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Wirtschaftsgeschichte und -theorie Für eine treffende Einschätzung der Zu- kunft bedarf es einem guten Verständnis der Vergangenheit. Erleichtert wird dies dadurch, dass Wirtschaftsgeschichte und -theorie enorme Fortschritte erzielt haben, unter anderem mit den Pionierarbeiten der Profes- soren Angus Maddison und Robert Barro.
Datenreihen zum Pro-Kopf-BIP in Kauf- kraftparitäten sind auf dem Internet abruf- bar; aus einigen aussagekräftigen Werten las- sen sich ein paar einfache Schlüsse ziehen:
1. Bei den meisten Ländern sind langfristige Trends sichtbar. Dies gilt v.a. für die USA, die sich nachhaltig von der Grossen De- pression und vom Zweiten Weltkrieg er- holt haben. In Deutschland und Japan setzte nach dem Zweiten Weltkrieg, der abgesehen vom Humankapital fast alles zerstört hatte, sehr schnell ein Aufschwung ein (vgl. Grafik 1).
2. Trendwenden sind auch auszumachen.
Klar zu erkennen sind Auswirkungen der Wirtschaftsreformen in China, Indien und Chile, ebenso das «verlorene Jahr- zehnt» Brasiliens ab 1980 und die ausge- prägte Verlangsamung in Japan seit 1990 (vgl. Grafik 2).
3. Veränderung der wirtschaftlichen Stellung im Laufe der Zeit. Grossbritannien lag bis in die 1930er-Jahre deutlich an der Spitze.
Die Schweiz hat sich nie von der Erdölkri- se erholt, deren Folgen durch einen star- ken Schweizer Franken, eine kontrollierte Einwanderung und eine beschränkte wirt- schaftliche Integration verstärkt wurden.
Der relative Wohlstand Norwegens hinge- gen hat seit der Unabhängigkeit im Jahr 1905 stetig zugenommen.
4. Die am wenigsten entwickelten Länder können spektakuläre Wachstumsraten er- reichen, bis sie zur Gruppe der am weites- ten fortgeschrittenen Länder aufschlies- sen.
Wer sich mit langfristigem Wachstum be- schäftigt, muss folgende Aspekte verstehen:
− Konvergenztrends;
− Gründe für Trendwenden;
− Beitrag des globalen technologischen Fortschritts auf das Wachstum.1
Der Konvergenzeffekt hat sich in mehreren
Studien als nicht sehr ausgeprägt erwiesen.
Entscheidend ist, ob ein Schwellenland ge- willt ist, sich zu entwickeln und die langfris- tig dazu geeignete Politik zu verfolgen. Bei- spiele dafür aus der Vergangenheit gibt es genug: Je ärmer ein Land, desto grösser ist etwa die Wahrscheinlichkeit, dass die Ent- scheidungsträger entschlossen sind, eine ech- te Wachstumspolitik zu erarbeiten, da für sie angesichts der Globalisierung und des Fort- schritts in den Nachbarländern häufig das Fortbestehen ihres Regimes auf dem Spiel steht. Da die Schweiz zu den reifsten Volks- wirtschaften gehört, ist der Konvergenztrend hier nicht ausgeprägt, weshalb er ausgeklam- mert wird.2
Interessanter sind hingegen Trendwenden, auch für die fortgeschrittensten Länder. Häu- fig sind sie die Folge einer grundlegenden Neuausrichtung der Wirtschaftspolitik. Es ist nicht nur aus wirtschaftspolitischer Sicht wichtig, die Gründe für solche Trendwenden zu verstehen, sondern auch um abzuschät- zen, wie robust bestimmte langfristige Sze- narien sind. Wenn ausschliesslich ökonomet- rische Modelle verwendet werden, sind die Unsicherheiten im Randbereich besonders gross. Es ist also schwierig bis unmöglich, vorherzusehen, ob es mit dem letzten Kon- junkturzyklus zu einem strukturellen Bruch kam oder nicht. Zuverlässige Hypothesen lassen sich nur im Rahmen einer individuel- len Fallanalyse aufstellen.
Faktoren des strukturellen Wachstums Zur Beschreibung des langfristigen Wirt- schaftswachstums werden hauptsächlich zwei Methoden verwendet:
1. Wachstumsbuchhaltung3: Sie geht von ei- ner Produktionsfunktion aus; basiert da- mit auf soliden theoretischen Grundla- gen; erfordert aber eine hervorragende Datenqualität, die häufig nicht gegeben ist.
2. Wachstumsregressionen: Hier können alle Arten von Daten genutzt werden; es be- steht aber kein gesicherter Kausalzusam- menhang zwischen Wirtschaftspolitik und strukturellem Wachstum. Zur Kom- pensierung dieses Mangels muss ein brei- tes Spektrum von Modellen einbezogen werden.4 Nur so ist gewährleistet, dass die
Langfristige Szenarien für das BIP der Schweiz
Marc Surchat Ressort Wachstum und Wettbewerbspolitik, Staatssekretariat für Wirtschaft SECO, Bern
Szenarien zum langfristigen Bruttoinlandprodukt (BIP) der Schweiz sind für verschiedenste staatliche Stellen von Interesse, zum Beispiel wenn sie die Nach- haltigkeit der Staatsfinanzen beurteilen, öffentliche Infra- strukturprojekte planen, das Umweltbudget festlegen oder die gesamtwirtschaftliche Finanz- stabilität analysieren wollen. Der vorliegende Artikel untersucht, wie zuverlässig diese Wirtschafts- szenarien sind, unter anderem diejenigen für die Schweiz.
1 Dieser Punkt wird hier nicht besprochen, da die Schweiz diesen Wachstumsaspekt kaum beeinflussen kann. Die- ser wird somit als exogener Faktor betrachtet, der ver- mutlich stark von der Entwicklung in den USA abhängt.
2 Der Konvergenztrend ist aber auch in der Schweiz nicht inexistent: 1996, nach unserem eigenen «verlorenen Jahrzehnt», lancierten Bundesrat und Parlament eine Wachstumspolitik, die sich als erfolgreich erwies. Umge- kehrt war 2010, nachdem die Schweiz die jüngste Krise bemerkenswert gut überstanden hatte, keine politische Bereitschaft für Wirtschaftsreformen mehr zu erkennen.
Das Seco erwartet, dass das strukturelle Wirtschafts- wachstum darunter leiden und sich verlangsamen wird.
3 Die SNB verfügt über ein solches Modell.
4 Bis zu mehreren Millionen, siehe Referenzartikel von Sala-i-Martin (1997).
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Liste der «wachstumspolitischen Herausfor- derungen» gewählt werden, die das Staatsse- kretariat für Wirtschaft (Seco) verwendet:
1. Globalisierung: Die wirtschaftliche Öff- nung ist für die meisten Länder der An- triebsmotor für wachstumsfördernde Wirtschaftsreformen. Für die Schweiz wird die Liberalisierung des internationa- len Dienstleistungsverkehrs immer wich- tiger.
2. Mobilisierung des Faktors Arbeit: In diesem Bereich dürfte jedes Land eigene Heraus- forderungen zu bewältigen haben (dualer Arbeitsmarkt, Flexibilität, Jugendarbeits- losigkeit, Anreize der Sozialversicherun- gen usw.). Für die Schweiz sind demogra- fische Alterung und Integration der Migrantenbevölkerung die beiden Haupt- faktoren.
3. Wissensgesellschaft: Rascher technologi- scher Fortschritt weltweit erfordert von einzelnen Ländern genügend Kapazitäten, um neues Know-how zu nutzen. Die Schweiz kann sich zur Lösung dieses Pro- blems nicht auf den freien Personenver- kehr verlassen, sondern muss immer grös- sere eigene Investitionen ins Humankapital tätigen. Mit geeigneten Rahmenbedin- gungen hätten diese einen positiven Ein- fluss auf die Innovationskapazität.
4. Mobilisierung des Faktors Kapital: Betrifft vor allem Schwellenländer (z.B. Proble- matik des Eigentumsrechts). In der Schweiz scheint der Immobilienmarkt im internationalen Vergleich sehr starr; er re- agiert nur schwach auf Marktsignale.
5. Marktordnung: In den entwickelten Län- dern sind liberalisierte, flexible Märkte die wichtigsten Wachstumsfaktoren für die Produktivität. In der Schweiz fehlt es nicht an Potenzial für weitere Reformen. Der Schwerpunkt könnte in den nächsten Jah- ren auf die öffentliche Infrastruktur gelegt werden.
6. Governance in öffentlichen und privaten Institutionen: Qualität der staatlichen Ins- titutionen ist zentral für die Nachhaltig- keit des wirtschaftlichen Erfolgs, was die jüngste Finanzkrise erneut bestätigt hat.
In der Schweiz müssen makroprudenziel- le Governance-Strukturen geschaffen werden, etwa für die «Too big to fail»-Pro- blematik.
7. Gesamtwirtschaftliche Stabilität: Dieser Aspekt ist nicht nur in vielen Entwick- lungsländern nach wie vor problematisch.
Um Stabilität zu gewährleisten, müssen namentlich die potenziell destabilisieren- den weltweiten Ungleichgewichte unter Kontrolle gebracht werden (z.B. die über- mässige Staatsverschuldung). Für die Schweiz äussern sich diese in Form eines resultierenden Empfehlungen robust sind,
nicht nur was Länder und Stichprobe be- trifft, sondern auch die Modellierung.
Die Ergebnisse in der Literatur legen na- he, dass es für treffende langfristige Wachs- tumsprognosen kein Patentrezept gibt. Hin- gegen wurde gezeigt, dass in einem Modell fast immer ein komplexes Set von mindestens fünf Wachstumsfaktoren5 einbezogen werden muss. Diese können zum Beispiel aus der
Quelle: Angus Maddison / Die Volkswirtschaft Anmerkung: Die Berechnungen beruhen auf dem Geary-
Khamis-Dollar, dem «internationalen Dollar», von 1990.
Quelle: Angus Maddison / Die Volkswirtschaft Anmerkung: Die Berechnungen beruhen auf dem Geary-
Khamis-Dollar, dem «internationalen Dollar», von 1990.
Der Trend wird durch einen Hodrick-Prescott-Filter geschätzt.
Grafik 1
Entwicklung des Pro-Kopf-BIP, im Logarithmus, 1900-2008
Grafik 2
Entwicklung des Pro-Kopf-BIP, im Logarithmus, 1900-2008
Deutschland Norwegen Schweiz Grossbritannien USA
1900 1903 1906 1909 1912 1915 1918 1921 1924 1927 1930 1933 1936 1939 1942 1945 1948 1951 1954 1957 1960 1963 1966 1969 1972 1975 1978 1981 1984 1987 1990 1993 1996 1999 2002 2005 2008
6 6.5 7 7.5 8 8.5 9 9.5 10 10.5
Im Logarithmus
Chile China Indien Japan Brasilien
1900 1903 1906 1909 1912 1915 1918 1921 1924 1927 1930 1933 1936 1939 1942 1945 1948 1951 1954 1957 1960 1963 1966 1969 1972 1975 1978 1981 1984 1987 1990 1993 1996 1999 2002 2005 2008
6 6.5 7 7.5 8 8.5 9 9.5 10 10.5
Im Logarithmus
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über genügend Sparkapital im Land verfü- gen. In den entwickelten Ländern wurden die Investitionen bis 2010 gedämpft, wäh- rend die öffentliche Verschuldung vielerorts ein nicht tragbares Ausmass erreichte. Ent- sprechend bestanden grosse Unsicherheiten bezüglich dem strukturellen Wachstum. 2011 sind jedoch ermutigende Signale auszuma- chen, die darauf hoffen lassen, dass sich die Krise nicht gravierend auf die Akkumulation des Faktors Kapitals auswirken wird, falls stark betroffene Länder einen glaubwürdigen Sanierungsplan für ihren Staatshaushalt vor- legen werden.
Das Problem der Governance besteht noch; es dürfte jedoch demnächst gelöst wer- den. Weil der Wille zur Bewältigung dieser Problematik vorhanden scheint und keine Anhaltspunkte dafür bestehen, dass die Krise bei den übrigen Wachstumsfaktoren eine Trendwende herbeigeführt hat, ist eine ge- wisse Zuversicht am Platz. Die Krise war zweifellos eine Bewährungsprobe; sie dürfte jedoch die strukturelle Wachstumsquote der meisten Länder nicht nachhaltig beeinträch- tigen. Diese Meinung vertritt auch die OECD; und die aktuellsten ökonometrischen Schätzungen – die allerdings noch nicht sig- nifikant sind – schliessen eine Rückkehr zu einem strukturellen Wachstum wie vor der Krise nicht aus.
Der Fall Schweiz
Das Seco bezieht die obigen Überlegun- gen ein, wenn es in vier Schritten Szenarien zum langfristigen BIP-Wachstum der Schweiz erstellt:
Erstens hat das Seco aufgrund der Qualität der aktuell verfügbaren Datenreihen und der Schwierigkeit, eine zuverlässige Wachstums- buchhaltung zu erstellen, das einfachste Wachstumsmodell verwendet. Gemäss die- sem Ansatz entspricht das strukturelle BIP- Wachstum dem Wachstum der Vollzeitäqui- valente in den Bevölkerungsszenarien des Bundesamts für Statistik (BFS) zuzüglich ei- ner Schätzung zum strukturellen Produktivi- tätswachstum.
Zweitens wurde das Wachstum der struk- turellen Produktivität in Vollzeitäquivalenten auf 0,9% geschätzt. Die Robustheit dieser Schätzung wurde durch eine Reihe verschie- denster ökonometrischer Tests bestätigt (Austausch der Stichprobe, Bottom-up-An- satz ausgehend von den Wirtschaftszweigen, Verwendung des Kapitalstocks usw.). Es han- delt sich dabei um eine schweizerische Eigen- heit, da dieser Parameter in den übrigen Län- dern langfristig am schwierigsten vorherzu- sehen ist. Eine ähnliche Strukturanalyse wie im vorangehenden Abschnitt zeigt, dass es starken Frankens und immer häufigeren
Kapitalsperren im Ausland.
8. Bewältigung umweltspezifischer Einschrän- kungen: Die lokale Umwelt und die Aus- beutung der natürlichen Ressourcen blei- ben in vielen Ländern die grösste Herausforderung. Für die Schweiz liegt sie in der Abkopplung der Treibhausgasemis- sionen vom Wachstum. Dies betrifft unter anderem die Bereiche Energieproduktion und Mobilität.
Wird ein Einbruch beim strukturellen Wachstum beobachtet, vermutet oder be- fürchtet, ist der Grund dafür in dieser Liste zu finden. Beispielsweise bestand die Gefahr, dass die Finanzkrise die strukturellen Wachs- tumsquoten der einzelnen Länder beein- trächtigt. Um dies zu vermeiden, hat sich die Wirtschaftspolitik sehr schnell auf die Mobi- lisierung des Faktors Kapital und auf die Governance und die wirtschaftliche Öffnung konzentriert.
Dabei wurde sehr klar kommuniziert, dass eine Rückkehr zu protektionistischen Mass- nahmen vermieden werden muss. Auch wenn sich in diesem Punkt nicht alle Staaten vor- bildlich verhalten haben und die Doha-Run- de scheitern könnte, war insgesamt keine Protektionswelle zu beobachten. Das massive Hilfspaket der G20 zur Finanzierung des Welthandels wiederum war vermutlich eine der besten Investitionen in die Krisenbewäl- tigung. Heute ist festzustellen, dass sich die Globalisierung rasch weiter fortsetzt.
Beim Faktor Kapital waren viele Länder nicht betroffen. Dies gilt besonders für die Schwellenländer, die kaum von internationa- len Finanzierungen abhängig sind, sondern
Quelle: SECO / Die Volkswirtschaft Grafik 3
Entwicklung des strukturellen BIP-Wachstums der Schweiz gemäss Szenario «Trend» des Seco, in % pro Jahr, 2010-2030
5 Dieser Befund bestätigt auch, dass die Wachstumspolitik an mehreren Fronten reagieren muss, um erfolgreich zu sein.
2010 2011 2012 2013 2014 2015 2016 2017 2018 2019 2020 2021 2022 2023 2024 2025 2026 2027 2028 2029 2030 0.0
0.2 0.4 0.6 0.8 1.0 1.2 1.4 1.6 1.8 2.0
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12 Die VolkswirtschaftDas Magazin für Wirtschaftspolitik 6-2011
unwahrscheinlich ist, dass sich der Wert von 0,9% pro Jahr im laufenden Zyklus oder da- nach verändert. Mehrere Anhaltspunkte wei- sen auf eine mögliche Abschwächung hin.
Dieser Wert ist somit als eher optimistisch zu betrachten; er bleibt aber innerhalb der Feh- lermarge der meisten Schätzungen.
Drittens für die Vollzeitäquivalente kön- nen mehrere Szenarien formuliert werden.
Während in anderen Ländern Datenreihen über demographische Trends langfristig am zuverlässigsten sind, weil sie von den relativ gut vorhersehbaren Geburten- und Sterbe- ziffern abhängen, ist in der Schweiz aufgrund der schwankenden Immigration das Gegen- teil der Fall. Im Bevölkerungsszenario
«Trend» vom Juni 2010 wurde die Netto- migration ab 2030 auf rund 1,5% pro Jahr veranschlagt. Dies entspricht dem Durch- schnitt der vorangehenden Jahrzehnte, da davon ausgegangen wird, dass der freie Per- sonenverkehr langsam an Einfluss verliert.
Das Seco stimmt mit dieser Hypothese über- ein, da bis 2009 die Einwanderung wahr- scheinlich mit der Konjunktur und einem vorübergehenden Sondereffekt durch den freien Personenverkehr zu erklären ist. Wenn man die Wachstumsquote für die Vollzeit- äquivalente des Arbeitsangebots aus dem Bevölkerungsszenario «Trend» des BFS ver- wendet und von einem strukturellen Pro- duktivitätswachstum von 0,9% ausgeht, resultiert die in Grafik 3 dargestellte BIP- Wachstumsrate. Nach der letzten Krise (2010) ist die Instabilität im Randbereich der Prognosen zur Nettomigration deutlich an-
gestiegen, was für die Schweiz nicht unge- wöhnlich ist. Diesmal lässt sich mit einer strukturellen Analyse nicht mehr ausschlies- sen, dass infolge der Probleme in der Eurozo- ne weitere Migrationswellen auftreten wer- den. Somit sind andere Wachstumsszenarien mit einem langfristig anhaltenden Bevölke- rungswachstum denkbar. Grafik 4 zeigt drei Möglichkeiten:
− Das Szenario «Trend» des BFS liegt sehr nahe bei einem Modell, in dem der Ein- fluss des freien Personenverkehrs ab 2011 seine Wirkungen einbüsst.
− Falls der freie Personenverkehr einen dau- erhaften Einfluss hat, wird der Migrati- onssaldo hoch bleiben. Die Bevölkerung würde, wie im BFS-Szenario dargestellt, durch eine sehr starken Migration geprägt sein.
− Die Krise in der Eurozone verlängert den Effekt des freien Personenverkehrs für ei- nige Jahre. Dieser wird sich aber bis 2022 schrittweise abschwächen, wenn die Her- kunftsländer der Migranten ihre wirt- schaftliche Dynamik wiedergefunden (Deutschland) oder ihre derzeitigen Schwierigkeiten schrittweise überwunden haben werden (Länder Südeuropas).6 Viertens werden die verketteten Reihen zu den strukturellen BIP-Wachstumsquoten mit einer Schätzung zum potenziellen BIP kom- biniert. Dabei wurde eine ähnliche Methode verwendet wie für die Schuldenbremse.
Schlussfolgerung
Bei den ökonometrischen Theorien und Schätzungen zur Erklärung der beobachteten strukturellen Wachstumswerte wurden in den vergangenen zwanzig Jahren grosse Fort- schritte erzielt. Trotzdem sind sie nicht zu- verlässig, weil der Randbereich bei langfristi- gen Wachstumsszenarien noch immer instabil ist. Eine Analyse des strukturellen Aspekts der Konjunkturzyklen löst das Prob- lem nur teilweise.
In der Schweiz ist das strukturelle Wachs- tum der Arbeitsproduktivität sehr robust, selbst nach der letzten Krise. Es bleibt jedoch im internationalen Vergleich auch nach der Krise sehr niedrig; und für die Zukunft spricht ebenfalls nichts für eine optimisti- schere Einschätzung. Sehr schwierig ist hingegen die strukturelle Komponente der Nettomigration zu schätzen. Wenn die Bun- desämter Annahmen zum langfristigen BIP- Wachstum treffen, sollten sie deshalb noch andere Szenarien als das Modell «Trend» be-
trachten. m
Quelle: Surchat / Die Volkswirtschaft Grafik 4
Entwicklung des Migrationssaldos gemäss verschiedenen Szenarien, in % der Erwerbsbevölkerung, in Vollzeitäquivalenten, 1981-2020
6 Dieses letzte Szenario basiert insgesamt auf einem jähr- lich um mindestens 0,2% höheren langfristigen struktu- rellen Bevölkerungswachstum für das nächste Jahr- zehnt. Obwohl es auf den ersten Blick nicht so aussieht, ist dieser Effekt nicht unbedeutend, hätte er doch Aus- wirkungen auf die Finanzierung der Sozialversicherun- gen und der öffentlichen Infrastruktur.
Beobachtet Falls Effekt verstrichen Falls permanenter Effekt Falls vorübergehender Effekt
-0.2 -0.0 0.2 0.4 0.6 0.8 1.0 1.2 1.4
1981 1982 1983 1984 1985 1986 1987 1988 1989 1990 1991 1992 1993 1994 1995 1996 1997 1998 1999 2000 2001 2002 2003 2004 2005 2006 2007 2008 2009 2010 2011 2012 2013 2014 2015 2016 2017 2018 2019 2020