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LICHT IN DIE BÜNDNER SPRACHWIRREN

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ICHT IN DIE

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ÜNDNER

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PRACHWIRREN

Buchbesprechung von Henner Kleinewefers, 2012

Renata Coray, Von der Mumma Romontscha zum Retortenbaby Rumantsch Grischun. Roma- nische Sprachmythen, 645 S., Institut für Kulturforschung Graubünden, Chur 2008

Der sorgfältige Leser der deutschschweizerischen Qualitätspresse weiss seit Jahrzehnten, dass Bünderromanisch eine bedrohte Kleinsprache ist. Es ist inzwi- schen für weniger als 35.000 Einwohner der Schweiz (bzw. weniger als 27.000 in Graubünden) diejenige Sprache, die sie am besten beherrschen.

Romanischsprachige in der Schweiz und in Graubünden

Schweiz Graubünden Jahr

absolut % absolut % 1803 36.600 2.2 36.600 50 1850 42.439 1.8 42.439 47.2 1900 38.651 1.2 36.472 34.9 1910 40 234 1.1 37.550 32.1 1920 42.940 1.1 39.127 32.7 1930 44.158 1.1 39.028 30.9 1941 46.456 1.1 40.187 31.3 1950 48.862 1.0 40.109 29.3 1960 49.823 0.9 38.414 26.1 1970 50.339 0.8 37.878 23.4 1980 51.128 0.8 36.017 21.9 1990 39.632 0.6 29.679 17.1 2000 35.095 0.5 27.038 14.5

Anmerkungen: % = Anteil an der Wohnbevölkerung in Prozent Ab 1990: Hauptsprache bzw. am besten beherrschte Sprache Quelle: Coray, S. 84 und S. 86.

Was der interessierte Leser im allgemeinen nicht oder nicht mit der für das Ver- ständnis erforderlichen Genauigkeit weiss, ist, dass „Bündnerromanisch“ in Wahrheit nicht eine Sprache ist, sondern ein Ensemble von fünf Dialektgruppen mit je einer eigenen Schriftsprache (Idiomen) bezeichnet.1 Dabei weisen diese Dialektgruppen sowohl intern als auch untereinander erhebliche Unterschiede

1 Dazu kommt noch das Jauer im Münstertal als sechster eigenständiger Dialekt, der jedoch nicht geschrieben wird. Die Münstertaler verwendeten traditionell und nach einem Zwischen- spiel mit Romantsch Grischun (2007-2011) auch neuerdings wieder das Vallader als Schrift- und Schulsprache.

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auf. Das Verhältnis zwischen (Orts)Dialekt und Idiom (Schriftsprache) ent- spricht damit grundsätzlich dem Verhältnis von Mundart und Schriftdeutsch in der Deutschschweiz.2 Das Verhältnis zwischen den Idiomen ist hingegen dasje- nige zwischen einander nahe stehenden (Schrift)Sprachen, wobei die sprachliche im allgemeinen, wenn auch nicht immer mit der geographischen Nähe korreliert.

Ein wesentliches Problem dabei ist, dass die beiden grössten bündnerromani- schen Sprachen (Sursilvan und Vallader) zugleich auch diejenigen mit der gröss- ten geographischen und sprachlichen Distanz sind.3

Die bündnerromanischen (Schrift)Idiome von West nach Ost, 2010 Name Verbreitungsgebiet innerhalb des

traditionell romanischsprachigen Gebiets

Anteil in der Region

Anteil an allen Bünd- nerromanen Sursilvan Vorderrheintal, Lugnez, Imboden 43% 60%

Sutsilvan Domleschg, Schams, Heinzenberg 8% 2%

Surmiran Oberhalbstein, Albulatal 30% 8%

Puter Oberengadin, Bergün, Filisur 13% 9%

Vallader Unterengadin, Münstertal 63% 21%

alle Graubünden 14.5% 100%

alle Schweiz 0.5%

Statistische Definition: am besten beherrschte Sprache

Quelle: J.-J. Furer, Die aktuelle Lage des Romanischen, Bundesamt für Statistik, Neuchâtel 2005, S. 37-40.

Anmerkung: Das traditionell romanischsprachige Gebiet ist die Summe derjenigen Gemein- den, die 1860 noch eine romanischsprachige Mehrheit aufwiesen. Auch innerhalb der fünf Regionen gibt es zum Teil markante Unterschiede der Anteile der Romanischsprachigen.

Hierüber kann man sich im Detail bei Furer, S. 140-145 informieren.

Nun weiss der sich seriös informierende nichtromanische Zeitgenosse auch seit dreissig Jahren, dass es Bestrebungen zur Bildung und Durchsetzung einer ein- heitlichen bündnerromanischen Schriftsprache „Rumantsch Grischun“ gibt, wo- durch die sprachliche Zersplitterung der Bündnerromanen aufgehoben und die Überlebenschancen für „das“ Romanische wesentlich verbessert werden sollen.

Was aber vermutlich nur wenige Aussenstehende wirklich begreifen, ist, warum

2 Man kann allerdings davon ausgehen, dass die Distanz zwischen Ortsdialekt und Schrift- sprache in den bündnerromanischen Sprachen im allgemeinen weniger gross ist als zwischen den schweizerdeutschen Mundarten und dem Schriftdeutschen. Jedoch habe ich hierzu bei Coray keine Ausführungen gefunden, obwohl diese Frage im Zusammenhang mit der Dis- kussion um Rumantsch Grischun eine gewisse Bedeutung hat.

3 Wie gross die Distanzen zwischen den einzelnen bündnerromanischen Sprachen effektiv sind, sagt Coray ebenfalls nicht, obwohl dies im Zusammenhang mit der Diskussion um Ru- mantsch Grischun von sehr grosser Bedeutung ist. Man erhält normalerweise die zu wenig präzise Auskunft, dass zwischen den geographisch und damit auch sprachlich weiter entfern- ten Idiomen eine spontane Verständigung mit hinreichender Präzision nicht gegeben sei.

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es unter den Romanen seit ebenso langer Zeit einen heftigen und jüngst (2011) wieder einmal eskalierenden Streit darüber gibt, ob mit Rumantsch Grischun dieses Ziel tatsächlich erreicht werden kann oder ob es sich nicht vielmehr gera- dezu kontraproduktiv auswirken wird.

In dem Buch von Coray geht es darum, die Positionen in diesem Streit sowie ihre normativen und ideologischen Hintergründe herauszuarbeiten und zu erklä- ren. Das zentrale Instrument hierfür ist eine Diskursanalyse der wichtigsten ein- schlägigen romanischen Publikationen seit der Entwicklung eines sprachlichen und „nationalen“ Zusammengehörigkeitsgefühls der Bündnerromanen in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts bis in die jüngste Vergangenheit. Dieser weite historische Rückgriff, das Streben nach umfassender Repräsentativität der ausgewerteten Quellen und die zahllosen ausführlichen Textbeispiele erklären den gewaltigen Umfang des Werks.

Im ersten Teil der Arbeit (S. 3-74) werden die Ziele, das Vorgehen und das me- thodische Rüstzeug beschrieben. Dabei ist das Ziel in erster Linie ein sprachwis- senschaftliches. Es geht darum zu zeigen, wie in den vergangenen gut hundert Jahren insbesondere von den Romanen selbst über das Bündnerromanische, sei- ne Entwicklung und sein Verhältnis zum Deutschen sowie über die Frage einer einheitlichen romanischen Schriftsprache geschrieben wurde. Dabei gilt das Hauptinteresse der Autorin den verwendeten Metaphern (Vergleiche, Bilder) und Topoi (typische Argumentationsfiguren). Ein erstes Ergebnis wird dann sein, dass die im Diskurs über das Bündnerromanische vorkommenden Meta- phern und Topoi ungemein zahlreich sind. Ein zweites Ergebnis ist, dass man insbesondere die Metaphern in ziemlich klar voneinander abgrenzbare Gruppen einteilen kann. Ein drittes Ergebnis ist, dass die verschiedenen sachlichen, poli- tischen und emotionalen Positionen in der Debatte sich typischerweise in den verwendeten Metaphern unterscheiden und dass man umgekehrt von der Sprech- und Schreibweise eines Diskussionsteilnehmers mit einiger Wahrscheinlichkeit auf seine Position schliessen kann. Mit Hilfe der Ergebnisse dieser sprachlichen Untersuchungen lassen sich dann die in der Debatte vertretenen Positionen klas- sifizieren und ihre Sachargumente mit ihren historischen, normativen und ideo- logischen Überzeugungen verknüpfen. Diese Überzeugungen bezeichnet die Autorin als Sprachmythen. Die politische Frage, die die meisten nichtromani- schen Leser vermutlich am meisten interessiert, wer denn nun insbesondere in dem epischen Streit um Rumantsch Grischun Recht habe, lässt sie offen, wenn auch ihre Skepsis gegenüber diesem Experiment deutlich zu spüren ist.

Der Leser tut übrigens - im Gegensatz zu der Empfehlung der Autorin an die

„primär an den Resultaten interessierte Leserschaft“ (S. 1) - gut daran, diesen methodischen Teil zu lesen. Er wird darin nicht nur auf vergleichsweise eingän- gige Art in einige wichtige sprach- und sozialwissenschaftliche Theorien und

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Analysemethoden eingeführt, sondern erkennt auch, dass das Ziel dieses Buchs eben in erster Linie ein analytisches ist, auch wenn die politischen Konsequen- zen am Ende nahe liegen, da man ja nicht eine kontroverse Diskussion aufarbei- ten kann, ohne dass dies wiederum politisch gedeutet werden könnte. Last but not least, wird in diesem ersten Teil auch präzise beschrieben, welche primären Quellen die Autorin mit Hilfe der zuvor beschriebenen Methode ausgewertet hat und wie sie dabei vorgegangen ist. Diese Quellen reichen im wesentlichen von 1886 bis 2004 und umfassen neben zahlreichen weiteren Quellen insbesondere den „Elitediskurs“ in den zwei Zeitschriften der rätoromanischen Spracherhal- tungsbewegung (Annalas, Igl Ischi) ab 1886 bzw. 1897 und den erweiterten Dis- kurs in der bündnerromanischen Presse ab 1982.

Der zweite Teil des Buchs (S. 75-222) gibt einen Überblick über den soziohisto- rischen Kontext der nachfolgenden Diskursanalyse und konzentriert sich dabei auf drei Punkte: den starken relativen und zuletzt auch absoluten Rückgang des Bündnerromanischen seit der Mitte des 19. Jahrhunderts und die dagegen ge- richtete Spracherhaltungsbewegung im allgemeinen und die diversen Standardi- sierungsbemühungen im besonderen, wozu auch das Experiment Rumantsch Grischun zu rechnen ist. Für den nichtromanischen und mit den bündnerromani- schen Sprachen und ihren Sprechergemeinschaften sowie ihrer Entwicklung nicht vertrauten Leser wäre es sehr nützlich gewesen, in diesem Kapitel etwas weiter auszuholen.4 Fundamental wären, wie bereits erwähnt, Ausführungen über den Abstand der (Orts)Dialekte zu ihren Schriftsprachen und insbesondere über den Abstand der Schriftidiome zueinander. Ohne diese Informationen wird der Unkundige die Standardisierungsprojekte nicht wirklich verstehen geschweige denn beurteilen können. Erwünscht wären ferner detailliertere zahlenmässige Informationen über die Entwicklung der verschiedenen Idiome gewesen, die sich der Leser nun selbst z.B. bei Furer verschaffen muss. Diese statistischen Angaben hätten mit einem systematischen Kommentar über die Ur- sachen für den Rückgang des Bündnerromanischen im allgemeinen und der ein- zelnen Idiome im besonderen verknüpft werden sollen. Es trifft zwar zu, dass wichtige Gründe zum Teil verstreut, zum Teil vor allem am Schluss des Buchs genannt werden. Aber erstens schien mir die Liste keineswegs vollständig, und zweitens gewinnen diese Argumente ihr wirkliches Gewicht erst in der Zusam- menschau und in der Projektion in die Zukunft.

4 Wegen ihrer leichten Greifbarkeit und Aktualität können als Mindestergänzung zu dem Buch von Coray empfohlen werden: R. Liver, Rätoromanisch. Eine Einführung in das Bünd- nerromanische, 2. Aufl., 195 S., Narr Studienbücher, Tübingen 2010; J.-J. Furer, Die aktuelle Lage des Romanischen, 145 S., Bundesamt für Statistik, Neuchâtel 2005; M. Grünert et al., Das Funktionieren der Dreisprachigkeit im Kanton Graubünden, 460 S., Francke Verlag, Tü- bingen und Basel 2008.

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In einer äusserst knappen Zusammenfassung kann man es vielleicht wie folgt sagen. Nach einer recht komplizierten Germanisierung des ursprünglich bedeu- tend grösseren romanischen Sprachraums hatten sich die Sprachgrenzen im 15.

und 16. Jahrhundert verfestigt und blieben während gut zweihundert Jahren na- hezu unverändert. Charakteristisch für die Situation war, dass das Romanische in erster Linie die Umgangssprache der nicht-mobilen Bevölkerung (insbesonde- re der Bauern) in quasi-autarken und stationären Dörfern war, während die Elite und die mobile Bevölkerung mindestens zweisprachig war, wobei das Romani- sche an Prestige dem Deutschen bei weitem unterlegen war. Im Verlauf des 19.

Jahrhunderts traten zwei grundlegende Veränderungen auf, die bis heute und in die Zukunft fortwirken.

Erstens ergab sich infolge der wissenschaftlichen, technischen und wirtschaftli- chen Revolutionen eine bis heute und wohl auch weiterhin immerzu gesteigerte Interdependenz, Mobilität und Veränderungsdynamik. Dies bedeutet einerseits einen Zwang zur Mehrsprachigkeit, der umso ausgeprägter ist, je kleiner eine Sprachgemeinschaft ist. Anderseits wird hierdurch und durch die Mobilität ein einseitiger Sprachwechsel gefördert, indem Einheimische, insbesondere jedoch Abwandernde mit der Zeit ihre Sprache aufgeben, während Zuwandernde wenig Anreize haben, die lokale Kleinsprache auch nur zu lernen geschweige denn zu ihr zu wechseln. So gesehen sind die Prognosen für das Bündnerromanische düster. Für Mittelbünden (Sutsilvan und Surmiran) haben sie sich bereits weitge- hend erfüllt. Im Oberengadin (Puter) werden die lebensfähigen romanischen Ni- schen immer weiter zusammengedrückt. Und eher früher als später wird dieses Schicksal wohl auch dem Sursilvan und dem Ladin beschieden sein.

Zweitens jedoch gerieten auch die Bündnerromanen in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, leicht verspätet, in den Sog der Nationenbildung, die hier wie überall vor allem an der Sprache festgemacht und durch eine nun entstehende geisteswissenschaftliche Elite vorangetrieben wurde. Dabei ergaben sich zwei grundlegende Hindernisse: Zunächst gab es unter den quasi-autarken Dörfern mit unterschiedlichen (Orts)Dialekten und - über weitere Distanz - Idiomen bzw. Schriftsprachen kein übergreifendes sprachliches und „nationales“ Ge- meinschaftsbewusstsein. Dieses musste vielmehr erst geschaffen werden, was bis heute nicht wirklich gelungen ist. Ausserdem standen die bündnerromani- schen Sprachen in dem Moment, in dem sie sich ihrer selbst erst richtig bewusst wurden, bereits in einem immer stärker werdenden Abwehrkampf gegen die durch die neue Zeit induzierten neuen Germanisierungswellen.

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Vor diesem Hintergrund sind die schon im 19. Jahrhundert auftauchenden Ideen einer Vereinheitlichung der bündnerromanischen Sprachen zu verstehen.5 Sie sollten der Bildung einer romanischen „Nation“ dienen und damit die Sprachge- meinschaft grösser, selbstbewusster und stabiler machen. Beides ist bis heute nicht gelungen, und es hätte auch unter günstigeren Bedingungen kaum gelingen können. Wenn man fünf sehr kleine Sprachgemeinschaften zusammenfügt, ist das Ergebnis immer noch eine Kleinsprache, deren grundlegende Existenzpro- bleme in der heutigen und künftigen Zeit bestenfalls temporär gemildert, aber nicht dauerhaft gelöst sind. So gesehen, haben die im weiteren zu referierenden Bündner Sprachwirren für den Aussenstehenden auch etwas irreale Züge.

Nach diesem erläuternden und manchen Ergebnissen vorgreifenden Exkurs sol- len nun die beiden Hauptteile des Buchs von Coray vorgestellt werden. „In die- sem dritten Teil (S. 223-381) werden die wichtigsten Metaphern, Vergleiche und Argumente untersucht, die den Diskurs seit Ende des 19. Jahrhunderts dominie- ren. Die ab den 1980er Jahren aufkommende Auseinandersetzung um die neue romanische Schriftsprache Rumantsch Grischun wird in einem separaten Teil IV (S. 382-553) behandelt, da sich anhand dieser Debatten quasi exemplarisch die Fortdauer und der Wandel der beliebtesten Topoi im romanischen Metadiskurs aufzeigen lassen“ (S. 223).

Der dritte Teil umfasst die Jahre 1886 bis 1981. Die Wahl des Zeitraums hängt mit der Gründung der Zeitschrift „Annalas da la Societad Retorumantscha“

(1886) und der erstmaligen Publikation der „Richtlinien für die Gestaltung einer gesamtbündnerischen Schriftsprache Rumantsch Grischun“ durch Heinrich Schmid (1982) zusammen. Diese knapp hundert Jahre lassen sich in drei Unter- abschnitte unterteilen. In einem ersten Abschnitt (bis ca. 1930) geht es um die sprachliche und nationale Bewusstwerdung der Rumantschia, verbunden mit dem Abwehrkampf gegen die Germanisierung. Im zweiten Abschnitt (ab ca.

1930, teilweise bis heute) verlagert sich der Schwerpunkt des Interesses auf die staatspolitische und rechtliche Ebene, auf der im Bund mit den Sprachenartikeln von 1938 (Anerkennung als Nationalsprache6) und 1996 (Anerkennung als Teil- amtssprache) eine formelle und auch finanzielle Absicherung „des“ Bünd- nerromanischen erreicht wird.7 Der dritte Abschnitt (ab ca. 1950) überlagert sich

5 Es handelt sich dabei um das Projekt einer einheitlichen rätoromanischen Schriftsprache von Placidus a Spescha (1752-1833) und das „Romontsch fusionau“ von Gion Antoni Bühler (1825-1897). Dazu kamen im 20. Jahrhundert Leza Uffers (1912-1982) „Interrumantsch“ und Heinrich Schmids (1921-1999) „Rumantsch Grischun“.

6 Der Zusammenhang mit der „geistigen Landesverteidigung“ im allgemeinen und der Zu- rückweisung irredentistischer Bestrebungen Italiens im besonderen ist offenkundig.

7 Im Kanton Graubünden ist die rechtliche Verankerung „des“ Romanischen erstaunlicherwei- se keineswegs besser als im Bund. Der vage Sprachenartikel in den kantonalen Verfassungen

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teilweise mit dem zweiten. Er ist charakterisiert durch die starke Beschleuni- gung der wirtschaftlichen und technischen Entwicklung nach dem zweiten Weltkrieg und den Versuch, den dadurch wieder steigenden Druck auf die bündnerromanischen Idiome durch eine Modernisierung des Diskurses und der Praxis aufzufangen. Dieser Versuch mündet dann schliesslich im „Rumantsch Grischun“.

Es ist in einer Besprechung nicht möglich und auch nicht nötig, die sehr um- fangreichen und methodisch überzeugenden Untersuchungen der Autorin nach- zuzeichnen. Man kann sich zum einen damit begnügen festzustellen, dass die Debatten um das Bündnerromanische noch niemals in solcher Vollständigkeit und - durch die zahllosen Textbeispiele - Nachvollziehbarkeit aufgearbeitet worden sind. Was zum andern die konkreten Ergebnisse angeht, hält man sich am besten an die eigene Zusammenfassung der Autorin (S. 380f.).

Fundamental für den betrachteten Zeitraum ist das Ziel der Spracherhaltung ge- genüber dem Germanisierungsdruck. Dabei stehen die Idiome nahezu unange- fochten im Mittelpunkt; zwei frühe Versuche einer romanischen Einheitssprache (Spescha, Bühler) scheiterten kläglich. In der Auseinandersetzung mit dem Deutschen wird dieses nicht direkt angegriffen, was ja angesichts der tatsächli- chen Verhältnisse auch aussichtslos wäre. Vielmehr wird das Deutsche als

„Brotsprache“ akzeptiert, der aber das jeweilige bündnerromanische Idiom als erhaltenswerte „Herzsprache“ gegenübergestellt wird. Der Kampf um die Er- haltung der „Herzsprache“ wird vor allem mit emotional-konservativen Argu- menten für diese Sprache geführt, aber auch mit Schmähungen gegen die „Lau- en“ oder gar „Verräter“ aus den eigenen Reihen, die aus schnöden utilitaristi- schen Gründen den Sprachwechsel zum Deutschen vollziehen oder sogar aus dem romanischen Sprachgebiet auswandern. Grundsätzlich steht aber die roma- nische Elite in dieser Phase des Sprachenkampfs ungeachtet gelegentlicher inter- ner Eifersüchteleien weitgehend zusammen. Zu dem fortdauernden emotional- konservativen Grunddiskurs kommen ab den 1960er Jahren konkrete politische Bemühungen um die Erhaltung und Förderung des Bündnerromanischen hinzu, deren rechtliche Grundlage der Verfassungsartikel von 1938 und deren materiel- le Grundlage der lange wirtschaftliche Aufschwung nach dem zweiten Welt- krieg ist. Diese Wünsche können im gesamtschweizerischen wie innerkantona- len politischen Diskurs nicht nur mit emotional-konservativen Argumenten ver- kauft, sondern müssen auch durch Nützlichkeitsargumente beliebt gemacht wer- den. Der „Traditionsdiskurs“ wird - je nach Adressaten - durch einen „Moder- nisierungsdiskurs“ und später gar durch einen „Globalisierungsdiskurs“ ange- reichert.

von 1880 bzw. 1892 wurde auf Verfassungsebene erst 2003 (wohl unter dem Eindruck der re- vidierten Bundesverfassung von 1999) und auf Gesetzesebene 2006 konkretisiert.

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Ein zentrales Element des Modernisierungsdiskurses ist die Entwicklung und Durchsetzung von Rumantsch Grischun, um die es im vierten Teil (S.382-553) geht. Rumantsch Grischun spaltet die romanische Bevölkerung und ihre Elite in einen insgesamt vermutlich klar mehrheitlichen „konservativen“ und einen ver- mutlich ebenso klar minderheitlichen „progressiven“ Teil, beide mit unter- schiedlichen Faktionen von Hardlinern und Gemässigten. Der springende Punkt ist, dass die zum Teil sehr heftigen Auseinandersetzungen nun innerhalb der Rumantschia stattfinden, was von den mehr oder weniger schlecht informierten Aussenstehenden im allgemeinen mit Unverständnis zur Kenntnis genommen wird.

Die Gegner kämpfen in der Anfangszeit im wesentlichen mit den alten emotio- nal-konservativen Argumenten für die Idiome und gegen das als künstlich erachtete Rumantsch Grischun („Retortenbaby“). Von aussen gesehen, scheinen sie sich damit gegen den Zeitgeist zu versündigen, der rationale Planung, Kon- struktion und Durchführung auch in der Sprachpolitik nicht nur für möglich, sondern auch für wünschenswert oder gar zwingend hält.8 Ein weiteres Handi- cap der „Konservativen“ ist, dass sie immer nur ablehnend reagieren können und damit notwendigerweise immer mindestens einen Schritt zu spät kommen. Das Gesetz des Handelns, der first mover advantage, liegt bei den „Progressiven“, und der Weg, der von ihnen, oft sehr geschickt und gegen Widerstand abgesi- chert, vorgespurt wird, führt je länger desto mehr zu Pfadabhängigkeiten, die es immer schwieriger machen, ihn zu verlassen oder auch nur an irgendeinem Punkt endgültig Halt zu machen. Erst in neuester Zeit erhalten die „Konservati- ven“ Sukkurs durch ökonomisch-utilitaristische Argumente, bei denen es nicht mehr darum geht, dass Rumantsch Grischun künstlich ist und möglicherweise nicht die Qualitäten der historischen Idiome hat bzw. jemals haben wird. Viel- mehr wird argumentiert, dass Rumantsch Grischun angesichts der durchgehen- den Zweisprachigkeit der Romanen schlicht überflüssig sei und darüber hinaus dem vorgeblichen Ziel der Spracherhaltung, welches sich nur auf die Idiome be- ziehen könne, im Wege stehe. Ob diese Argumente angesichts der bereits vor- handenen faits accomplis und der dadurch entstandenen Pfadabhängigkeiten noch etwas zu bewirken vermögen, ist jedoch zweifelhaft.

Die „Progressiven“ versuchen, die Rumantschia zu bewahren, indem sie für sie eine gemeinsame Sprache schaffen. Die Idee ist nicht neu, denn es gab bereits vorher mindestens drei Versuche, eine romanische Einheitssprache zu schaffen.

Die früheren Versuche scheiterten aber alle daran, dass es eine romanische Ein-

8 Die 1970er und 1980er Jahre waren in der Schweiz eine Zeit der Gesamtkonzeptionen und -planungen in fast allen Politikbereichen. Davon ist wenig jemals realisiert worden. Aber nach einer relativ kurzen Phase des Zweifels und der Ernüchterung ist der Glaube an deren Nütz- lichkeit auch heute wieder weit verbreitet.

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heit oder Nation nicht gab und dass die Lia Rumantscha als offizielles Dach- organisation der Romanen sie nicht unterstützte. Der Sinneswandel der Lia Ru- mantscha hängt zweifellos, wie dies in kleinen Gemeinschaften und ihren Organisationen nicht selten ist, auch von einzelnen Personen ab. Man darf aber nicht übersehen, dass er als mögliche Entwicklung schon immer in den Bestre- bungen zur Schaffung einer romanischen Nation enthalten war. Darüber hinaus dürfte er auch durch die rechtlichen und finanziellen Vorteile gefördert worden sein, die den Romanen durch die explizite Anerkennung in der Verfassung und die dadurch später ausgelösten Subventionen gewährt wurden. In der Verfassung steht nichts von den Idiomen, sondern „Rätoromanisch“, und die Subventionen wurden an „die“ Romanen ausgerichtet, die dann selbst für die Feinverteilung zu sorgen hatten. Nicht zuletzt wurden hierdurch Entscheidungsträger mit romani- schen Angelegenheiten beschäftigt, denen detaillierte Kenntnisse über die roma- nischen Interna, insbesondere über die komplexe Sprachsituation, fehlten und die daher die Rumantschia von aussen als Einheit betrachteten. In dieser Situa- tion konnten die Befürworter sich problemlos als progressiv, rational, modern und somit im Einklang mit dem Zeitgeist geben, ihren Gegnern die gerade um- gekehrten Eigenschaften zuschreiben und ihr Projekt Rumantsch Grischun als vernünftig und geradezu zwingend darstellen. Es kommt hinzu, dass sie äusserst geschickt den Hebel zunächst gewissermassen an der fernsten Stelle ansetzten, nämlich bei den offiziellen Publikationen des Bundes, etwas später dann bei denjenigen des Kantons Graubünden, dann als zunächst freiwillige, später obli- gatorische Sprache in den oberen Klassen der obligatorischen Schule und erst zum Schluss als eigentliche Alphabetisierungssprache in den ersten Klassen der obligatorischen Schule, was dann den jüngsten Aufschrei in der betroffenen Be- völkerung ausgelöst hat. Ob dieses Vorgehen von Anfang an geplant war oder sich von Schritt zu Schritt so ergeben hat, scheint eine offene Frage zu sein. Tat- sache ist aber, dass im Hinblick auf wichtige Etappen dieses Wegs Abstimmun- gen der Direktbetroffenen peinlichst vermieden wurden und dass in einigen all- gemeinen Abstimmungen, die gleichwohl erforderlich waren, die nichtromani- sche, insbesondere deutsche Mehrheit den Ausschlag gegeben hat.

Seit der Publikation des Buchs von Coray haben sich die Dinge weiterentwi- ckelt, insbesondere durch den Versuch, Rumantsch Grischun als erste Alphabe- tisierungssprache in den romanischen Primarschulen durchzusetzen. Der gegen- wärtige Stand der Auseinandersetzungen ist etwa der folgende:

Die Gegner von Rumantsch Grischun als Alphabetisierungssprache finden sich vor allem in der Surselva sowie im Ober- und Unterengadin. In der Sutselva und im Surmeir scheint die Opposition bedeutend geringer zu sein, einerseits weil das Rumantsch Grischun ihnen sprachlich näher steht als den Sursilvanern und Engadinern und anderseits weil sie in ihrem Bestand wesentlich stärker ge- fährdet sind und folglich die Vereinigung in Rumantsch Grischun nicht nur als

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möglich, sondern auch als nötig erachten. Aber ohne die Surselva und das En- gadin ist das Ziel von Rumantsch Grischun natürlich nicht erreichbar. Die Geg- ner halten Rumantsch Grischun für überflüssig, kostspielig und im Hinblick auf die Erhaltung der Idiome, die das eigentliche Ziel sei, für gefährlich oder sogar kontraproduktiv. Es sei überflüssig, weil die durchweg zweisprachigen Roma- nen für die überregionale Kommunikation ohnehin über Deutsch als Verkehrs- sprache verfügen. Es sei kostspielig, weil die Romanen sich bereits in einer Si- tuation der doppelten Diglossie (Idiom + Ortsdialekt, Schriftdeutsch + Schwei- zerdeutsch) befänden und das Erlernen einer weiteren als fremd und überflüssig empfundenen Sprache Ressourcen binde und von nützlicheren Tätigkeiten ab- halte. Dass durch den Ersatz der Idiome durch die Einheitssprache auch einige materielle Ressourcen (z.B. beim Druck von Schulbüchern) eingespart würden, falle dagegen wenig ins Gewicht. Es sei schliesslich kontraproduktiv, weil es, insbesondere als erste Alphabetisierungssprache, die Bindung an und die Be- herrschung der (Schrift)Idiome und der dahinter stehenden Ortsdialekte minde- re. Die Gefahr sei gross, dass am Ende weder das Idiom noch Rumantsch Gri- schun als Schriftsprache wirklich beherrscht werde, die Ortsdialekte von der Entwicklung abgeschnitten und verkümmern würden und damit der Sprach- wechsel zum Deutschen beschleunigt werde.

Die Befürworter bleiben dabei, dass für die Kommunikation und damit den Zu- sammenhalt unter den Romanen und die Erhaltung ihrer Gemeinschaft und Kul- tur eine gemeinsame Schriftsprache notwendig sei. Sie halten die Schwierigkei- ten des Erwerbs von Rumantsch Grischun für gering und sind der Auffassung, dass sie durch die eingesparten materiellen Kosten bei weitem überkompensiert würden. Und sie bestreiten, dass durch die Alphabetisierung in Rumantsch Gri- schun die Bindung an und die Beherrschung der Ortsdialekte und Idiome in Frage gestellt würden. Nicht zuletzt argumentieren sie mit der (von ihnen selbst herbeigeführten) Unumkehrbarkeit der Entwicklung. Im Bund wie im Kanton, aber auch in den Medien und sogar in der Literatur spiele Rumantsch Grischun inzwischen eine so grosse Rolle, dass auf dessen Beherrschung und die dafür er- forderliche Schulung nicht mehr verzichtet werden könne.9

Das Buch wird durch eine längere Zusammenfassung (Fazit, S. 554-583, Aus- blick, S. 584-585) abgeschlossen, die angesichts des Umfangs des Werk sehr willkommen ist.

9 Dass in allen diesen Bereichen auf Rumantsch Grischun zugunsten des von den Romanen ohnehin beherrschten Deutschen verzichtet werden könnte, kann man inzwischen auch mit dem Hinweis auf die Rechtslage bestreiten. So werden ursprüngliche Rechtsvorteile zum Bumerang.

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Was bleibt dem Nichtromanen und Nichtromanisten nach der Lektüre des Buchs und der empfohlenen Ergänzungen? Es sind im wesentlichen die folgenden Punkte:

 Zunächst einmal erhält der Leser einen gewissen Einblick in Geschichte und Gegenwart der bündnerromanischen Idiome. Wer gute Kenntnisse in Latein und Französisch hat, wird vielleicht auch ein Vergnügen bei dem (häufig ge- lingenden) Versuch finden, die romanischen Textbeispiele zu verstehen.

 Ferner erhält der Leser Einblick in die Diskursanalyse, die neuerdings ziem- lich häufig zur ideologiekritischen Untersuchung politischer Debatten ver- wendet wird und sich hierfür auch in der vorliegenden Studie bewährt.

 Schliesslich und vor allem wird der Leser ein umfassendes Verständnis der Bemühungen um die Erhaltung der bündnerromanischen Sprachen im allge- meinen und der Debatten um die Einführung von Rumantsch Grischun im besonderen mitnehmen. Dass von diesem besseren Verständnis die komple- xere Position der Gegner von Rumantsch Grischun mehr profitiert als die einfachere Position der Befürworter, liegt gewissermassen in der Natur der Sache.

Nur: Wie viele Nichtromanen und Nichtromanisten werden dieses Buch über- haupt entdecken und dann, durch den Umfang nicht abgeschreckt, auch lesen?

Wäre nicht eine handliche, nicht in erster Linie an der sprachwissenschaftlichen Analyse, sondern an den sprachpolitischen Ergebnissen orientierte Kurzfassung in grösserer Auflage bei einem einschlägig eingeführten und sichtbaren Verlag wünschenswert und geradezu notwendig? Mag es auch „nur“ noch um 0.5% der schweizerischen bzw. 14.5% der Bündnerbevölkerung gehen, so haben ihre An- liegen doch in den letzten Jahrzehnten Eingang in die Verfassungen des Bundes und des Kantons Graubünden gefunden und auf Gesetzes- und Verordnungsebe- ne sowie im finanziellen Bereich konkrete Konsequenzen gehabt. Da wäre es sicher angebracht, wenn die übrigen 99.5% der schweizerischen und 85.5% der Bündnerbevölkerung einen leichteren Zugang zu einer Debatte erhielten, deren Hintergründe den meisten von ihnen im einzelnen weder geläufig noch verständ- lich sein dürften, in der sie aber letztlich die (Mehrheits)Entscheidungen zu tref- fen haben.

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