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Familienleistungsexport: der Fluss österreichischer Familienbeihilfe an im Ausland lebende Kinder / eingereicht von Sandra Kutscher

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JOHANNES KEPLER UNIVERSITÄT LINZ Altenberger Straße 69 4040 Linz, Österreich www.jku.at DVR 0093696 Eingereicht von Sandra Kutscher Angefertigt am Institut für Europarecht Beurteiler / Beurteilerin

Assoz. Univ.-Prof. Dr. Franz Leidenmühler

Februar 2018

Familienleistungsexport

Der Fluss österreichischer

Familienbeihilfe an im Ausland

lebende Kinder

Diplomarbeit

zur Erlangung des akademischen Grades

Magistra der Rechtswissenschaften

im Diplomstudium

(2)

EIDESSTATTLICHE ERKLÄRUNG

Ich erkläre an Eides statt, dass ich die vorliegende Diplomarbeit selbstständig und ohne fremde Hilfe verfasst, andere als die angegebenen Quellen und Hilfsmittel nicht benutzt bzw die wörtlich oder sinngemäß entnommenen Stellen als solche kenntlich gemacht habe.

Die vorliegende Diplomarbeit ist mit dem elektronisch übermittelten Textdokument identisch.

Linz, Februar 2018

(3)

GENDER-ERKLÄRUNG

Aus Gründen der besseren Lesbarkeit wird in dieser Diplomarbeit grundsätzlich die Sprachform des generischen Maskulinums angewendet. Es wird an dieser Stelle darauf hingewiesen, dass die ausschließliche Verwendung der männlichen Form geschlechtsunabhängig verstanden werden soll.

(4)

Inhaltsverzeichnis

1 Einleitung ... 6

2 Nationale Rechtslage – FLAG 1967 ... 7

2.1 Anspruchsvoraussetzungen ... 7

2.2 § 53 FLAG 1967 ... 8

3 Unionsrechtliche Rechtsgrundlagen der Familienbeihilfe ... 9

3.1 Primärrecht Art 45 und 48 AEUV ... 9

3.2 Sekundärrecht - Entwicklung VO (EWG) 3 und 4  VO (EWG) 1408/71 und 574/72  VO (EG) 883/2004 und 987/2009 ... 10 4 Koordinierungsverordnung (EG) 883/2004 ... 11 4.1 Anwendung der VO ... 11 4.1.1 Länderübergreifender Sachverhalt ... 12 4.1.2 Persönlicher Geltungsbereich ... 12 4.1.3 Sachlicher Geltungsbereich ... 13 4.2 Grundsätze ... 14 4.2.1 Koordinierung ... 14 4.2.2 Gleichbehandlungsgebot ... 14 4.2.3 Äquivalenzprinzip ... 15 4.2.4 Einheitlichkeit ... 15

4.3 Ermittlung des anzuwendenden Rechts ... 16

4.3.1 Beschäftigungslandprinzip ... 16

4.3.1.1 Beschäftigung ... 17

4.3.1.2 Selbstständige Tätigkeit ... 18

4.3.2 Subsidiäre Zuständigkeit des Wohnmitgliedstaates ... 18

4.3.3 Entsendung ... 19

4.3.4 Ausübung von Tätigkeiten in zwei oder mehr Mitgliedstaaten ... 19

4.3.4.1 Mehrere Beschäftigungen in verschiedenen Mitgliedstaaten ... 20

4.3.4.2 Mehrere selbstständige Erwerbstätigkeiten in verschiedenen Mitgliedstaaten ... 21

4.3.4.3 Beschäftigung und selbstständige Erwerbstätigkeit in verschiedenen Mitgliedstaaten ... 21

4.4 Prioritätsregeln ... 22

4.4.1 Familienleistungen von mehreren Mitgliedstaaten aus unterschiedlichen Gründen ... 23

4.4.2 Familienleistungen von mehreren Mitgliedstaaten aus denselben Gründen ... 23

4.5 Antikumulierung / Ausgleichszahlung ... 24

(5)

5 Anspruchsberechtigter der Familienbeihilfe ... 26

5.1 Kinder leben in Österreich ... 27

5.2 Kinder leben in einem anderen Mitgliedstaat ... 28

5.2.1 Überwiegende Unterhaltsleistung ... 28

5.2.2 Keine oder keine überwiegende Unterhaltsleistung ... 29

5.2.3 Art 60 Abs 1 DVO (EG) 987/2009 ... 29

6 Maßgebliche Judikatur ... 30

6.1 Bosmann C-352/06 ... 30

6.2 Hudzinski C-611/10 und Wawrzyniak C-612/10 ... 31

6.3 Slanina C-363/08 ... 31

7 Export der Familienbeihilfe ... 32

7.1 Anpassung der Familienbeihilfe an die Leistung im Wohnortstaat ... 33

7.2 Anpassung der Familienbeihilfe an die Lebenserhaltungskosten im Wohnortstaat ... 33

7.2.1 Gesetzesentwurf zum Modell der Indexierung ... 35

(6)

1 Einleitung

Mehrere Entwicklungen haben in den letzten Jahren dazu beigetragen, dass die Gewährung von Sozialleistungen an Nichtösterreicher mehrfach Thema politischer Debatten war. Zwar war es manchen Österreichern schon immer ein Dorn im Auge, dass ihrer Meinung nach, das hart erwirtschaftete Geld in die Hände solcher gelangt, die sich nur die Vorteile des Landes zu Nutzen machen, doch haben vor allem die Verkündung der Wirtschaftskrise, die Zweifel in die Fähigkeiten der Politiker und die zunehmenden Flüchtlingsströme die Angst der Menschen geschürt. Die Geschehnisse in anderen Ländern haben teilweise einen Abfall des Landes veranschaulicht, den viele auch für Österreich befürchten.

Bei den Neuwahlen 2017 war es gern angesprochenes Thema, weil man damit bei vielen Wählern genau ins Schwarze traf.

Bereits 2013 erging ein Brief der Innenminister Österreichs, Deutschlands, der Niederlande und Großbritanniens an den Europäischen Rat, in dem die Unterstützung bei der Bekämpfung des Missbrauchs von Freizügigkeitsrechten und der damit einhergehenden Belastung der Sozialsysteme erbeten wurde.1

Auch Neubundeskanzler Sebastian Kurz ließ im Wahlkampf seinen Wunsch und Willen zu Änderungen in diesem Bereich mehrmals anklingen. Und noch immer ist es ein heftig diskutiertes Thema. Wie schnell mit einer Änderung zu rechnen ist bzw inwieweit dies möglich ist, ist derzeit noch nicht wirklich klar, denn hier scheiden sich die Geister.

Für die Finanzierung solcher Sozialleistungen gibt es verschiedene Systeme. Dies kann durch ein beitragsfinanziertes Versicherungssystem geschehen, oder auch durch steuerfinanzierte Versorgungssysteme. Bei beiden finden ein sozialer Ausgleich und eine Umverteilung statt, was dazu führt, dass auch Personen Leistungen in Anspruch nehmen, die nicht Teil dieser Solidargemeinschaft sind.

Meistens ist es in den Ländern so geregelt, dass die Leistung an Menschen anderer Nationalitäten nur eingeschränkt erfolgt. Solch nachteilige Behandlung verbietet jedoch das Unionsrecht für Staatsangehörige eines EU-Mitgliedstaates, was eine Belastung für die gewährenden Staaten darstellt, da Personen einen Anspruch haben können, ohne ein Äquivalent dafür geleistet zu haben.

Höhere Sozialleistungen können sogar Motiv für die Verlegung des Wohnsitzstaates sein. Vereinfacht wird dies, wenn die Gewährung von einem Wohnsitz im Inland abhängt und nicht von einer Beitragsleistung.2

Die nationalen Regelungen der europäischen Staaten betreffend die Familienbeihilfe sind sehr divergent und die Leistungshöhe oftmals signifikant niedriger als in Österreich.3

In vorliegender Diplomarbeit geht es speziell um die Familienbeihilfe.

Zum Einstieg wird die nationale Rechtslage, insbesondere das FLAG 1967 erörtert.

1 Vgl Kapuy, Der Zugang zu Sozialleistungen innerhalb der EU, ZAS 2014, 196 ff (196).

2 Vgl Felten, Sozialtourismus in der EU – Möglichkeiten und Grenzen der Optimierung von Sozialleistungen nach dem

Unionsrecht, DRdA 2012, 461 ff (462-463).

3 Vgl Philipp/Lenneis, Berücksichtigung der tatsächlichen Lebenserhaltungskosten bei der Bemessung der

(7)

Da in Zusammenhang mit den Zahlungen in das Ausland das EU-Recht beachtet werden muss, folgt eine kurze Darstellung der unionsrechtlichen Rechtsgrundlagen samt ihrer Entwicklung, wobei es anschließend zu einer genaueren Erörterung der aktuell geltenden VO (EG) 883/2004 kommt. Hier wird näher auf den Anwendungsbereich und die Grundsätze eingegangen.

Es folgt die Klärung welches Recht anzuwenden ist, somit welches Land zur Leistung der Familienbeihilfe verpflichtet ist und, ob allfällige Ausgleichszahlungen eines anderen Landes zustehen. Schließlich ist noch festzustellen, wer Anspruchsberechtigter sein kann.

Die Entwicklung des Rechts wird durch vier maßgebliche EuGH-Entscheidungen veranschaulicht.

Am Ende der Diplomarbeit werden allgemeine Daten, die aktuelle Lage und Meinungen zum Thema Export der Familienbeihilfe erörtert und zwei Ansätze vorgestellt, die eine jeweilige Anpassung der Höhe der Familienbeihilfe an den Wohnsitzstaat vorsehen.

2 Nationale Rechtslage – FLAG 1967

Rechtliche Grundlage für die Gewährung von Familienbeihilfe ist in Österreich das Familienlastenausgleichsgesetz, kurz FLAG 1967. Wesentlicher Inhalt sind Normen, die den Anspruch oder den Ausschluss des Familienbeihilfebezugs regeln.4

2.1 Anspruchsvoraussetzungen

Die Familienbeihilfe wird zwar zu einem großen Teil durch zweckgebundene Beiträge generiert, dennoch ist sie keine Versicherungsleistung, deren Erteilung von einer Beitragszahlung abhängt.5 Sie wird außerdem unabhängig vom Einkommen gewährt.6

§ 2 Abs 1 FLAG 1967 knüpft den Anspruch auf Familienbeihilfe an einen Wohnsitz oder den gewöhnlichen Aufenthalt im Bundesgebiet. Dieser besteht für minderjährige Kinder oder Volljährige, unter den in lit b genannten Voraussetzungen.

Anspruchsberechtigt ist nach Abs 2 diejenige Person, zu deren Haushalt das Kind zählt. Gehört das Kind zwar nicht zu deren Haushalt, werden jedoch die überwiegenden Unterhaltskosten von dieser Person getragen, hat diese den Anspruch auf Auszahlung der Familienbeihilfe, sofern keine andere Person nach ersterem berechtigt ist.

Auch das Kind muss gem § 5 FLAG 1967 seinen gewöhnlichen Aufenthalt im Bundesgebiet haben und darf gewisse Einkommensgrenzen nicht überschreiten.7

Zusätzliche Voraussetzung für ein Anrecht ist es, gem § 2 Abs 8 FLAG 1967, den Mittelpunkt seiner Lebensinteressen im Bundesgebiet zu haben.8 Darunter versteht man denjenigen Staat,

zu dem die engere persönliche und wirtschaftliche Beziehung besteht, wobei der persönlichen Beziehung mehr Gewicht zufällt und dies in der Regel der Ort ist, an dem die Familie lebt.9

4 Vgl König, Die Familienbeihilfe – Eine Einführung, FJ 2003, 41 ff (41-42).

5 Vgl Herzog in Doralt/Kirchmayr/Mayr/Zorn (Hrsg), EStG18 (2016), § 33, Rz 56 (Stand 01.02.2017, lindeonline.at). 6Vgl Europäische Kommission, Österreich – Familie,

http://ec.europa.eu/social/main.jsp?catId=1101&langId=de&intPageId=4401 (abgefragt am 23.10.2017).

7 Vgl BGBl 376/1967 idgF.

8 Vgl Bundesministerium für Familien und Jugend, Anspruchsvoraussetzungen für die Familienbeihilfe der Eltern,

https://www.bmfj.gv.at/familie/finanzielle-unterstuetzungen/familienbeihilfe0/anspruchsvoraussetzung.html (abgefragt am 10.08.2017).

(8)

Nichtösterreichische Staatsbürger haben gem § 3 FLAG 1967 nur einen Anspruch auf Familienbeihilfe, wenn sie sich nach §§ 8 und 9 des Niederlassungs- und Aufenthaltsgesetzes oder nach § 54 Asylgesetz 2005 rechtmäßig in Österreich aufhalten.10 Bürger der

EU-Mitgliedstaaten, des EWR sowie der Schweiz, die sich weniger als drei Monate in Österreich aufhalten, benötigen keinen Aufenthaltstitel. Dauert ihr Aufenthalt länger, müssen sie einen Nachweis gem § 9 NAG erbringen können. Drittstaatsangehörige und Staatenlose bedürfen jedenfalls eines Aufenthaltstitels gem § 8 NAG.11

Gem § 4 Abs 1 FLAG 1967 und § 5 Abs 4 FLAG 1967 besteht kein Anspruch auf Familienbeihilfe, sofern ein Recht auf eine gleichartige ausländische Beihilfe besteht. Sollte dies einen österreichischen Staatsbürger betreffen und ist die ausländische Beihilfe niedriger als jene, die er in Österreich ausbezahlt bekommen würde, hat er nach § 4 Abs 2 und 3 FLAG 1967 ein Anrecht auf eine Ausgleichszahlung in der Höhe der Differenz der beiden Beträge.12

§ 4 FLAG 1967 bezieht sich dabei auf Drittstaaten. Sollte es sich um EU-Staaten handeln, liegt ein Anwendungsfall der VO (EG) 883/2004 vor und man nennt sie Differenzzahlung.13

Die Höhe des zustehenden Familienbeihilfebetrags bestimmt sich gem § 8 FLAG 1967 nach der Anzahl und dem Alter der Kinder.14

Ergänzend dazu gebührt der Kinderabsetzbetrag in voller Höhe. Dies ist sogar dann der Fall, wenn keine Ausgleichszahlung zusteht, weil die österreichische Beihilfe geringer ist als die ausländische.15

2.2 § 53 FLAG 1967

§ 53 FLAG 1967

„(1) Staatsbürger von Vertragsparteien des Übereinkommens über den Europäischen Wirtschaftsraum (EWR) sind, soweit es sich aus dem genannten Übereinkommen ergibt, in diesem Bundesgesetz österreichischen Staatsbürgern gleichgestellt. Hiebei ist der ständige Aufenthalt eines Kindes in einem Staat des Europäischen Wirtschaftsraums nach Maßgabe der gemeinschaftsrechtlichen Bestimmungen dem ständigen Aufenthalt eines Kindes in Österreich gleichzuhalten.

…..“16

Durch diese Bestimmung ist der ständige Aufenthalt eines Kindes in einem Staat des EWR im Sinne der gemeinschaftsrechtlichen Bestimmungen, dem ständigen Aufenthalt in Österreich

10 Vgl BGBl 376/1967 idgF.

11 Vgl Aigner/Wanke in Csazsar/Lenneis/Wanke (Hrsg), FLAG (2011), § 3, Rz 133-134 (Stand 21.04.2011,

lindeonline.at).

12 Vgl BGBl 376/1967 idgF.

13 Vgl BFG 01.02.2017, RV/7104470/2015.

14Vgl Europäische Kommission, Österreich – Familie,

http://ec.europa.eu/social/main.jsp?catId=1101&langId=de&intPageId=4401 (abgefragt am 23.10.2017).

15 Vgl Herzog in Doralt/Kirchmayr/Mayr/Zorn (Hrsg), EStG18 (2016), § 33, Rz 59/1. 16 BGBl 376/1967 idgF.

(9)

gleichgestellt.17 Eine Einschränkung des Familienbeihilfeanspruchs findet aufgrund dessen also

nicht statt.18 § 53 Abs 1 FLAG 1967 setzt somit den § 5 Abs 3 FLAG 1967, nach dem kein

Anspruch für Kinder besteht, die sich ständig im Ausland aufhalten, hinsichtlich EWR-Staatsbürger außer Kraft.19 Beim anspruchsvermittelnden Kind muss der Mittelpunkt der

Lebensinteressen nicht in Österreich liegen.20

3 Unionsrechtliche Rechtsgrundlagen der Familienbeihilfe

Die umfangreichen Gleichbehandlungsgebote des Unionsrechts bilden die rechtliche Grundlage für die grenzüberschreitende Inanspruchnahme von Sozialleistungen durch die Unionsbürger, welche sowohl im Primärrecht als auch im Sekundärrecht vorkommen.21

3.1 Primärrecht

Art 45 und 48 AEUV

EU-Bürger haben unter denselben Voraussetzungen wie Inländer ein Anrecht auf Gewährung von Sozialleistungen. Dieses Recht ergibt sich im Wesentlichen aus Art 45 AEUV.22 Dieser

Artikel normiert das Recht auf Freizügigkeit der Arbeitnehmer, welches eine Verpflichtung der Mitgliedstaaten, alle nationalen Maßnahmen zu unterlassen, die diesbezüglich eine Hemmung verursachen würden, innehat.23 Das Recht auf Freizügigkeit ist eines der grundlegendsten

Prinzipien des Unionsrechts.24

Art 48 Abs 1 lit b AEUV verleiht dem Europäischen Parlament und dem Rat die Kompetenz die soziale Sicherheit durch ihr Zutun zu potenzieren, um entsprechende Leistungen zu sichern. Da es sich bei Art 48 AEUV jedoch lediglich um einen Koordinierungsauftrag handelt, bleibt den einzelnen Mitgliedstaaten dementsprechend ein Regelungsspielraum bei der sozialen Sicherheit.25

Ferner normiert Art 18 AEUV ein Diskriminierungsverbot aufgrund der Staatsangehörigkeit.26

Personen in einer unionsrechtlich geregelten Situation unterliegen vollends derselben Behandlung wie Staatsangehörige des betreffenden Mitgliedstaates.27 Eine Zugangsregulierung

zu Sozialleistungen bedarf aufgrund dessen einer Rechtfertigung.28

17 Vgl Aigner/Wanke in Csazsar/Lenneis/Wanke (Hrsg), FLAG (2011), § 3, Rz 227. 18 Vgl Herzog in Doralt/Kirchmayr/Mayr/Zorn (Hrsg), EStG18 (2016), § 33, Rz 59/1. 19 Vgl BFG 07.08.2015, RV/7101581/2014; BFG 01.02.2017, RV/7104470/2015. 20 Vgl Aigner/Wanke in Csazsar/Lenneis/Wanke (Hrsg), FLAG (2011), § 3, Rz 233.

21 Vgl Felten, Sozialtourismus in der EU – Möglichkeiten und Grenzen der Optimierung von Sozialleistungen nach

dem Unionsrecht, DRdA 2012, 461 ff (464).

22 Vgl Kapuy, Der Zugang zu Sozialleistungen innerhalb der EU, ZAS 2014, 196 ff (198). 23 Vgl Felten, Export von Sozialleistungen, SozSi 2017, 130 ff (132).

24 Vgl EuGH 19.09.2013 Rs C-140/12, Pensionsversicherungsanstalt/Brey, ECLI:EU:C:2013:565(Rz 70).

25 Vgl Windisch-Graetz in Mayer/Stöger (Hrsg), EUV/AEUV (2012), Art 48 AEUV, Rz 1, 9 (Stand 01.12.2012, rdb.at). 26 Vgl Felten, Export von Sozialleistungen, SozSi 2017, 130 ff (133).

27 Vgl Lenz in Lenz/Borchardt (Hrsg), EU-Verträge Kommentar6 (2013), Art 18 AEUV, Rz 1 (Stand 30.11.2017,

lindeonline.at).

28 Vgl Rebhahn, Der Einfluss der Unionsbürgerschaft auf den Zugang zu Sozialleistungen – insb zur Ausgleichszulage

(10)

Mithin ist der „Export“ von Sozialleistungen unmittelbar im Primärrecht angesetzt und bildet eine besondere Ausgestaltung des Diskriminierungsverbots.29

3.2 Sekundärrecht - Entwicklung

VO (EWG) 3 und 4  VO (EWG) 1408/71 und 574/72  VO (EG) 883/2004 und 987/2009

Die Personenfreizügigkeit war bereits nach dem Vertrag von Rom eine Grundfreiheit. Da in den Mitgliedstaaten sehr verschiedene Sozialsysteme vorherrschten, die überwiegend nach dem Territorialitätsprinzip organisiert waren, bedurfte es der Gewährleistung, dass Personen, die in einem Mitgliedstaat wohnen und in einem anderen Mitgliedstaat arbeiten, keinerlei Nachteile erleiden, um das Ziel eines einheitlichen Binnenmarktes zu erreichen. Nachdem man sich auf kein einheitliches System einigen konnte, kam es zu einer Koordinierung im Bereich der Sozialsysteme.30

Am 25.09.1958 wurde die Verordnung Nr 3 über die soziale Sicherheit der Wanderarbeitnehmer und am 03.12.1958 die Verordnung zur Durchführung und Ergänzung der Verordnung Nr 3 erlassen.31 Damit wurde eine wichtige Basis für die gegenwärtige Sozialrechtskoordinierung

geschaffen.32 Die seither vergangene Zeitspanne lässt die langjährige Relevanz dieses

Bereiches erkennen.33

Zu einer Neureglung dieser Materie kam es durch die Verordnung (EWG) 1408/71 vom 14.06.1971 und der dazu gehörigen Durchführungsverordnung (EWG) 574/72.34 Diese fand

anfangs nur auf Arbeitnehmer Anwendung. Später kam es zunächst zu einer Erweiterung auf selbstständig Erwerbstätige, Familienangehörige und Hinterbliebene der Anspruchsberechtigten, ebenso auf Flüchtlinge und Staatenlose und mit der Zeit wurde der Adressatenkreis immer größer.35 Durch diese Verordnung sollte erreicht werden, dass die Betroffenen dem sozialen

System eines einzigen Mitgliedstaates angehören, um allfällige Problematiken bei der Kumulierung nationaler Vorschriften zu vermeiden.36

Seit 01.05.2010 wurden die oben genannten Verordnungen durch die VO (EG) 883/2004 und die dazu gehörige Durchführungsverordnung (EG) 987/2009 abgelöst, um die soziale Sicherheit zu koordinieren.37 Verglichen mit VO (EWG) 1408/71 wurde nun nicht mehr auf eine

ökonomische Aktivität abgestellt, sondern auf das Bestehen einer Unionsbürgerschaft.38

29 Vgl Felten, Export von Sozialleistungen, SozSi 2017, 130 ff (133).

30 Vgl Stöger, Unionsrechtliche Aspekte des Anspruchs auf Familienbeihilfe (2016), 20. 31 Vgl Csaszar in Csazsar/Lenneis/Wanke (Hrsg), FLAG (2011), § 53, Rz 5.

32 Vgl Fuchs, Die neue Koordinierungsverordnung Nr 883/2004/EG, Jahrbuch Sozialversicherungsrecht 2011, 203 ff

(203).

33 Vgl Windisch-Graetz in Mayer/Stöger (Hrsg), EUV/AEUV (2012), Art 48 AEUV, Rz 6.

34 Vgl Fuchs, Die neue Koordinierungsverordnung Nr 883/2004/EG, Jahrbuch Sozialversicherungsrecht 2011, 203 ff

(203).

35 Vgl Csaszar in Csazsar/Lenneis/Wanke (Hrsg), FLAG (2011), § 53, Rz 6-7.

36 Vgl EuGH 12.06.2012 Rs C-611/10, Hudzinski/Agentur für Arbeit Wesel und Rs C-612/10, Wawrzyniak/Agentur für

Arbeit Mönchengladbach, ECLI:EU:C:2012:339 (Rz 41).

37 Vgl Fuchs, Die neue Koordinierungsverordnung Nr 883/2004/EG, Jahrbuch Sozialversicherungsrecht 2011, 203 ff

(203).

(11)

Für EWR-Bürger und die Bürger aus der Schweiz galt einstweilen weiterhin die VO (EWG) 1408/71.39 Die parallele Anwendung der VO (EWG) 1408/71 und VO (EG) 883/2004

hat jedoch seit 01.04.2012 bzw 01.06.2012 ein Ende, denn seither kommen die VO (EG) 883/2004 und deren DVO 987/2009 auch in Bezug auf die Schweiz und die EWR-Staaten (Island, Liechtenstein, Norwegen) zur Anwendung.40

Durch die VO (EG) 883/2004 sollte das Ziel aus Art 48 AEUV erreicht werden, indem alles verhindert wird, was Arbeitnehmer in ihrer Freizügigkeit und in der Inanspruchnahme sozialer Sicherheitsleistungen behindern würde. Aus diesem Grund wurde der Export von Geldleistungen in diesem Zusammenhang zu einem wesentlichen Aspekt.41 Es sollen alle

EU-Bürger, die in einem Mitgliedstaat als Arbeitnehmer oder Selbstständige aktiv sind, ab dem ersten Tag ihrer Beschäftigung, ein Anrecht auf Sozialleistungen haben, dies unter anderem was Familienleistungen betrifft.42

Die VO (EG) 883/2004 und DVO (EG) 987/2009 erfuhren durch die VO (EG) 1231/2010 eine Anwendungserweiterung auf Drittstaatsangehörige, welche bisher nur aufgrund ihrer Staatsangehörigkeit nicht umfasst waren. Dies erfordert einen rechtmäßigen Wohnsitz in einem Mitgliedstaat und einen Sachverhalt, der sich auf mehr als einen Mitgliedstaat erstreckt.43

4 Koordinierungsverordnung (EG) 883/2004

Bei dieser Verordnung handelt es sich um supranationales Recht, das heißt, sie muss nicht im nationalen Recht separat umgesetzt werden, sondern ist unmittelbar in den EU-Staaten anwendbar (Durchgriffswirkung).44 Sie ersetzt gem Art 8 der VO (EG) 883/2004 die

zwischenstaatlichen Sozialversicherungsabkommen.45

4.1 Anwendung der VO

Zur Anwendung der Verordnung kommt es im Zusammenhang mit Familienleistungen durch die Mitgliedstaaten der EU.46 Art 1 lit z der VO (EG) 883/2004 definiert Familienleistungen als

„Sach- oder Geldleistungen zum Ausgleich von Familienlasten“. Ausgenommen sind davon jedoch Unterhaltsvorschüsse und besondere Geburts- oder Adoptionsbeihilfen. Die Familienleistung ist einem bestimmten Familienmitglied zugeordnet und bedarfsunabhängig. Durch die Verordnung sollen Anspruchsausschlussgründe aufgrund der Staatsangehörigkeit beseitigt werden.47

39 Vgl Aigner/Wanke in Csazsar/Lenneis/Wanke (Hrsg), FLAG (2011), § 3, Rz 182.

40 Vgl Felten, Arbeit und Soziales, in: Herzig (Hrsg), Jahrbuch Europarecht (2013), 287 ff (289).

41 Vgl EuGH 19.09.2013 Rs C-140/12, Pensionsversicherungsanstalt/Brey, ECLI:EU:C:2013:565 (Rz 51-52). 42 Vgl Kapuy, Der Zugang zu Sozialleistungen innerhalb der EU, ZAS 2014, 196 ff (198).

43 Vgl Fuchs, Die neue Koordinierungsverordnung Nr 883/2004/EG, Jahrbuch Sozialversicherungsrecht 2011, 203 ff

(204).

44 Vgl Csaszar in Csazsar/Lenneis/Wanke (Hrsg), FLAG (2011), § 53, Rz 28.

45 Vgl Windisch-Graetz in Mayer/Stöger (Hrsg), EUV/AEUV (2012), Art 48 AEUV, Rz 35. 46 Vgl BFG 01.02.2017, RV/7104470/2015.

47 Vgl Vießmann/Merkel, Die europarechtliche Koordinierung von Familienleistungen nach der Verordnung (EG)

(12)

4.1.1 Länderübergreifender Sachverhalt

Wichtige Grundlage für die Anwendbarkeit der Verordnung ist ein grenzüberschreitender Sachverhalt, das heißt, es müssen zwei oder mehr Staaten involviert sein. Dies trifft etwa zu, wenn ein Italiener sein Freizügigkeitsrecht nutzt und in Österreich einer Erwerbstätigkeit nachgeht, während seine Familie weiterhin in seinem Wohnsitzstaat Italien lebt.48

4.1.2 Persönlicher Geltungsbereich

VO (EG) 883/2004 Artikel 2

„(1) Diese Verordnung gilt für Staatsangehörige eines Mitgliedstaats, Staatenlose und Flüchtlinge mit Wohnort in einem Mitgliedstaat, für die die Rechtsvorschriften eines oder mehrerer Mitgliedstaaten gelten oder galten, sowie für ihre Familienangehörigen und Hinterbliebenen.

(2) Diese Verordnung gilt auch für Hinterbliebene von Personen, für die die Rechtsvorschriften eines oder mehrerer Mitgliedstaaten galten, und zwar ohne Rücksicht auf die Staatsangehörigkeit dieser Personen, wenn die Hinterbliebenen Staatsangehörige eines Mitgliedstaats sind oder als Staatenlose oder Flüchtlinge in einem Mitgliedstaat wohnen.“49

Wie bereits unter Punkt 3.2 erwähnt, stellt die VO (EG) 883/2004 im Gegensatz zur VO (EWG) 1408/71 nicht mehr auf die ökonomische Aktivität der jeweiligen Person ab. Vom persönlichen Anwendungsbereich sind damit alle Staatsbürger eines Mitgliedstaates umfasst, die nach nationalem Recht wenigstens einem Sektor der sozialen Sicherheit angehören. Diese Vereinfachung zur Vorgängerverordnung erspart schwierige Abgrenzungsfragen.50

Der Flüchtlingsbegriff ist in allen Mitgliedstaaten gleich. Flüchtling ist eine Person außerhalb ihres Heimatlandes, die sich aufgrund wohlbegründeter Furcht, wegen ihrer Rasse, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer sozialen oder politischen Gruppe nicht in der Lage sieht, Schutz durch dieses Land zu erhalten.

Auch der Begriff des Staatenlosen ist in den Mitgliedstaaten ident. Es handelt sich dabei um eine Person, die kein Staat im Sinne seines Rechtes als Staatsangehörigen erachtet.

Gem Art 2 Abs 1 VO (EG) 883/2004 erstreckt sich der Anwendungsbereich dieser Verordnung auch auf Familienangehörige der umfassten Personen. In Art 1 lit i wird der Begriff des

48 Vgl Csaszar in Csazsar/Lenneis/Wanke (Hrsg), FLAG (2011), § 53, Rz 39.

49 Verordnung (EG) 883/2004 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 29. April 2004 zur Koordinierung der

Systeme der sozialen Sicherheit, ABl L 2004/166, 1.

50 Vgl Felten, Anwendungsbereich und Grundsätze der neuen Sozialrechtskoordinierung in Europa, wbl 2010, 445 ff

(13)

Familienangehörigen genauer definiert. Grundsätzlich determiniert sich dieser aus den nationalen Rechtsvorschriften. Sollte sich in diesen keine genauere Umschreibung finden, werden jedenfalls Ehegatten, minderjährige Kinder und unterhaltsberechtigte volljährige Kinder darunter verstanden. Nach den nationalen Rechtsvorschriften kann zusätzlich eine Haushaltszugehörigkeit erforderlich sein, die nach Art 1 lit i Z 3 realisiert ist, wenn der Versicherte oder Rentner mehrheitlich den Unterhalt für die entsprechende Person bewerkstelligt.51 Dies ist die praktisch wohl bedeutsamste Gruppe. Auch Drittstaatsangehörige

können so in den Anwendungsbereich der VO (EG) 883/2004 kommen, wenn sie die Familienangehörigeneigenschaft zu einem Unionsbürger nachweisen.52

4.1.3 Sachlicher Geltungsbereich

Der sachliche Geltungsbereich der VO (EG) 883/2004 wird in Art 3 näher bestimmt. Die Verordnung gilt für alle dort ausdrücklich genannten Zweige der sozialen Sicherheit. Im Ergebnis findet sie Anwendung auf Leistungen in Zusammenhang mit Krankheit, bei Mutterschaft und gleichgestellten Leistungen bei Vaterschaft, Invalidität, Alter, Leistungen für Hinterbliebene, bei Arbeitsunfällen und Berufskrankheiten, Sterbegeld, Leistungen bei Arbeitslosigkeit, Vorruhestandsleistungen und schlussendlich finden sich unter Abs 1 lit j die Familienleistungen.53

Der EuGH knüpft das Vorliegen einer Familienleistung an zwei Voraussetzungen. Danach muss die Zahlung zum Ausgleich von Familienlasten erfolgen und ohne Ermessen aufgrund objektiver Kriterien zustehen.54

Unterhaltsvorschüsse werden vom EuGH zwar als Familienleistung qualifiziert, jedoch besteht die Möglichkeit diese vom Anwendungsbereich der Verordnung auszuschließen, womit weder das Gleichbehandlungsgebot noch die Exportpflicht gilt. Österreich hat zB davon Gebrauch gemacht und Unterhaltsvorschüsse ausgenommen.55

Da sowohl auf Beiträgen beruhende als auch beitragsfreie Systeme der sozialen Sicherheit in den Anwendungsbereich der Verordnung fallen, sind neben auf dem Versicherungsprinzip basierende auch an den Wohnsitz gekoppelte Systeme umfasst.

Ohne Bedeutung ist dabei die nationale Qualifikation der jeweiligen Leistung, maßgebend ist nur der sozialpolitische Zweck.56

51 Vgl Stöger, Unionsrechtliche Aspekte des Anspruchs auf Familienbeihilfe (2016), 25-26.

52 Vgl Felten, Anwendungsbereich und Grundsätze der neuen Sozialrechtskoordinierung in Europa, wbl 2010, 445 ff

(447).

53 Vgl Windisch-Graetz in Mayer/Stöger (Hrsg), EUV/AEUV (2012), Art 48 AEUV, Rz 13. 54 Vgl Stöger, Unionsrechtliche Aspekte des Anspruchs auf Familienbeihilfe (2016), 26.

55 Vgl Felten, Anwendungsbereich und Grundsätze der neuen Sozialrechtskoordinierung in Europa, wbl 2010, 445 ff

(450).

(14)

4.2 Grundsätze

In der VO (EG) 883/2004 finden sich einige Grundsätze, die bei der Anwendung der Verordnung beachtet werden müssen, um ein gleiches Vorgehen zu erreichen. Diese gelten für die Zweige der sozialen Sicherheit gem Art 3 VO (EG) 883/2004, somit auch für die Familienleistungen.57

4.2.1 Koordinierung

Bereits Art 48 AEUV sieht eine Koordinierung und keine Harmonisierung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten vor, das heißt, jeder Mitgliedstaat bleibt für sich zuständig, die Voraussetzungen für den Leistungserhalt von sozialen Sicherheiten festzulegen, welche jedoch im Konsens mit dem Unionsrecht stehen müssen.58

Mit der VO (EG) 883/2004 und der DVO (EG) 987/2009 hat der Rat ein System konzipiert, welches eine Koordination der Systeme sozialer Sicherheit bewirkt, sowohl in Bezug auf das Versicherungsverhältnis als auch auf das Leistungsverhältnis, bei prinzipieller Beibehaltung nationaler Versicherungssysteme.59

4.2.2 Gleichbehandlungsgebot

Personen, die in den Anwendungsbereich dieser Verordnung fallen, haben die gleichen Rechte und Pflichten durch die Rechtsvorschriften eines Mitgliedstaates wie die Staatsangehörigen dieses Staates. Durch Art 4 VO (EG) 883/2004 wird der Gleichbehandlungsgrundsatz des Art 18 AEUV in Bezug auf die soziale Sicherheit bekräftigt. 60

Der Gleichbehandlungsgrundsatz verbietet nicht nur die offenkundige Diskriminierung hinsichtlich der Staatsangehörigkeit, sondern auch alle verschleierten Formen, die unter Anwendung anderer Unterscheidungsmerkmale, zu dem gleichen Ergebnis führen.61

Jene Form der Diskriminierung, bei der man die Staatsangehörigkeit als Unterscheidungsmerkmal heranzieht, nennt man auch direkte oder unmittelbare Diskriminierung.62 Sollte ein EU-Bürger, der von seinem Freizügigkeitsrecht Gebrauch gemacht

hat, wegen seiner Staatsangehörigkeit Opfer einer Ungleichbehandlung werden, kann er sich unmittelbar auf den Gleichbehandlungsgrundsatz berufen.63

Bei Anknüpfung an ein anderes Merkmal als die Staatsangehörigkeit, spricht man von der indirekten oder mittelbaren Diskriminierung. Hier besteht laut EuGH jedoch die Möglichkeit, dass die Unterscheidung anhand dieser Merkmale objektiv gerechtfertigt sein kann.64 Die mittelbare

57 Vgl Verordnung (EG) 883/2004 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 29. April 2004 zur Koordinierung

der Systeme der sozialen Sicherheit, ABl L 2004/166, 1.

58 Vgl EuGH 12.06.2012 Rs C-611/10, Hudzinski/Agentur für Arbeit Wesel und Rs C-612/10, Wawrzyniak/Agentur für

Arbeit Mönchengladbach, ECLI:EU:C:2012:339 (Rz 42).

59 Vgl Windisch-Graetz in Mayer/Stöger (Hrsg), EUV/AEUV (2012), Art 48 AEUV, Rz 4. 60 Vgl Windisch-Graetz in Mayer/Stöger (Hrsg), EUV/AEUV (2012), Art 48 AEUV, Rz 31.

61 Vgl Philipp/Lenneis, Berücksichtigung der tatsächlichen Lebenserhaltungskosten bei der Bemessung der

Familienbeihilfe, ÖStZ 2011, 203 ff (205).

62 Vgl Lenz in Lenz/Borchardt (Hrsg), EU-Verträge Kommentar6 (2013), Art 18 AEUV, Rz 4.

63 Vgl Felten, Sozialtourismus in der EU – Möglichkeiten und Grenzen der Optimierung von Sozialleistungen nach

dem Unionsrecht, DRdA 2012, 461 ff (466).

(15)

Diskriminierung muss zur Erreichung eines legitimen Ziels geeignet sein, darf aber das erforderliche Maß nicht überschreiten.65

Solch eine mittelbare Diskriminierung liegt etwa vor, wenn die Auswirkungen nationaler Vorschriften eher die von der VO (EG) 883/2004 erfassten Personen betreffen als Inländer und die Gefahr besteht, dass es im Zusammenhang mit der Gewährung von Sozialleistungen zu einer Benachteiligung oder sogar zum Ausschluss von einem möglichen Leistungsbezug durch fremde Staatsangehörige kommt. Praktisch relevant sind hier vor allem Wohnsitzklauseln.66

4.2.3 Äquivalenzprinzip

Art 5 VO (EG) 883/2004 normiert eine Gleichstellung von Leistungen, Einkünften, Sachverhalten und Ereignissen.

Falls das Sozialrecht des zuständigen Mitgliedstaates bestimmte Rechtswirkungen in Verbindung mit dem Erhalt von Sozialleistungen oder sonstigen Einkünften vorsieht, sind solche Leistungen/Einkünfte überdies zu beachten, sofern sie nach dem Recht des anderen Mitgliedstaates gewährt oder bezogen werden. Dasselbe gilt bei der Assoziierung bestimmter Rechtswirkungen mit gewissen Sachverhalten oder Ereignissen.67

Eine Einschränkung der Reichweite des Art 5 findet sich in Erwägungsgrund 10 der Präambel. Dieser beinhaltet, dass die Zurücklegung von Zeiten in einem anderen Mitgliedstaat in den Anwendungsbereich des Art 6 fallen, in dem es explizit um die Zusammenrechnung von Zeiten geht.

Erwägungsgrund 11 bestimmt, dass durch die Heranziehung von Art 5 kein eigentlich unzuständiger Staat Zuständigkeit erlangen darf.

Darüber hinaus ist sicherzustellen, dass es im Hinblick auf die Gleichstellung von Sachverhalten und Ereignissen zu keinem Doppelbezug kommt, welcher in Widerspruch zum Verbot des Zusammentreffens von Leistungen in Art 10 stehen würde.

Dies alles soll nach Erwägungsgrund 12 im Sinne der Verhältnismäßigkeit passieren, um unsachliche Ergebnisse zu verhindern.68

4.2.4 Einheitlichkeit

Die Anwendung der Verordnung soll vom Grundsatz der Einheitlichkeit getragen sein. Da es sich im Zusammenhang mit der VO (EG) 883/2004 um grenzüberschreitende Sachverhalte handelt, muss zuerst geklärt werden, welcher Staat zuständig ist.69 Art 11 Abs 1 normiert in

diesem Sinne, dass für eine Person nur die Rechtsvorschriften eines Staates gelten dürfen.70

Damit soll also verhindert werden, dass es zu einer parallelen Heranziehung verschiedener nationaler Vorschriften kommt, was zu Normenkonflikten führen kann, aber auch, dass keine der

65 Vgl EuGH 14.06.2016 Rs C-308/14, Kommission/Vereinigtes Königreich, ECLI:EU:C:2016:436 (Rz 79). 66 Vgl Windisch-Graetz in Mayer/Stöger (Hrsg), EUV/AEUV (2012), Art 48 AEUV, Rz 31.

67 Vgl Fuchs, Die neue Koordinierungsverordnung Nr 883/2004/EG, Jahrbuch Sozialversicherungsrecht 2011, 203 ff

(205).

68 Vgl Felten, Anwendungsbereich und Grundsätze der neuen Sozialrechtskoordinierung in Europa, wbl 2010, 445 ff

(451-452).

69 Vgl Stöger, Unionsrechtliche Aspekte des Anspruchs auf Familienbeihilfe (2016), 28.

70 Vgl Verordnung (EG) 883/2004 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 29. April 2004 zur Koordinierung

(16)

Rechtsvorschriften gilt und somit der Person die Begünstigungen der sozialen Sicherheit entzogen werden.71

4.3 Ermittlung des anzuwendenden Rechts

Welcher nun der eine zuständige Staat ist, regeln die Art 11 bis 16 VO (EG) 883/2004. Anhand dieser Artikel wird der maßgebliche Sachverhalt einem Staat und dessen Rechtssystem zugeordnet. Diese Zuweisung erfolgt für jeden Elternteil separat. Mit dieser getrennten Beurteilung und der Einzelzuständigkeit eines Staates soll vermieden werden, dass es im Rahmen der Ausübung der Arbeitnehmerfreizügigkeit zu einer Doppelbeitragsbelastung einer Person kommen kann. Sollten grundsätzlich die Rechtvorschriften mehrerer Staaten anzuwenden sein, muss eine Prüfung nach den Prioritätsregeln nach Art 67 und 68 erfolgen, mit denen der vorrangig zuständige Staat bestimmt wird. Diese Prioritätsregeln sind ein sehr wesentlicher Bestandteil der VO (EG) 883/2004.72

Trotzdem soll der Wohnmitgliedstaat nicht daran gehindert werden, einer Person nach seinem Recht Familienleistungen zu gewähren, auch wenn prinzipiell ein anderer Staat zuständig ist. Laut EuGH kann dem Wohnmitgliedstaat diese Befugnis nicht abgesprochen werden.73

Die Faustregel bei der Ermittlung des anzuwendenden Rechts gründet sich im Beschäftigungslandprinzip, das in Art 11 Abs 3 VO (EG) 883/2004 normiert ist. Art 12 bis 16 erläutern dazu einige Sonderregelungen und Ausnahmen vom Grundprinzip.74

4.3.1 Beschäftigungslandprinzip

VO (EG) 883/2004 Artikel 11

„….

(3) Vorbehaltlich der Artikel 12 bis 16 gilt Folgendes:

a) eine Person, die in einem Mitgliedstaat eine Beschäftigung oder selbstständige Erwerbstätigkeit ausübt, unterliegt den Rechtsvorschriften dieses Mitgliedstaats;

….“75

71 Vgl EuGH 14.06.2016 Rs C-308/14, Kommission/Vereinigtes Königreich, ECLI:EU:C:2016:436 (Rz 64). 72 Vgl Stöger, Unionsrechtliche Aspekte des Anspruchs auf Familienbeihilfe (2016), 29.

73 Vgl EuGH 20.05.2008 Rs C-352/06, Bosmann/Bundesagentur für Arbeit, ECLI:EU:C:2008:290 (Rz 31). 74 Vgl Stöger, Unionsrechtliche Aspekte des Anspruchs auf Familienbeihilfe (2016), 29.

75 Verordnung (EG) 883/2004 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 29. April 2004 zur Koordinierung der

(17)

Bereits in der VO (EWG) 1408/71 war in Art 13 Abs 2 lit a normiert, dass für einen Arbeitnehmer die Rechtsvorschriften jenes Staates anzuwenden sind, in dem er der Erwerbstätigkeit nachgeht, sohin primär das Beschäftigungslandprinzip greift.76

Die Regelungen der VO (EWG) 1408/71 sind im Vergleich zur neuen VO (EG) 883/2004 großteils gleich geblieben, so auch dieses Vorrangprinzip.77

Im diesem Sinne knüpft Art 11 Abs 3 lit a VO (EG) 883/2004 die Leistungen der sozialen Sicherheit nach Art 3 an den Beschäftigungsort, selbst wenn die Person in einem anderen Mitgliedstaat ihren Wohnsitz hat.78

4.3.1.1 Beschäftigung

Der Begriff der Beschäftigung ist in Art 1 lit a VO (EG) 883/2004 näher definiert. Eine Beschäftigung ist demnach jede, als solche, in einem Mitgliedstaat verrichtete Tätigkeit oder ein gleichrangiger Umstand zum Zwecke der Rechtsvorschriften der sozialen Sicherheit.79

In Art 1 lit a der Verordnung erfolgt somit ein Verweis auf das Sozialrecht jenes Mitgliedstaates, dessen Recht auf den maßgeblichen Sachverhalt zur Anwendung kommt.80

Der OGH hielt in der Entscheidung 10 ObS 117/14z fest, dass bei der Auslegung der Beschäftigungsbegriff nach Art 11 Abs 2 VO (EG) 883/2004 mit zu beachten ist.81

Bezieht eine Person aufgrund einer Beschäftigung eine Geldleistung, so gilt die Annahme, dass diese Beschäftigung oder Tätigkeit von ihr ausgeübt wird. Art 11 Abs 2 fingiert somit eine Beschäftigung bei Vorliegen gewisser Umstände, was kurzfristige Zuständigkeitsänderungen bei temporärer Erwerbslosigkeit oder zeitweiligem Auskommen durch Leistungen der sozialen Sicherheit vermeiden soll.

Darüber hinaus findet sich im Beschluss Nr F1 der Verwaltungskommission vom 12.06.2009 zur Auslegung des Art 68 der VO (EG) 883/2004 eine weitere Definition. Strittig ist, ob diese nur für Art 68 von Bedeutung oder ob diese Begriffsbestimmung auch bei der Anwendung der Art 11 ff zu beachten ist.

Die Klärung des Verhältnisses zwischen den Definitionen bleibt insoweit offen, jedoch verweisen beide auf das Sozialrecht des Mitgliedstaates, das für den betreffenden Sachverhalt zum Tragen kommt. Zentral ist daher die nationale Begriffsbestimmung der Beschäftigung.82

76 Vgl Felten/Neumayr, Wanderarbeitnehmerverordnung und Unterhaltsvorschuss, Gemeinschaftsrechtliche

Auswirkungen auf die österreichische Rechtslage, iFamZ 2009, 362 ff (371).

77 Vgl Fuchs, Die neue Koordinierungsverordnung Nr 883/2004/EG, Jahrbuch Sozialversicherungsrecht 2011, 203 ff

(207).

78 Vgl Bundesministerium für Familien und Jugend, Anspruchsvoraussetzungen für die Familienbeihilfe der Eltern,

https://www.bmfj.gv.at/familie/finanzielle-unterstuetzungen/familienbeihilfe0/anspruchsvoraussetzung.html (abgefragt am 10.08.2017).

79 Vgl Verordnung (EG) 883/2004 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 29. April 2004 zur Koordinierung

der Systeme der sozialen Sicherheit, ABl L 2004/166, 1.

80 Vgl OGH 24.03.2015, 10 ObS 117/14z.

81 Vgl Felten, Arbeit und Soziales, in: Herzig (Hrsg), Jahrbuch Europarecht (2016), 139 ff (149). 82 Vgl OGH 24.03.2015, 10 ObS 117/14z.

(18)

4.3.1.2 Selbstständige Tätigkeit

Art 1 lit b VO (EG) 883/2004 normiert den Begriff der selbstständigen Erwerbstätigkeit. Die Definition ist ident mit jener nach lit a bezüglich der Beschäftigung.83

Demnach gelten dieselben Grundsätze und es wird auch hier auf die nationalen Rechtsvorschriften abgestellt. Alle Personen, die einer selbstständigen Tätigkeit in der Land- und Forstwirtschaft, als Gewerbetreibender, als „neuer Selbstständiger“, als Freiberufler oder als freiberuflicher Künstler nachgehen, sind nach nationaler Rechtslage selbstständig erwerbstätig. Kriterium ist hierbei, dass die besagte Tätigkeit tatsächlich ausgeübt wird. Aber auch in diesem Fall kommt es zu der unter 4.3.1.1 genannten Fiktion zur Überbrückung kurzer Unterbrechungen.

Die Differenzierung zwischen Beschäftigung und selbstständiger Tätigkeit ist in Summe nur relevant, wenn eine Person in mehreren Mitgliedstaaten erwerbstätig ist, um festzustellen, welche Rechtsvorschriften zur Anwendung gelangen.84

4.3.2 Subsidiäre Zuständigkeit des Wohnmitgliedstaates

Nach Art 11 Abs 3 lit e VO (EG) 883/2004 gelten für eine Person, die nicht unter die Buchstaben a bis d fällt, die Rechtsvorschriften des Wohnmitgliedstaates. Dies ist praktisch dann der Fall, wenn ein Beschäftigungsverhältnis oder ein anderes in Abs 3 genanntes Verhältnis, welches zur Anwendung einer bestimmten Rechtsordnung geführt hat, nicht mehr besteht. Kommt durch etwaige Kollisionsregeln keine andere Rechtsordnung zum Tragen, gilt subsidiär das Wohnlandprinzip.85

Art 1 lit j definiert den Wohnort als gewöhnlichen Aufenthaltsort einer Person.86 Der Wohnort von

jemandem richtet sich nach dessen Lebensmittelpunkt. Er ist sowohl von objektiven als auch von subjektiven Aspekten abhängig und bestimmt sich durch den Willen sowie der persönlichen Lage der betreffenden Person.87 Anhaltspunkte sind etwa der Familienaufenthaltsort und wo

sich der Hauptteil des Soziallebens abspielt, wobei hier alle Komponenten in ihrer Gesamtheit zu betrachten sind. Es können aber laut EU-Recht nicht zeitgleich diverse Wohnsitze in unterschiedlichen Mitgliedstaaten bestehen.88

Darüber hinaus enthält Art 11 DVO (EG) 987/2009 Vorschriften zur Bestimmung des Wohnortes im Falle von Meinungsverschiedenheiten zwischen den Mitgliedstaaten. Danach soll im Zuge einer Gesamtbewertung aller Aussagen und Tatsachen einvernehmlich der Mittelpunkt der Interessen der Person festgestellt werden. Maßgeblich sind dabei Dauer und Kontinuität des Verbleibs im Mitgliedstaat sowie die Lebensumstände desjenigen, insbesondere die familiäre Situation, Erwerbstätigkeiten, die Wohnverhältnisse und steuerliche Aspekte. Kommt es

83 Vgl Verordnung (EG) 883/2004 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 29. April 2004 zur Koordinierung

der Systeme der sozialen Sicherheit, ABl L 2004/166, 1.

84 Vgl Stöger, Unionsrechtliche Aspekte des Anspruchs auf Familienbeihilfe (2016), 35-36. 85 Vgl Steinmeyer in Fuchs (Hrsg), Europäisches Sozialrecht7 (2018), Art 11, Rz 32-33.

86 Vgl Verordnung (EG) 883/2004 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 29. April 2004 zur Koordinierung

der Systeme der sozialen Sicherheit, ABl L 2004/166, 1.

87 Vgl Kahil-Wolf in Fuchs (Hrsg), Europäisches Sozialrecht7 (2018), Art 1, Rz 19-20. 88 Vgl Stöger, Unionsrechtliche Aspekte des Anspruchs auf Familienbeihilfe (2016), 58.

(19)

trotzdem zu keiner Einigung, ist der sich unter Einbeziehung aller Umstände ergebende Wille der diesbezüglichen Person entscheidend.89

4.3.3 Entsendung

Vom Beschäftigungslandprinzip gibt es zwei grundsätzliche Ausnahmen, eine davon ist die Entsendung gem Art 12 VO (EG) 883/2004.90

Eine Entsendung liegt vor, wenn ein Arbeitnehmer von seinem Arbeitgeber für maximal 24 Monate in einen anderen Mitgliedstaat entsandt wird, um dort auf Rechnung des Arbeitgebers eine Beschäftigung auszuüben. Voraussetzung ist gem Art 14 Abs 2 DVO (EG) 987/2009, dass das entsendende Unternehmen im Sitzstaat nicht nur reine interne Verwaltungsaufgaben wahrnimmt, sondern nennenswerte Tätigkeiten, die das Unternehmen kennzeichnen, verrichtet. Damit soll ein Niederlassen der Unternehmen in Staaten mit geringem sozialen Schutz und Entsendung in Staaten mit höherem Schutz unterbunden werden. Für die Dauer der Entsendung sind weiterhin die Rechtsvorschriften des Entsendestaates anzuwenden.91

In Art 14 Abs 1 DVO (EG) 987/2009 wurde ein früher strittiger Sachverhalt geklärt, nämlich, ob eine Einstellung in Hinblick auf die Entsendung den Tatbestand des Art 12 VO (EG) 883/2004 erfüllt. Art 14 Abs 1 stellt nun explizit klar, dass auch hier der Tatbestand erfüllt ist, allerdings muss der besagte Arbeitnehmer bereits vor Beginn der Beschäftigung der Rechtsordnung jenes Mitgliedstaates unterliegen, wo das einstellende Unternehmen seinen Sitz hat.

Analog zur Bestimmung für Arbeitnehmer gibt es dazu eine Regelung für selbstständig Erwerbstätige in Art 12 Abs 2 VO (EG) 883/2004. Voraussetzung ist hiebei nach Art 14 Abs 3 DVO (EG) 987/2009, dass die betreffende Person ihre Tätigkeit bereits eine Zeit lang im ansässigen Mitgliedstaat praktiziert hat und während ihres zeitweiligen Aufenthalts im anderen Mitgliedstaat weiterhin den Tätigkeitsanforderungen in ersterem entspricht, um bei ihrer Rückkehr die Tätigkeit fortführen zu können.92

4.3.4 Ausübung von Tätigkeiten in zwei oder mehr Mitgliedstaaten

Eine weitere Ausnahme vom Beschäftigungslandprinzip ist die Ausübung von Tätigkeiten in zwei oder mehr Mitgliedstaaten, welche in den Art 13 VO (EG) 883/2004 und Art 14 DVO (EG) 987/2009 geregelt ist.93

Liegen mehrere Beschäftigungsverhältnisse vor, muss bei der Ermittlung der Zuständigkeit die vollständige Berufstätigkeit betrachtet werden. Auch hier sind immer nur die Rechtsvorschriften

89 Vgl Verordnung (EG) 987/2009 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 16. September 2009 zur

Festlegung der Modalitäten für die Durchführung der Verordnung (EG) 883/2004 über die Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit, ABl L 2009/284, 1.

90 Vgl Fuchs, Die neue Koordinierungsverordnung Nr 883/2004/EG, Jahrbuch Sozialversicherungsrecht 2011, 203 ff

(207).

91 Vgl Windisch-Graetz in Mayer/Stöger (Hrsg), EUV/AEUV (2012), Art 48 AEUV, Rz 40.

92 Vgl Fuchs, Die neue Koordinierungsverordnung Nr 883/2004/EG, Jahrbuch Sozialversicherungsrecht 2011, 203 ff

(208).

93 Vgl Fuchs, Die neue Koordinierungsverordnung Nr 883/2004/EG, Jahrbuch Sozialversicherungsrecht 2011, 203 ff

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eines Mitgliedstaates anzuwenden. Zu diesem Zweck wird gem Art 13 Abs 5 VO (EG) 883/2004 unterstellt, dass die betreffende Person ihre Beschäftigung oder selbstständige Erwerbstätigkeit in diesem einen Mitgliedstaat ausübt und dort sämtliche Einkünfte erzielt.94

Bei der Ausübung von Tätigkeiten in zwei oder mehr Mitgliedstaaten gibt es verschiedene Erscheinungsformen, die nachfolgend näher erläutert werden.

4.3.4.1 Mehrere Beschäftigungen in verschiedenen Mitgliedstaaten

Art 13 Abs 1 VO (EG) 883/2004 regelt die Situation für Personen, die einer Beschäftigung in zwei oder mehr Mitgliedstaaten nachgehen.95 In Art 14 Abs 5 DVO (EG) 987/2009 wird näher

definiert, was darunter genau zu verstehen ist. Ein Fall des Art 13 Abs 1 liegt vor, wenn eine Person für ein Unternehmen oder einen Arbeitgeber oder für unterschiedliche Unternehmen oder Arbeitgeber, parallel oder alternierend eine oder mehrere separate Tätigkeiten in zwei oder mehr Mitgliedstaaten verrichtet. Belanglose Betätigungen werden dabei gem Art 14 Abs 5b DVO (EG) 987/2009 vom Anwendungsbereich ausgenommen.96

Sollte der Beschäftigte zu einem wesentlichen Teil in seinem Wohnmitgliedstaat tätig sein, kommen gem Art 13 Abs 1 lit a die Rechtsvorschriften des Wohnmitgliedstaates zur Anwendung.97

Art 14 Abs 8 DVO (EG) 987/2009 bestimmt näher was unter einem „wesentlichen Teil der Beschäftigung“ zu verstehen ist. Gemeint ist damit die Ausübung eines quantitativ erheblichen Teils, der aber nicht der größte Teil der Tätigkeit sein muss. Indizien sind dafür bei der Beschäftigung etwa die Arbeitszeit und das Arbeitsentgelt und bei der selbstständigen Erwerbstätigkeit der Umsatz, die Arbeitszeit, die Anzahl der erbrachten Dienstleistungen und das Einkommen. Machen diese Kriterien weniger als 25 % vom Gesamten aus, spricht dies dafür, dass ein wesentlicher Teil nicht im betreffenden Mitgliedstaat verrichtet wird.98

Übt er keinen wesentlichen Teil seiner Tätigkeiten im Wohnmitgliedstaat aus, gibt es vier mögliche Konstellationen, die in Art 13 Abs 1 lit b sublit i bis iv angeführt sind.

Ist er bei einem Unternehmen oder einem Arbeitgeber erwerbstätig, unterliegt er den Rechtsvorschriften des Mitgliedstaates, in dem der Sitz oder Wohnsitz des Unternehmens bzw des Arbeitgebers ist.

Liegt eine Beschäftigung bei zwei oder mehr Unternehmen oder Arbeitgebern vor, die ihren Sitz oder Wohnsitz in lediglich einem Mitgliedstaat haben, so gelten die Rechtsvorschriften dieses Mitgliedstaates.

94 Vgl Stöger, Unionsrechtliche Aspekte des Anspruchs auf Familienbeihilfe (2016), 40.

95 Vgl Verordnung (EG) 883/2004 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 29. April 2004 zur Koordinierung

der Systeme der sozialen Sicherheit, ABl L 2004/166, 1.

96 Vgl Verordnung (EG) 987/2009 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 16. September 2009 zur

Festlegung der Modalitäten für die Durchführung der Verordnung (EG) 883/2004 über die Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit, ABl L 2009/284, 1.

97 Vgl Verordnung (EG) 883/2004 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 29. April 2004 zur Koordinierung

der Systeme der sozialen Sicherheit, ABl L 2004/166, 1.

98 Vgl Verordnung (EG) 987/2009 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 16. September 2009 zur

Festlegung der Modalitäten für die Durchführung der Verordnung (EG) 883/2004 über die Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit, ABl L 2009/284, 1.

(21)

Hat das Unternehmen oder der Arbeitgeber außerhalb des Wohnmitgliedstaates seinen Sitz oder Wohnsitz und ist er bei zwei oder mehr Unternehmen oder Arbeitgebern tätig, die ihre Sitze und Wohnsitze in zwei Mitgliedstaaten haben, wobei einer davon der Wohnmitgliedstaat ist, kommen die Rechtsvorschiften des vom Wohnmitgliedstaat konträren Mitgliedstaates, wo sich der Sitz bzw Wohnsitz befindet, zur Anwendung.

Arbeitet er bei zwei oder mehr Unternehmen oder Arbeitgebern und haben mindestens zwei von denen ihren Sitz oder Wohnsitz in verschiedenen Mitgliedstaaten, bei denen es sich nicht um den Wohnmitgliedstaat handelt, setzen sich wiederum die Rechtsvorschriften des Wohnmitgliedstaates durch.99

4.3.4.2 Mehrere selbstständige Erwerbstätigkeiten in verschiedenen Mitgliedstaaten

Das Pendant dazu bildet die Regelung für die selbstständige Erwerbstätigkeit in zwei oder mehr Mitgliedstaaten in Art 13 Abs 2 VO (EG) 883/2004.

Gesetzt den Fall, dass die selbstständig erwerbstätige Person einen wesentlichen Teil ihrer Tätigkeit im Wohnmitgliedstaat ausübt, gelten gem lit a die Rechtsvorschriften dieses Mitgliedstaates.

Wohnt diese Person nicht in einem der Mitgliedstaaten, in denen sie einen maßgeblichen Teil ihrer Tätigkeit verrichtet, sind gem lit b die Rechtsvorschriften jenes Mitgliedstaates anzuwenden, in dem der Mittelpunkt ihrer Tätigkeit liegt.

In Art 14 Abs 9 DVO (EG) 987/2009 werden dazu die Merkmale der beruflichen Tätigkeit angeführt, die zur Bestimmung des Mittelpunktes dienen. Zu diesen Merkmalen zählen unter anderem der Ort, der dauerhaften Niederlassung, von dem aus das Handeln erfolgt, sowie die Art und Dauer der Tätigkeiten, das Quantum an erbrachten Dienstleistungen und der umfassende Wille der Person.

Im Bereich der Art 13 Abs 1 und 2 VO (EG) 883/2004 kann es zu Problemen bei der Abgrenzung mit dem Entsendetatbestand des Art 12 kommen. Art 14 Abs 7 DVO (EG) 987/2009 zufolge wird hier anhand der Dauer der Tätigkeit in einem oder mehreren Mitgliedstaaten unterschieden. Grundlage dafür ist eine Gesamtbewertung aller essentiellen Umstände, unter anderem bei Arbeitnehmern, der im Arbeitsvertrag definierte Arbeitsort.100

4.3.4.3 Beschäftigung und selbstständige Erwerbstätigkeit in verschiedenen Mitgliedstaaten

Art 13 Abs 3 VO (EG) 883/2004 regelt die Zuständigkeit für den Umstand, dass eine Person in unterschiedlichen Mitgliedstaaten sowohl einer Beschäftigung als auch einer selbstständigen Erwerbstätigkeit nachgeht. Bei dieser Fallkonstellation gelten primär die Rechtsvorschriften des Beschäftigungsmitgliedstaates. Liegt eine Tätigkeit in zwei oder mehr Mitgliedstaaten vor, ist nach Abs 1 vorzugehen.101

99 Vgl Verordnung (EG) 883/2004 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 29. April 2004 zur Koordinierung

der Systeme der sozialen Sicherheit, ABl L 2004/166, 1.

100 Vgl Fuchs, Die neue Koordinierungsverordnung Nr 883/2004/EG, Jahrbuch Sozialversicherungsrecht 2011, 203 ff

(209).

101 Vgl Fuchs, Die neue Koordinierungsverordnung Nr 883/2004/EG, Jahrbuch Sozialversicherungsrecht 2011, 203 ff

(22)

4.4 Prioritätsregeln

Zwei wichtige Grundsätze der VO (EG) 883/2004 sind die bereits unter Punkt 4.2 näher erläuterten Prinzipien der Einheitlichkeit und jenes der Koordinierung.

Das System der Koordinierung ist weitreichend bestimmt durch den Art 67 S 1 VO (EG) 883/2004.102

VO (EG) 883/2004 Artikel 67

„Eine Person hat auch für Familienangehörige, die in einem anderen Mitgliedstaat wohnen, Anspruch auf Familienleistungen nach den Rechtsvorschriften des zuständigen Mitgliedstaates, als ob die Familienangehörigen in diesem Mitgliedstaat wohnen würden. …“103

Art 67 ist die zentrale Bestimmung bezüglich Ansprüche auf Familienleistungen im Zusammenhang mit grenzüberschreitenden Sachverhalten und normiert die Exportpflicht der Familienbeihilfe.104 Sie gewährleistet die Gleichstellung zwischen Familienangehörigen im

zuständigen Mitgliedstaat und jenen, die sich in einem anderen Mitgliedstaat aufhalten und trägt somit auch wesentlich zum Gleichbehandlungsgebot bei. Art 67 bildet eine wichtige Grundlage für die Zuständigkeitsermittlung.

Im Sinne der Einheitlichkeit soll nur ein Mitgliedstaat für zuständig erklärt werden, um eine Kumulierung verschiedener Rechtsordnungen und die damit verbundenen Schwierigkeiten zu umgehen.105 Sollten beide Elternteile in den Anwendungsbereich unterschiedlicher

Mitgliedstaaten fallen, wird mittels der Prioritätsregeln in Art 67 und 68 VO (EG) 883/2004 ermittelt, welcher Mitgliedstaat vorrangig und welcher nachrangig zuständig ist, wenn zur selben Zeit für den gleichen Familienangehörigen Leistungen zustehen.106

Der primär Verpflichtete hat nach seinen Rechtsvorschriften die Familienbeihilfe in voller Höhe zu zahlen, der Zweitrangige nur einen Unterschiedsbetrag.

Art 68 Abs 1 VO (EG) 883/2004 legt die Rangfolge bei der Zuständigkeit fest und differenziert zwischen Leistungen mehrerer Mitgliedstaaten aus unterschiedlichen oder aus denselben Gründen.107

102 Vgl Vießmann/Merkel, Die europarechtliche Koordinierung von Familienleistungen nach der Verordnung (EG)

Nr 883/2004, NZS 2012, 572 ff (575).

103 Verordnung (EG) 883/2004 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 29. April 2004 zur Koordinierung

der Systeme der sozialen Sicherheit, ABl L 2004/166, 1.

104 Vgl Stöger, Unionsrechtliche Aspekte des Anspruchs auf Familienbeihilfe (2016), 47. 105 Vgl BFG 01.02.2017, RV/7104470/2015.

106 Vgl Csaszar in Csazsar/Lenneis/Wanke (Hrsg), FLAG (2011), § 53, Rz 46.

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4.4.1 Familienleistungen von mehreren Mitgliedstaaten aus unterschiedlichen Gründen

Sind die Familienleistungen in mehreren Mitgliedstaaten aus unterschiedlichen Gründen zu erstatten, ergibt sich in Art 68 Abs 1 lit a VO (EG) 883/2004 nachstehende Hierarchie:

 Primär gelten jene Ansprüche, die sich aus einer Beschäftigung oder selbstständigen Erwerbstätigkeit ergeben,

 sekundär diejenigen, die aus dem Bezug einer Rente resultieren und  tertiär die, die durch den Wohnort ausgelöst werden.108

Der Anspruch auf Export von den Familienleistungen basiert in den ersten beiden Fällen auf einem wirtschaftlich aktiven Unionsbürger, das heißt ungeachtet der Neuformulierung des Art 2 VO (EG) 883/2004 ist die wirtschaftliche Aktivität noch immer von Relevanz.109

Auch wenn das nationale Recht hier bei der Zuständigkeitsprüfung überdies einen Wohnsitz als Anspruchsvoraussetzung festlegt, bleiben die oben genannten Gründe vorrangiges Prüfungskriterium.110

4.4.2 Familienleistungen von mehreren Mitgliedstaaten aus denselben Gründen

Bei Familienleistungen von mehreren Mitgliedstaaten aus denselben Gründen gilt gem Art 68 Abs 1 lit b VO (EG) 883/2004 nachfolgende Randordnung:

 Bei konkurrierenden Ansprüchen aufgrund von Beschäftigungen oder selbstständigen Erwerbstätigkeiten ist gem sublit i der Wohnort der Kinder entscheidend, vorausgesetzt es wird dort so eine Tätigkeit ausgeübt, ansonsten der Staat, der die höchste Leistung zubilligt.

 Der Wohnort der Kinder ist gem sublit ii ebenfalls vorrangiger Anknüpfungspunkt bei Ansprüchen durch Rentenbezüge, wenn die Rente nach den Rechtsvorschriften des Wohnortes geschuldet wird. Alternativ ist die längste Dauer der zurückgelegten Versicherungs- und Wohnzeiten ausschlaggebend.

 Werden mehrere Ansprüche durch den Wohnort impliziert, ist gem sublit iii der Wohnort der Kinder maßgeblich.111

Kann anhand des Wohnortes der Kinder im Falle von sublit i und ii keine Reihung vorgenommen werden, kalkuliert gem Art 58 DVO (EG) 987/2009 jeder Mitgliedstaat für sich den zu zahlenden Betrag unter Berücksichtigung der Kinder außerhalb seines Territoriums. Kommt sublit i zur Anwendung, leistet jener Mitgliedstaat die Familienunterstützung, der den höchsten Betrag vorsieht, während der andere Mitgliedstaat die Hälfte davon rückvergütet, wobei der Höchstbetrag des nachrangig zuständigen Mitgliedstaates die Obergrenze bildet.112

108 Vgl Vießmann/Merkel, Die europarechtliche Koordinierung von Familienleistungen nach der Verordnung (EG)

Nr 883/2004, NZS 2012, 572 ff (577).

109 Vgl Felten, Anwendungsbereich und Grundsätze der neuen Sozialrechtskoordinierung in Europa, wbl 2010, 445 ff

(447).

110 Vgl Vießmann/Merkel, Die europarechtliche Koordinierung von Familienleistungen nach der Verordnung (EG)

Nr 883/2004, NZS 2012, 572 ff (577).

111 Vgl Vießmann/Merkel, Die europarechtliche Koordinierung von Familienleistungen nach der Verordnung (EG)

Nr 883/2004, NZS 2012, 572 ff (577).

112 Vgl Verordnung (EG) 987/2009 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 16. September 2009 zur

Festlegung der Modalitäten für die Durchführung der Verordnung (EG) 883/2004 über die Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit, ABl L 2009/284, 1.

(24)

Mit Beschluss F1 vom 12.06.2009 zur Auslegung des Art 68 präzisierte die Verwaltungskommission was bei den Familienleistungsansprüche als „durch eine Beschäftigung oder eine selbstständige Erwerbstätigkeit ausgelöst“ zu verstehen ist.

Demzufolge sind dies solche, die durch eine tatsächliche Beschäftigung oder selbstständige Erwerbstätigkeit, während zwischenzeitigen Unterbrechungen derselben, wegen Krankheit, Mutterschaft, Arbeitsunfall oder Arbeitslosigkeit, wenn noch Arbeitsentgelt oder andere Unterstützungen gezahlt werden, durch bezahlten Urlaub, Streik oder Aussperrung oder unbezahlter Urlaub zwecks Kindererziehung, erlangt wurden, wenn dieser mit einer Beschäftigung oder selbstständigen Erwerbstätigkeit gleichauf ist.113

Der Beschluss erging auf Grundlage des Urteils des EuGH vom 07.06.2005, Rs C-543/03, Dodl und Oberhollenzer.114

4.5 Antikumulierung / Ausgleichszahlung

Treffen mehrere Ansprüche auf Familienleistungen aufeinander, sind diese gem Art 68 Abs 2 VO (EG) 883/2004 primär nach Abs 1 zu erfüllen. Ansprüche, die sich aus nachrangigen Rechtsordnungen ergeben, werden bis zur Höhe des in erster Linie zuständigen Mitgliedstaates ausgesetzt. Sollte dieser Betrag höher sein, ist gegebenenfalls der Differenzbetrag zu erstatten.115 Eine solche Differenzzahlung muss der nachrangige Staat nur

leisten, wenn die Verantwortlichkeit auf einer Erwerbstätigkeit oder einem Rentenbezug basiert.116 Wird der Anspruch lediglich durch den Wohnort bedingt, muss ein solcher Ausgleich

nicht für Kinder gezahlt werden, wenn diese in einem anderen Mitgliedstaat wohnen.117

Der vorrangig verantwortliche Mitgliedstaat hat also den Familienleistungsanspruch im Sinne seiner Rechtsvorschriften zur Gänze zu erfüllen, während für alle nachrangigen Mitgliedstaaten im Hinblick auf die Ansprüche ein europarechtlicher Dispens wirksam wird, was eine Kumulierung derselben abwenden soll. Die untergeordneten Ansprüche bleiben im Endeffekt zwar aufrecht, können aber nicht beansprucht werden.

Indem der nachrangige Mitgliedstaat gegebenenfalls einen Differenzbetrag leisten muss, wird trotz der grundsätzlichen Leistungsaussetzung gegenüber dem vorrangigen, ein Alles-oder-Nichts-Prinzip bei der Leistungspflicht ausgeschlossen.118

Ziel des Unionsrechts ist es, den Maximalbetrag zu lukrieren.119

Ein Unterschiedsbetrag im Sinne des Art 68 Abs 2 ist also nur dann zu bezahlen, wenn ein Elternteil einen Anspruch auf Familienleistungen seitens des Beschäftigungslandes hat und

113 Vgl Csaszar in Csazsar/Lenneis/Wanke (Hrsg), FLAG (2011), § 53, Rz 184.

114 Vgl Utz in Rolfs/Giesen/Kreikebohm/Udsching (Hrsg), BeckOK Sozialrecht47 (2017), VO (EG) 883/2004 Art 68,

Rn 2 (Stand 01.12.2017, beck-online.beck.de).

115 Vgl Verordnung (EG) 883/2004 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 29. April 2004 zur

Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit, ABl L 2004/166, 1.

116 Vgl Stöger, Unionsrechtliche Aspekte des Anspruchs auf Familienbeihilfe (2016), 49.

117 Vgl Verordnung (EG) 883/2004 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 29. April 2004 zur

Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit, ABl L 2004/166, 1.

118 Vgl Vießmann/Merkel, Die europarechtliche Koordinierung von Familienleistungen nach der Verordnung (EG)

Nr 883/2004, NZS 2012, 572 ff (576-578).

(25)

zugleich dem anderen Elternteil für ebendieses Kind gegenüber dem Wohnstaat ein Anrecht auf eine entsprechende Leistung zukommt.120

Ermittelt wird der zu zahlende Betrag, indem innerhalb einer bestimmten Zeitspanne die Summe an gebührenden ausländischen Beihilfen mit dem inländischen Betrag an Familienleistungen verglichen wird.121

Csaszar vertritt im FLAG-Kommentar die Meinung, dass im Sinne des Gesetzeswortlaut in

Art 68 Abs 2 bei dem „nach den vorrangig geltenden Rechtsvorschriften vorgesehenen Betrags“ auch solche Posten für Familienleistungen zu berücksichtigen sind, die grundsätzlich nicht geltend gemacht wurden oder aufgrund von Verjährung eine Geltendmachung nicht mehr möglich ist.122

Zur Vorgängerverordnung (EWG) 1408/71 entschied der EuGH hinsichtlich des darin enthaltenen Art 76 Abs 2, dass dieser dem Beschäftigungsmitgliedstaat ermöglicht in seiner Rechtsordnung ein Ruhen des Familienleistungsanspruches festzulegen, sollte im Wohnmitgliedstaat keine Antragstellung für einen solchen Anspruch erfolgt sein.

Dies gilt weiterhin für Art 68 Abs 2 VO (EG) 883/2004.123

Besteht jedoch kein Anspruch, so muss im anderen Mitgliedstaat auch kein Ansuchen eingereicht werden.124

4.6 Verfahren bei der Anwendung der Art 67 und 68 der Grundverordnung

Die Antragstellung auf Gewährung von Familienleistungen hat beim zuständigen Träger zu erfolgen.125 In Österreich wäre dies das Finanzamt.126

Bei der Anspruchsprüfung ist nicht ausschlaggebend welcher Familienangehörige den Antrag gestellt hat, sondern ist gem Art 60 Abs 1 DVO (EG) 987/2009 grundsätzlich die Familiensituation so zu betrachten, als würden alle umfassten Personen dem rechtlichen Anwendungsbereich des betreffenden Mitgliedstaates angehören und in jenem Staat wohnhaft sein.

Art 68 Abs 3 VO (EG) 883/2004 und Art 60 Abs 2 und 3 DVO (EG) 987/2009 definieren die sukzessive Vorgangsweise bei der Anspruchsprüfung.

Sobald der Antrag beim zuständigen Träger einlangt, wird er unter Zugrundelegung der umfassenden Ausführungen seitens des Antragstellers einer genauen Kontrolle unterzogen, unter Berücksichtigung aller die Familiensituation betreffenden Fakten und gesetzmäßigen Gegebenheiten.

Hat die Prüfung die vorrangige Zuständigkeit im Sinne des Art 68 Abs 1 und 2 VO (EG) 883/2004 zum Ergebnis, hat der Träger die nach seinem Recht geschuldete Familienleistung zu gewähren.

120 Vgl Csaszar in Csazsar/Lenneis/Wanke (Hrsg), FLAG (2011), § 53, Rz 194. 121 Vgl Aigner/Lenneis in Csazsar/Lenneis/Wanke (Hrsg), FLAG (2011), § 4, Rz 11. 122 Vgl Csaszar in Csazsar/Lenneis/Wanke (Hrsg), FLAG (2011), § 53, Rz 195. 123 Vgl BFG 13.02.2015, RV/7103505/2014.

124 Vgl Stöger, Unionsrechtliche Aspekte des Anspruchs auf Familienbeihilfe (2016), 46-48.

125 Vgl Verordnung (EG) 987/2009 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 16. September 2009 zur

Festlegung der Modalitäten für die Durchführung der Verordnung (EG) 883/2004 über die Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit, ABl L 2009/284, 1.

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