemerkungen zum Karanaprajnaptisastra*
Von Siglinde Dietz, Göttingen
Das Käranaprajnaptiiästra "die Lehrschrift von der Darlegung der
Ursachen" ist der zweite Teil des dreiteihgen Prajnaptisästra^, das
Maudgalyäyana^ zugeschrieben wird. Weder in der db. noch in der chin.
Übersetzung ist ein Autorenname angegeben. Das Prajnaptisästra gehört
zusammen mit dem Dharmaskandha und dem Samgltiparyäya zur ältesten
Grappe^ des aus sieben Werken bestehenden Abhidharmapitaka der Sar¬
västivädin, da es nicht nur einem Zeitgenossen und direkten Schüler des
Buddha zugeschrieben wird, sondem auch im Aufbau mit den beiden
anderen frühen Abhidharma-Werken übereinstimmt*; d.h. am Anfang ei¬
nes Abschnittes wird jeweils ein Sütra zitiert, dessen einzelne Begriffe
dann im weiteren kommentiert werden. Außerdem werden im Käratia-
prajnaptiSästra (fortan: Käraitapr) kurze sachliche Begriffserklämngen
* Zu den Abkürzungen siehe HEINZ BECHERT (Hrsg.): Abkürzungsverzeichnis zur
buddlüstischen Literatur in Indien und Südoslasien. GöUingen 1990. (Sanskrit-Wörter¬
buch der buddhisüschen Texte aus den Turfan-Funden, Beiheft 3.)
' Nur in der dbedschen (fortan: tib.) ÜberseUung (Peking Tanjur Nr. 5587-5589) sind alle drei Teile {Loka-, Kärana- und Karmaprajhapti) erhalten. Unter den Abhidharma- Werken der Sarväsüvädin in chinesischer (fortan: chin.) Übersetzung finden wir im Prajnaptiiästra nur die * Käranaprajnapti* (Taishö Nr. 1538), chin. Shih she lun. Vgl.
die Analyse in LOUIS DE LA VALLßE POUSSIN : Vasubandhu et YaQomitra. Troisieme chapitre de l'Abhidharmakoga Kärikä, Bhäfya et Vyäkhyä. Avec une analyse de la Loka- prajhapn et de la Käratiprajhapu de Maudgalyäyana. Bruxelles 1919 (Bouddhisme, Etudes et Materiaux. Cosmologie: Le monde des etres et le monde receptable), S. 326- 350 und bei JUNJIRÖ TAKAKUSU : On the Abhidharma literature ofthe Sarvästivädins.
In: JPTS 1904/05,5. 117 f
2 Vgl. U. WOGIHARA (Hrsg.): Abhidharmakosavyäkhyä. S. 11, 28; BU-STON : HisU)- ry of Buddhism. (Übers. E. OBERMILLER), Bd. 1, S. 49; s. auch ETIENNE LAMOTTE : Histoire du bouddhisme indien. Louvain 1958, S. 204; ERICH FRAUWALLNER : A/?/u- dharma-Studien II. In: WZKSO 8 (1964), S. 70 f
3 Vgl. J. TAKAKUSU : 0/7. c». (Anm. 1),S. 116-118; G. P. MALALESEKERA: Ewry-
clopaedia of Buddhism. Ceylon l%I-65, s. v. Abhidharma-Literature 69b-70a; E. LA¬
MOTTE ; op. cit. (Anm. 2), S. 206.
4 VALENTINA STACHE-ROSEN : Das Saiigiüsütra und sein Kommentar SaAgTii-
paryäya. Berlin 1968. (Dogmatische Begriffsreihen im älteren Buddhismus II. Sanskril- texte aus den Turfanfunden 9.); SIGLINDE DIETZ: Fragmente des Dharmaskandha. Ein Abhidharma-Text in Sanskrit aus Gilgit. GöUingen 1984 (AAWG Nr. 142.), S. 18.
Cornelia Wunsch (Hrsg.): XXV. Deutscher Orientalistentag, Vorträge, München 8.-13.4.1991
(ZDMG-Suppl. 10). - © 1994 Franz Steiner Veriag Stuttgart
und Antworten auf die Fragen nach den Ursachen - diese Fragen beginnen
immer "Warum ...?" - durch längere Sütrazitate und, was besonders be¬
merkenswert ist, durch zahheiche Verszitate abgeschlossen.
Vom Sanskrittext des Käranapr sind nur ganz geringe Reste erhalten.
Wir haben jedoch eine tibedsche und eine chinesische Übersetzung. Die
db. Übersetzung rGyu gdags pa wurde im 8./9. Jh. von den unter Khri
sron Ide btsan wirkenden Übersetzem Jinamitra, Prajnävarman und Ye ^es
sde^ übersetzt und umfaßt im Tanjur des Peking-Kanons 96 1/2 Folien
oder 197 Seiten. Eine detaillierte Analyse des tib. Käranapr fmden wir bei
LOUIS DE LA VALLEE POUSSIN, op. cit. (Anm. 1), S. 326-350. Der Text
ist in sieben Bücher {bam po) sowie in neunzehn Kapitel {tib.tshigs, skt.
äSväsakä) unterteilt. Letzere Einteilung scheint die ursprüngliche zu sein,
da das Ende des siebenten Kapitels in einem Sanskritfragment* erhalten ist
und diese Einteilung auch mit der chin. Übersetzung übereinsdmmt. Die
Form der Kolophone der einzelnen Kapitel unterscheidet sich von der der
Lokaprajfiapti, wo sie immer "Das erste Kapitel aus der Lokaprajnapti"
usw. lauten. Im Käranapr haben wir vier verschiedene Arten. Der erste
Kolophon lautet: "Der erste Teil {skandha) mit dem Titel 'Teil der Merk¬
male' {laksanaskandha) aus dem Abhirdharmaprajnaptiiästra Kärana¬
prajnapti ist abgeschlossen". Die Kapitel zwei bis fünfzehn und siebzehn
bis achtzehn enden mit den Worten: "Das zweite Kapitel {äSväsaka) aus
dem großen Abhidharmaiästra Käranaprajfiapti". Im sechzehnten
Kapitel wird noch einmal ein Titel angegeben: "Das sechzehnte Kapitel aus
dem AbhidharmaSästra Käratiaprajhapti 'Die Unterweisung über
Ursache und Wirkung des Heilvollen und Heilswidrigen {*kuSaläkuSala-
hetuphalanirdeSa)'" . Das neunzehnte und letzte Kapitel endet folgender¬
maßen: "Das neunzehnte Kapitel aus dem AbhidharmaprajhaptiSästra
Kärariaprajhapti ist abgeschlossen. Es {sciL das Abhidharmaprajhap¬
tiSästra) wurde vom Buddha, Pratyekabuddha und Srävaka überprüft (tib.
brtag, skt. parik§) [und] verhindert Irrtümer über strittige Fragen in bezug
auf den Dharma sowie über Heilsames {artha), Ursache und Wirkung;
[es] läßt gute Existenzformen erteichen und angenehme Fmcht entstehen.
Die Kärariaprajhapti ist abgeschlossen und damit der zweite [Teil des
Prajnaptisästra]."
5 Cone BdJ (60), Fol. 94a-175a; Derge Bd. / (60), Fol. 93 a7-I72 b4 (= Taipei Ediüon Bd. 41, S. 93/185/7-116/344/4); Narüiang Bd. Khu (62), Fol. 107a-191a;
Peking Nr. 5588, Bd. 115, Khu (62), Fol. 112 al-208 b2; sTog Palace Kanjur Nr. 316, Bd. 88, Fol. 204 a6-319 a7. Die Zitate sind, wenn nichl anders angegeben, nach der Peking-Ausgabe [P] angeführt.
6 SHTNr. lI94B(=R)x.
Bemerkungen zum Karanapmjnaptiiästra Tsn
Die chin. Übersetzung des Käranapr ist im Shi she lun "Prajnap¬
tiiästra"'' enthahen, das von Fa-hu* [Chüan 1^] und Wei-tsing'
[Chüan 5-7] in der ersten Hälfte des 11. Jh.s übersetzt wurde. Dieses
Prajnaptisästra besteht aus 14 Kapiteln. Das erste Kapitel enthält nur eine
Überschrift und lautetr'^ "im gro^n AbhidharmaSästra die Loka¬
prajnapti, erstes Kapitel". Es folgt die Glosse: "Im Kommentar ist dieser
Abschnitt vorhanden, der Text fehh aber im Original". Das Käranapr
beginnt mit Kapitel zwei. Die Kapitel zwei bis vierzehn sdmmen bis auf
wenige noch zu erwähnenden Abweichnungen genau mit den Kapiteln
zwei bis vierzehn des tib. Käranapr überein. Wie schon erwähnt, hat das
tib. Käranapr neunzehn Kapitel. Die Frage, ob die chin. Version nicht nur
am Anfang, sondem auch am Schluß fragmentarisch war, oder ob zwei
verschieden lange Versionen existierten, kann nicht entschieden werden.
Zumindest haben das erste und das fünfzehnte Kapitel der tib. Version
auch Vasubandhu vorgelegen, da er aus diesen beiden Kapiteln zitiert.
Daß der Anfang des chin. Käranapr fehlt, ist ziemlich sicher, da dieses
mitten im zweiten Kapitel der tib. Übersetzung (= P 146 b2), d.h. mit der
Frage "Warum erlangt der Cakravartin-König das Frauenjuwel (strT¬
ratna)!", beginnt. Dies ist das fünfte der sieben Juwelen eines Cakra¬
vartin. Auf ein weiteres Indiz für das Fehlen des Anfangs kommen wir
später noch zu sprechen. In der chin. Übersetzung ist nirgends ein Hin¬
weis auf die Schulzugehörigkeit des Werkes gegeben, wie wir ihn z.B. im
Dharmaskandha mehrfach zwischen den Kapiteln und am Ende des
Textes finden. Da die chinesische und tibedsche Version wegen ihrer
genauen Übereinstimmung in Wortlaut, Reihenfolge und Kommentierung
wohl auf dieselbe Sanskritfassung zurückgehen, wäre ein solcher Hinweis
besonders interessant. Die Frage, ob das Käranapr den Sarvästivädin
oder Mülarvästivädin zuzuschreiben ist, dürfte nicht so leicht zu
entscheiden sein, da das Käranapr überwiegend aus kanonischen Zitaten
besteht. Als Hinweise auf die Zugehörigkeit zum Sarvästiväda dürfen
wohl die Anerkennung von nur fünf Existenzformen (gati) in dem nur im
7 Taishö Nr. 1538, Bd. 26, S. 514 al8-529 c2 [ziüert: T.].
* Fa-hu, skL Dharmapäla (?) stammt aus einer westindischen Brahmanenfamilie. Er wurde 963 geboren, kam 1004 in Pien leang an und starb 1058. Vgl. PAUL DEMlfiVlLLE et al.: Ripertoire du canon bouddhique sino-japonais, Ediüon de Taishö (Taishö Shinshü Daizökyo), Fascicule annexe du Höbögirin. Paris, Tökyö 1978, s. v. Högo.
' Wei-tsing stammte aus Nanking. Er arbeitete seit 981 und verf'aßte 1027 einen Katalog des Kanons. Vgl. PAUL DEMIEVILLE: op. cit. (Anm. 8), s. v. Yuijö.
10 Vgl. J. TAKAKUSU : op. cit. (Anm. 1), S. 117 und Abhidh-k(VP) I, S. XXXIX.
11 Abhidh-k-bh(P) 27,7 = Abhidh-k(VP) I 74 entspricht käranapr 1 31 52 ff ; Abhidh- k-bh(P) 114,13-14 = Abhidh-k(VP) III 12 entspricht P 194 a6 ff.
Tibetischen erhaltenen fünfzehnten Kapitel und die Art der Behandlung der
"Zwischenexistenz" (skt. antaräbhava, tib. bar ma do'i srid pa) im elften
Kapitel gewertet werden. Außerdem stimmen die Kommentierungen zu
den vier Möglichkeiten der "Entstehung" (yoni) und den fünf Existenz¬
formen wördich mit denen im Sarngitiparyäya^'^ der Sarvästivädin über¬
ein.
Das erste Kapitel der tibetischen ^Täranapr-Übersetzungbeginnt mit
einem langen Sütrazitat, das eine Parallele im Lakkhanasuttanta des
DTghanikäya^'^ hat und in dem die 32 Merkmale eines Mahäpuruja be¬
schrieben werden. Das Zitat endet (P 116 a5) mit fünfzehn Strophen, in
denen 32 Merkmale beschrieben werden. Danach folgen Fragen zu den
emzelnen Merkmalen, z.B.: "Wenn man fragt: 'Warum erlangt der Bodhi¬
sattva das Merkmal eines Mahäpurusa, [d.h. warum] ist er einer, dessen
Füße fest aufgesetzt sind (supratisthitapädä)V , so heißt es: '..."'. Hier
folgt ein Sütrazitat. Auch die Antwort stammt in diesem Fall aus der
Parallele zum Lakkhatiasuttanta. Die Prosa wird wie im Mahävadäna¬
sütra^^ und im Mahäparinirväriasütra^^ mit dem Satz iyam atra dhar¬
matä I tasmäd idam ucyate ('di la chos hid ni 'di yin te I de la 'di skad ces bya'o) "Dies ist dabei die Norm: deshalb heißt es folgendermaßen" abge¬
schlossen. Darauf folgen Verse mit der Aufforderung, zu handeln wie der
Sugata, dessen Füße fest aufgesetzt sind, d.h. wie dieser heilvolle Dhar¬
mas zu erzeugen und fest wie Meru in ihnen zu stehen, um auf diese
Weise dieses Merkmal des Sugata zu erlangen. In der gleichen Art werden
die übrigen 31 Merkmale eines Mahäpurusa abgehandelt. Als vierzehntes
Merkmal finden wir hier "dessen Nimbus ein Klafter [breit ist]" (vyäma-
prabha). Dafür werden die sonst getrennten Merkmale "dessen Körper¬
haare aufrecht stehen" (ürdhvärigaroman) und "dessen Haare einzeln [ge¬
wachsen sind]" (ekaikaroman) zusammengefaßt.
Im zweiten Kapitel^' werden in ähnlicher Weise die sieben Juwelen ei¬
nes Cavkravartin kommentiert. Das Kapitel beginnt mit einem Zitat, das
dem Cakkavattisutta des SN V 99 entspricht. Danach wird nacheinander
erklärt, warum der Cavkravartin dieses Juwel erlangt. Auch dies wird mit
Zitaten aus einem Sütra belegt, das z.B. im Mahäsudassanasuttanta des
DN II \12-\11 oder im Bälapanditasutta des MN III 172-176 Parallelen
12 Vgl ScuigW 29 mdV. 5.
13 /'Fol. I12a2-I34b5.
14 DN III 142-179.
15 Z.B. MAV lb.I2,2a.5 usw.
16 MPS 51.23.
1' Tib.:/'134b5-152b2.
Bemerkungen zum Käranaprajnaptisästra 199
hat. Zum Schluß folgt eine Strophe. Nun wird nach dem Ursprung der
einzehien Juwelen gefragt. Auch diese Frage whd jeweils mit einem Sütra¬
zitat und Versen beantwortet. Bei der Antwort auf die Frage, woher das
Elefantenjuwel komme, wird das Sütrazitat durch ein Lokaprajhapti-TXi&l ersetzt, in dem der Elefant Supraristhita der Trayastrimsa-Götter beschrie¬
ben whd. An dieser Stelle fehlt der abschließende Vers. Mit der Behand¬
lung des Frauenjuwels eines Cakravardn'* beginnt die chin. Überset-
zungi' des Käranapr.
Im drittel KapitePO werden die sieben Juwelen des Cakravartin beson¬
deren Vorzügen des Buddha gleichgesetzt, z.B.: "Wie das Radjuwel des
Cakravartin-Königs, ebenso ist auch der achtgliedrige edle Weg des
Tathägata Arhat Samyaksarnbuddha. Nachdem er alle Befleckungen auf¬
gegeben hatte, hat der Erhabene durch sein Freisein von Hemmnissen in
allen Dharmas den achtgliedrigen Weg erlangt." Danach werden Verse zu
dem Thema angeführt. Das Kapitel wird mit der Sailagäthä eröffnet, die
Päh Sn 554 entspricht. Bemerkenswert ist auch das Uddäna "Stichwort¬
verzeichnis" dieses Kapitels, das sowohl im Tib. als auch im Chin.
folgendermaßen lautet: "König, Rad, Elefant, Pferd, Edelstein, Frau,
Hausherr, Ministerjuwel, [langes] Leben, Gesundheit, schöne Hautfarbe,
Lieblichkeit und viele Söhne, [diese] sind im dritten Teil (phun po)
zusammengefaßt". Dieses Uddäna zeigt, daß diese Kapitelzählung ziem¬
lich alt sein könnte, da wir hier wie am Ende des des ersten Kapitels den
Begriff skandha haben und nicht wie in den Kolophonen äSväsaka. Es
zeigt aber auch, daß im chin. PrajhaptiSästra wahrscheinlich die ersten
eineinhalb Kapitel des Käranapr verloren sind und auf sie die oben er¬
wähnte Bemerkung zu Lokaprajnapti im ersten Kapitel der chinesischen
Übersetzung gleichermaßen zutrifft.
Für die Überlieferungsgeschichte des tib. Kanons dürfte von Interesse
sein, daß im Narthang- und im Peking-Tanjur nach der Behandlung des
Haushermjuwels auf den Blättem P 152 a7-155 b8 ein Sütrazitat, in dem
vom Eintritt des Bodhisattva in den Mutterleib und seiner Geburt berichtet
wird, und Erklämngen für das Erdbeben beim Eintritt des Bodhisattva in
den Mutterleib und für das Leuchten der Welt zu diesem Zeitpunkt einge¬
fügt smd. Dem Sinn gemäß gehören diese Ausführungen eigentlich an den
Anfang des nächsten Kapitels, denn im Anschluß daran werden noch die
resdichen Punkte aus dem Uddäna des dritten Kapitels abgehandelt. Dieser
resdiche Text bis zur Stelle, an die das Zitat wirklich gehört, umfaßt im
18 fl46b2.
19 7. 514al9.
20 Tib.: P 152 b2-156 b4; Chin.: T. 515 c29-517 a9.
Peking-Tanjur die Seiten 155 b6-156 b6. Dies deutet darauf hin, daß im
Laufe der Überheferung dieses Blatt nach hinten gerutscht war. Im Cone-,
Derge-Tanjur, sTog Palace-Kanjur sowie dem chin. Käranapr fmden wir
die richdge Reihenfolge; das Sütrazitat, in dem Änanda angesprochen
wird, fehlt allerdings.
Das vierte Kapitel^i beginnt sofort mit der Erklärung für das Erdbeben
beim Eintritt des Bodhisattva in den Mutterleib. In diesem Kapitel werden
die Ursachen für neunzehn Umstände vor, während und nach der Geburt
des Bodhisattva untersucht.
Im fünften Kapitel^^ geht es um die Frage, warum der Bodhisattva
erst, nachdem er einen Sohn gezeugt hat, gläubig in die Hauslosigkeit
geht. Es werden drei Gründe dafür angeführt: I . weil der Bodhisattva seit
langer Zeit die Frucht von Karma angesammelt hat, das sein Sohn besitzen
wird, und weil die Reifung dieser Frucht kurz bevorsteht; 2. weil dies die
Norm (dharmatä) für die Bodhisattvas ist, die so zahlreich wie die
Sandkörner der Gangä sind; 3. weil man sonst die Verleumdung ausspre¬
chen könnte, daß er die Liebe nicht genießen kann. In dieser Frage unter¬
scheidet sich die tib. von der chin. Version. Im chin. Käranapr heißt es
hier: "Warum ist der Bodhisattva unter allen Lebewesen das Vortreff¬
lichste? Gibt es jemanden, der, ohne den Erleuchtungsgedanken (bodhi¬
citta) entwickelt zu haben, trotzdem gläubig in die Hauslosigkeit zieht?"
Diese Fragen werden mit drei Argumenten beantwortet: 1. "Der Bodhi¬
sattva betrachtet während einer langen Zeit alle Lebewesen wie einen
einzigen Sohn. Er übt voller Tatkraft heilsames Wirken und bringt die
überragende Frucht guten Karmas zum Anwachsen und zur Reife, die
kurz bevorsteht Dies ist die Norm (dharma)." 2. "Unter allen Bodhi¬
sattvas, die so zahlreich sind wie die Sandkörner im Ganges, gab es noch
keinen, der, ohne den Erleuchtungsgedanken entwickelt zu haben, mit
rechtem Glauben in die Hauslosigkeit gezogen ist." 3. "Wenn man das so
sagt, dann ist es so, weil er (der Bodhisattva) sinnliche Freuden nicht
genießen kann." Der Hauptunterschied zwischen den beiden Fassungen
ist, daß in der db. Übersetzung der Erleuchtungsgedanke (bodhicitta) nicht
einmal erwähnt wird und der Bodhisattva als ein tatsächlicher, wenn auch
ganz besonderer, Mensch behandelt wird, der sogar Sinnenfreuden zu
genießen versteht. In der chin. Übersetzung steht der Erleuchtungsge¬
danke im Mittelpunkt.
Weitere Fragen in diesem Kapitel handeln davon, warum der Bodhi¬
sattva nicht in einer niederen Familie, in einem armen Haus, unter den
^1 Tib.: P 156 b5-I62 a8; Chin.: T. 517 alO-519 c6.
22 Tib.: P 162 a8-165 b2; Chin.: 7.519 c7-520 c7.
Bemerkungen zum KäranaprajnaptiSäsira 301
Barbaren der Grenzgebiete, zu Beginn eines Kalpa, wenn die Menschen
80000 Jahre alt werden, oder am Ende des Kalpa, wenn sie nur 10 Jahre
alt werden, nicht in den übrigen drei Kontinenten, nicht unter den Göttem
des Käma- und Rüpadhätu geboren wird. Es folgen noch vier Fragen zum
Eintritt in das Nh^äna.
Im sechsten Kapitells werden die Gründe behandelt, warum von den
Mahäpum§a mit den 32 Merkmalen der eine ein Cakravartin und der an¬
dere ein Buddha wh-d, warum der Buddha nicht gleichzeidg mit einem
Pratyekabuddha exisdert, warum es nicht gleichzeitig zwei Cakravartin
gibt. Eine der hier behandelten Fragen ist auch, warum eine Frau kein
Cakravartin, Sakra, Brahma, Mära, Pratyekabuddha, Anuttarasamyaksarn-
buddha werden kann. Dies wird mit der im Vergleich zum Manne gerin¬
geren Kraft und dem geringeren Eifer beim Ausübern von Taten und mit
der geringeren Sinnesschärfe oder Intensität ihrer Fähigkeiten erklärt.
Im siebenten Kapitel^^* geht es um Leidenschaft, Haß und Verblen¬
dung, warum diese überaus stark oder nicht stark werden. Das Kapitel
beginnt mit einem Sütrazitat, das mit einem Zitat von elf Strophen endet.
Danach werden die oben genannten Themen erörtert.
Im achten Kapitells wird nach dem Ursprung des Verlangens nach ei¬
ner neuen Existenz gefragt, nach den Ursachen für den Gestank von
Leichen, der Fäulnis von Leichen, nach den Ursachen für das unterschied¬
liche Sehvermögen von Menschen Fischen, Eulen, Hunden, Insekten
usw.
Im neunten KapiteP* werden die Ursachen für Starrheit, Unmhe,
Stolz, Geschwätzigkeit, Unvernunft, Begriffstutzigkeit, Vergeßlichkeit,
Befleckung und deren Gegenteil erörtert. Von Starrheh heißt es z.B., daß
sie groß sei, wenn man sie überaus stark praktiziert habe und wenn man in
der vorherigen Existenzform eine Schlange, ein Näga oder ein ähnliches
Tier gewesen sei.
Im zehnten KapiteP'' wird nach den Gründen gefragt, warum Sumeru
der höchste Berg ist, wamm es im Norden viele Bäume und Gräser gibt,
wamm es hohe und niedere Gegenden gibt, warum es hohe und niedere
Berge gibt, wamm es verschiedenartige Blüten usw. gibt.
23 Tib.: P 165 b2-169 al; Chin.: T. 520 c8-521 cl8.
24 Tib.: P 169 al-173 b6; Chin.: T. 521 cl9-523 all.
25 Tib.; P 173 b6-176 a3; Chin.: T. 523 al2-524 a9.
26 Tib.; P 176 a3-179 a8; Chin.: T. 524 alO-525 a21.
27 Tib.: P 179 a8-181 a5; Chin.: T. 525 a22-526 a3.
Im elften Kapitel,^* dessen Anfang eine Parallele im Divy 166 hat,
werden Fragen über die magisch geschaffenen Wesen (tib. sphrul pa, skt.
nirmita) gestellt, z.B.: "Warum sprechen die vom Buddha, dem Erhabe¬
nen, magisch geschaffenen Wesen, die schön, wohlgeformt, ansehnlich
und mit den 32 Merkmalen eines Mahäpurusa versehen sind, nicht, wenn
der Buddha, der Erhabene, spricht, sondem nur, wenn der Buddha, der
Erhabene, schweigt, während die von den Srävakas geschaffenen Wesen
... gleichzeidg mit diesem sprechen und schweigen? Weil der Buddha, der
Erhabene, die Meisterschaft des Denkens und der Sammlung hat. Er tritt
schnell in die Konzentradon ein und erhebt sich wieder daraus, ohne das
Objekt seines Denkens aufzugeben, während es bei den Srävakas nicht so
ist. Außerdem ist der Buddha, der Erhabene, allwissend ..." Es werden
noch weitere Fragen bezüglich dieses magisch geschaffenen Wesens
gestellt, nämlich ob es aus den vier Elementen besteht, ob es eigene
Gedanken hat, wamm es in Flammen aufgehen kann, warum es beim
Verbrennen der eigenen Kleider usw. nicht auch die der anderen verbrennt
usw. In diesem Zusammenhang wird auch nach den Ursachen für das
Leuchten des Dravya^' {Gyad bu Nor) gefragt. Vier Fragen in diesem
Kapitel betreffen das "Zwischenwesen"(tib. bar ma do'i srid pa, skt.
antaräbhava), nämhch ob es aus den vier Elementen besteht, eine Gestalt,
die durch Ursachen entsteht, besitzt, ob es Denkvermögen besitzt, und ob
es von seinem eigenen Denken abhängig ist. Alle diese Fragen werden im
posidven Sinne beantwortet.
Im zwölften KapitePO werden Fragen über die Wellen des Ozeans, die
Tiefe, die Gezeiten, die Salzigkeit, die Edelsteine in ihm, über den Ozean
als Ort, an dem sich gleichzeitig Menschen und Leichen aufhalten, über die
28 Tib.: P 181 a5-I83 a5; Chin.: T. 526 a4-526 c7. Vgl. dazu S. DIETZ : The chapter on antaräbhava (bar ma do'i srid pa) und nirmita (sprul pa) in the AbhidharmaSäslra Käranaprajfiapti (rGyu gdags pa). In: The Proceedings of the 6th International Conference of the International Association for Tibetan Studies, Fagernes August 21 st- 28th, 1992. [im Druck].
29 Dravya, dem im Sarngha die Aufgabe zugeteilt war, den Mönchen die Unterkunft zuzuweisen, tat dies mittels seiner hell leuchtenden Hand. Vgl. dazu JAMPA LOSANG PANGLUNG: Die Erzählungsstoffe des Mülasarvästiväda-Vinaya analysiert auf Grund der tibetischen Übersetzung. Tokyo 1981. (Studia Philologica Buddhica, Monograph Series 3.), S. 130-132, s. v. Darva Mallaputra. G. P. MALALASEKERA: Dictionnary ofPali Proper Names. London 1890-1911 (PTS), s. v. Dabba-Mallaputta Thera. Zu
der Namensform Dravya vgl. CLAUS VOGEL: The Teachings of the Six Heretics
according to the Pravrajyävastu of the Tibetan Mülasarvästiväda Vinaya, Edited and Rendered into English by C. V. Wiesbaden 1970. (AKM 39.4.), S. 6, Anm. 33.
30 Tib.: P 183 a5-I85 b4; Chin.: T. 526 c8-527 bl4.
Bemericungen zum Käranaprajnaptisästra 303
verschiedenen Ströme, die in den Ozean fließen, und über die Lebewesen,
die in ihm leben, erörtert.
Im dreizehnten KapiteP', zu dem in der chin. Übersetzung das Uddäna
fehlt, wird dargelegt, wie man magische Fähigkeiten erlangt, wie man aus
vielen zu einem, aus einem zu vielen werden kann, durch Wände, Felsen
und in der Erde, über Wasser und in der Luft gehen kann, Sonne und
Mond berühren und bis zur Brahmawelt gelangen kann.
Auch zum vierzehnten KapiteP^ fehlt im Chin. das Uddäna. In diesem
Kapitel werden die Ursachen für verschiedene Naturerscheinungen behan¬
delt, z.B. Regen, acht Gründe für das Ausbleiben desselben, Hitze,
Donner, Blitz, Hagel, für die Farbe blau, rot, weiß und für unterschiedh¬
che Geschmacksrichtungen, sauer, scharf, bitter, sowie für Weichheit und
Härte. Hiermit endet das chin. Käranapr. Die tib. Übersetzung hat noch
weitere fünf Kapitel.
Im fünfzehnten Kapitep3 werden die vier Möghchkeiten von Entste¬
hung, die fünf Existenzformen und ihre Beziehung untereinander sowie
die Ursache für die Benennung der Höllenwesen, der Preta, Menschen,
Götter, Himmel, Mutter, Vater usw. behandelt. Wie oben schon erwähnt,
stimmen die Behandlung der vier Möglichkeiten der Entstehung - die
Entstehung aus einem Ei, aus einem Embryo, aus Schweiß und die Ent¬
stehung nach eigenem Belieben - sowie die der fünf Existenzformen
genau nüt Sang IV.29 und V.5 überein. Zu den verschiedenen Arten der
Entstehung heißt es z.B.^^; "Was ist die Entstehung aus einem Ei {andajä
yoni)? Wenn Wesen zur Welt kommen, indem sie aus einem Ei (kriechen).
Sie sind zuerst in einer Eierschale, von einer Eierschale umgeben. Wenn
sie die Eierschale zerbrechen und hinauskommen, sind sie zur Welt ge¬
kommen. Welche [Wesen] sind das? Gänse, Fasane, Papageien, Mynas,
Goldamseln, Jivamjlvaka-Vögel und andere Vögel, sowie einige Nägas,
einige Suparnas und einige Menschen. ... Was ist Entstehung aus einem
Embryo (jaräyujä yoni)! Wenn Wesen zur Welt kommen, indem sie aus
einem Mutterleib herauskommen. Sie sind zuerst im Mutterleib, vom
Mutterleib umgeben. Wenn sie den Mutterleib zerbrechen und hinaus¬
kommen, dann sind sie zur Welt gekommen. Welche [Wesen] sind das?
Elefanten, Pferde, Kamele, Rinder, Esel, Schafe, Wasserbüffel, Rehe,
Schweine und andere [Tiere], sowie einige Nägas, einige Suparnas, einige
Pretas und einige Menschen. ... Was ist die Entstehung aus Schweiß
31 Tib.: P 185 b4-189 a7; Chin.: T. 527 b20-528 c3.
32 Tib.: P 189 a7-191 b4; Chin.: T. 528 c4-529 c2.
33 Tib.:/'191 b4-198a4.
34 Tib.: P 191 b6-193 a2.
(samsvedajä yoni)l Es gibt Wesen, die entstehen in Feuchtigkeit und
Wärme, in Fett und Schweiß oder in Anhäufungen, entweder aus Mist¬
haufen, aus Wasserwegen, aus Toiletten oder verwestem Fleisch, ...
Welche [Wesen] sind das? Grillen, Motten, Mücken, Stechfliegen, Insek¬
ten, die im Hanf leben, usw. sowie emige Nägas, einige Suparnas, einige
Menschen. ... Was ist die Entstehung nach eigenem Belieben (aupa-
pädukäyoni)! Es gibt Wesen, deren Glieder und Untergheder vollständig
sind, denen kein Organ fehlt, sie stützen sich auf nichts und entstehen von
selbst. Welche [Wesen] sind das? Das sind alle Götter, alle Höllenwesen,
alle Zwischenwesen, einige Nägas, einige Suparnas, einige Menschen
..." Zum Zusammenwirken der Formen der Entstehung und der Existenz¬
formen wird gelehrt, daß die Höllenwesen nach eigenem Belieben entste¬
hen, die Tiere alle vier Möglichkeiten der Entstehung haben, die Pretas
überwiegend nur die Entstehung nach eigenem Belieben kennen, ebenso
die Götter. Die Menschen haben heute nur noch die Entstehung aus einem
Embryo. Es werden aber Beispiele für andere Arten der Entstehung ange¬
führt, so für die Entstehung aus einem Ei die Geburt von Saila und
Upasaila, die Geschichte von den 32 Eiem der Mutter des Mrgära und den
500 Söhnen des Paiicäla (vgl. Abhidh-k(VP) III 28). Zur Entstehung aus
Schweiß werden Mändhätr, Cäm, Upacäm und Cärumat sowie Kapota-
mahnl und Ämrapäli als Beispiele angeführt. Die Beschreibung der Gebur¬
ten der erstgenannten vier Könige, die aus Geschwülsten am Kopf oder an
den Beinen der Väter hervorkamen, hat Parallelen im elften Kapitel der
Lokaprajnapti sowie in Sanghabh 1 15-17. Als Beispiel für die Entste¬
hung nach eigenem Belieben werden die Menschen am Beginn einer
kosmischen Periode genannt Es folgen dann die Namenserklämngen. Der
Name "Höllen" {naraka) wird folgendermaßen erklärt^^: "Weil sie nicht
erfreuhch und ohne Glück und Frohsinn sind, werden sie Höllen ge¬
nannt". Die Namenserklämngen sind teilweise etymologisierend, z.B.
wird der Name der Pretas folgendermaßen erklärt^*: "Wie heute Yama der
König der Pretas ist, so hieß der König der Pretas damals {Pitr) 'Vater'
und man ging ins Land des Vaters; als man sagte 'Er kommt aus dem Land
der Väter', kam es zur Bezeichnung Preta" oder^^ "Wamm sagt man Deva
'Gott'? Wegen ihres Strahlens {div) werden sie Gott {deva) genannt."
Im sechzehnten KapiteP* werden noch weitere Bezeichnungen erklärt,
die für Tiere {tiryagyoni), Schlange, Elefant, Pferd, Kamel, Sder, Vieh
35 p\96\A.
36 /'l%b5-6.
37 /'l%b8.
38 Tib.:PI98a4-200b8.
Bemerkungen zum Käranaprajnaptisästra 305
und Büffel. Dann werden die Ursachen für unterschiedliches Fell, für die
Wiedergeburt als Fisch, als Vogel, in einer Gegend mit guten oder
schlechten Emährungsmöglichkeiten usw. erörtert.
Im siebzehnten KapiteP' werden die Gestalten, Merkmale und Zeichen
der Lebewesen dargelegt, die unmittelbar, nachdem sie in der Hölle, unter
den Schlangen, Katzen, Hunden, Elefanten, Pferden usw. gestorben wa¬
ren, hier wiedergeboren werden.
Im achtzehnten KapiteH^ werden dieselben Fragen für Wesen gestellt,
die in der vergangenen Existenz Schweine, Affen, Bären, Schakale, Wölfe
usw. waren.
Im neunzehnten KapiteHi, dem letzten der tib. Version des Käraitapr,
geht es noch um verschiedene Baumarten, z.B. den Jambu-Baum, der der
beste Baum in Jambudvipa ist, den Salmah-Baum, den Pärijätaka-Baum
der Trayastrirnsa-Götter usw. Außerdem werden die Gründe für die
verschiedenen Formen von Blättern, Blüten und Früchten dieser Bäume
und für den unterschiedlichen Wuchs von Bäumen genannt. Zuletzt wird
erörtert, warum es in allen Bäumen Geister (Bhüta) gibt und die Geister
diese Bäume nicht verlassen.
Zum Stil des Käranapr kann man folgendes beobachten: Die ersten bei¬
den Kapitel sind die längsten. Sie umfassen 42 von insgesamt 96 1/2 Fo¬
lien des Textes. Sie enthalten die ausführiichsten Sütrazitate sowie Zitate
kanonischer Verse. Die Erklärungen durch Sütrazitate werden meistens
folgendermaßen eingeleitet: "Wenn man fragt: 'Warum ...?' so heißt es
(smras pa) ..." oder aber: "Vom Erhabenen wurde gesagt". Im dritten
Kapitel, in dem das Thema des zweiten Kapitels, d.h. die sieben Juwelen
eines Cakravartin, noch einmal aufgegriffen wird, werden alle Erklärun¬
gen durch kurze Verszitate gegeben. Ab dem vierten Kapitel werden in
katechetischem Stil die einzelnen Punkte des Uddäna der Reihe nach kurz
und bündig erklärt. Die Zitate stehen nur noch in den Erklärungen zu den
einzelnen Begriffen und verdeutlichen die Kanonizität des zuvor Gesagten.
Die Länge der einzelnen Erklärungen ist selten länger als eine Seite, oft
sehr viel kürzer. Letzteres trifft vor allem auf die Beschreibungen von
Naturerscheinungen, Pflanzen, Tieren usw. zu. Abweichend davon haben
wir in Kapitel sieben, wo die Ursachen für Leidenschaft, Haß und Ver¬
blendung behandelt werden, ein längeres Sütrazitat am Anfang. Das
fünfzehnte Kapitel, in dem die vier Möghchkeiten der Entstehung behan-
39 Tib.: P 200 b8-203 b2.
40 Tib.:/'203 b2-206a4.
41 Tib.:/'206a6-208bl.
delt werden, beginnt mit einer Mätrkä^^: "Was das Nidäna angeht: er weil¬
te in Srävasd. Es gibt vier [Möglichkeiten] von Entstehung: ..." Danach
folgt, wie schon oben erwähnt, das Zitat aus Sang.
Mit diesem kurzen Überbhck über das Abhidharma-Werk Käranapr
möchte ich einen Eindruck von dem Werk selbst geben sowie zeigen, wel¬
che Vielfalt von Fragen in diesem Werk aufgegriffen, systemadsiert und
der buddhistischen Lehre entsprechend erklärt werden.
42 P189b5.
Zur Problematik der Stellung des Narthang-Druckes in
der Überlieferung des tibetischen Kanjur
Von HELMUT EIMER, Bonn
Die Blockdruckausgabe des tibetischen Kanjur, deren Druckplatten bis
in unser Jahrhundert im Kloster Narthang in Gtsari benutzt wurden, ist die
ältere der beiden Druckausgaben aus dem zentralen Tibet; die jüngere ist
die im Jahre 1934 in Lhasa fertiggestellte Ausgabe. Der Blockdruck aus
Narthang hat allgemein große Verbreitung gefunden: unter den 87 von
GÜNTER Grönbold in der Bibliographie Der buddhistische Kanon^
verzeichneten Exemplaren des Kanjur kommen immerhin 23 aus Nar¬
thang. So konnte diese Quelle von Anfang an bei der wissenschafdichen
Erschließung tibedscher kanonischer Texte recht häufig herangezogen
werden, ohne daß bisher ihre Stellung in der Tradition genau bestimmt
worden ist.
Für die folgenden Überlegungen ist eine kurze Übersicht über die
Überlieferung des Kanjur, so wie sie heute gesehen wird,^ erforderlich:
die eigendiche Kanjurtradition beginnt mit den ersten Abschriften von dem
kurz nach 1310 im Bka'gdams pa-Kloster Narthang entstandenen Arche¬
typus, einer Sammlung von mehr als 750 einzelnen Texten unterschied¬
lichsten Umfanges. In den Jahren 1347 bis 1351 erfolgte im Kloster Tshal
pa unweit von Lhasa eine tiefgreifende Redaktion und Umordnung der
Texte des Kanjur, die eine Trennung der Tradition in zwei Hauptgruppen
bewirkte: die redigierte Überlieferungsgruppe, der alle bekannten osttibe¬
tisehen und Pekinger Blockdruckausgaben zuzuordnen sind, die man also
als "Tshal pa-" oder "Ostgruppe" bezeichnen kann, und daneben eine nur
wenig überarbeitete Gruppe, die sich heute vomehmlich in Handschriften
aus Gtsan, der westlichen Zentralprovinz Tibets, fassen läßt und die des¬
halb "Gtsan-" oder "Westgruppe" genannt werden darf. Diese Zuordnung
1 Wiesbaden 1984, S. 63-67.
2 Vgl. Verf.: Zum Stand der Kanjurforschung. In: Ein Jahrzehnt Studien zur Überlie¬
ferung des tibetischen Kanjur. Wien 1992. (Wiener Studien zur Tibetologie und Buddhis¬
muskunde. 28.), S. XIII-XXI {Skizze der Überlieferungsgeschichte des tibetischen Kanjur) und die dort ziderte Literatur.
Cornelia Wunsch (Hrsg.): XXV. Deutscher Orientalistentag, Vorträge, München 8.-13.4.1991
(ZDMG-Suppl. 10). - © 1994 Franz Steiner Veriag Stuttgart