station“, erklärt Kemmer. Sie gleicht ei- ner Abschiebestation für Sterbende.
Die medizinische Betreuung beschränkt sich auf das Minimale. Jeden Tag liegen andere in den Betten. Die Toten werden in der Nacht fortgeschafft. Schlimmer kann Kinderelend kaum sein.
Kemmers Orthopädiestation in der zweiten Etage ist halbwegs sauber. Die Kinder haben ordentliche Decken, kei- ne Lumpen als Zudecke. Viele der klei- nen Patienten haben ein Bein oder ei- nen Arm in Gips. „Osteomyelitis“, klärt Kemmer auf. „Das gibt es hier zu- hauf. Eine Folge mangelnder Ernährung und schlechter Hygiene.“
Im hinteren Zimmer befinden sich drei Jungen und drei Mädchen im Alter zwi- schen fünf und zehn Jahren, die mittler- weile in deutschen Kliniken kostenfrei behandelt werden.
Marufa, das Mädchen im roten Kleid, wartet schon lange auf ihre Aus- reise. Ihre Oma sitzt seit Wochen an ihrem Bett, wischt ihr den Schweiß aus der Stirn, spricht ihr Mut zu. Die 14- Jährige leidet unter einem Neurofi- brom. Marufas Atem geht schwer. Der Tumor hat bereits den gesamten linken Lungenflügel erfasst. Aus der linken Schulter quillt eine faustgroße Schwel- lung, die auf die Atemwege drückt.
Kemmer ruft nach Sauerstoff.
Dr. Willy, wie ihn die Kinder nennen, streicht Marufa über die Wange, ver- sucht, sie zu beruhigen. „Wir können ihr hier nicht helfen“, sagt er. „Ich habe versucht, in Deutschland eine Klinik zu finden, die sie umsonst operiert. Aber die wollte es bezahlt haben.“ Geld ha- ben die Eltern nicht, nicht für den Flug und schon gar nicht für die Operation.
Die Familie stammt aus Khairkhana,
gut hundert Kilometer südlich von Ka- bul. Der Vater ist arbeitslos. Er teilt das Schicksal von Millionen von Afghanen, die der Krieg um ihren Arbeitsplatz be- raubt hat. Nur einige wenige im Süden des Landes haben im grenznahen Paki- stan einen Job gefunden. Marufa hat noch sechs Schwestern und vier Brüder.
Die Hoffnung ruht jetzt auf Prof. Sei- denberg und dem Team der Städtischen Kinderklinik in Oldenburg, die sich um medizinische Hilfe für das Mädchen bemühen. Regelmäßig lässt das Ham- mer Forum Kinder ausfliegen, sind deutsche Krankenhäuser bereit, diese Kinder kostenlos zu behandeln. Inzwi- schen haben deutsche Ärzte erste Spen- den gesammelt.
Unter denen, die ausgeflogen wur- den, ist Palwasha. Die Fünfjährige aus einem Dorf 700 Kilometer südöstlich von Kabul wurde Opfer eines amerika- nischen Bombenangriffs. Bombensplit- ter haben sich in ihren Rücken in un- mittelbarer Nähe der Halswirbelsäule gebohrt, sie ist gelähmt. Das Mädchen wurde inzwischen an einer Saarbrücker Klinik operiert und ist auf dem Wege der Besserung.
Palwashas Eltern arbeiten in Pakistan, verdienen dort den spärlichen Unterhalt für die Großfamilie. Arbeit gibt es in Afghanistan so gut wie keine. Die verbliebenen Industrieanlagen sind zer- bombt. Manche versuchen sich als Schuhputzer, andere als Straßenhändler oder Die- selverkäufer mit Kanistern an den Straßen. Tankstellen gibt es nicht.
Die Bomben haben Pal- washas Dorf in Schutt und Asche gelegt. Das Mädchen lag im Bett, als die Bomben- splitter sie trafen. Die Groß- mutter fand sie dort blut- überströmt. Durch das anhal- tende Bombardement traute sie sich nicht aus dem Haus.
Sie versuchte, das schreiende Kind zu beruhigen, verband den Rücken notdürftig mit Tüchern und wartete bis zum Morgengrauen. Erst als es still geworden war, holte sie Hilfe. Auf einem Karren brachte sie Palwasha in die Kilometer entfernte Ambulanz Rashni. Dort blieb sie mit dem Kind, bis es transportfähig war. Dann wurde Palwasha ins 700 Ki- lometer entfernte Kinderkrankenhaus nach Kabul gefahren.
Ein Wettlauf mit der Zeit
Die Kinder aus Kabul herauszubringen ist ein Hürdenlauf und ein Wettlauf mit der Zeit. Einen Flug von Kabul direkt nach Deutschland gibt es nicht. Zwar pendelt die UN täglich zwischen Kabul und Islamabad. Doch der Flieger bleibt Diplomaten vorbehalten. Nur wenn Plätze frei sind, können andere Passa- giere gegen Zahlung von 600 US-Dollar mitfliegen. Wegen des schwer kalkulier- baren Risikos scheut Willy Kemmer den Landweg über den Khaiberpass nach Peshawar. Erst vor kurzem haben pakistanische Grenzer einen Konvoi wegen fehlender Visa zurückgeschickt.
Ein Drama für Ärzte und Kinder.
Ahmad, acht Jahre alt aus Nasrtulla, hat lange mit den anderen ausharren müssen. Humayon, der gute Geist im T H E M E N D E R Z E I T
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A1352 Deutsches ÄrzteblattJg. 99Heft 2017. Mai 2002
Spendenaufruf
In der medizinischen Versorgung fehlt es an al- lem. Besonders dringlich sind Medikamente zur Wurmbekämpfung, zur Behandlung von Haut- ekzemen sowie Antibiotika. Benötigt werden Gel- der zum Kauf von chirurgischen Instrumenten, Krankenhausausstattung, Medikamenten und für die Ausbildung verletzter Kinder in Camps des UN-Flüchtlingshilfswerks in Peshawar, Pakistan.
Spendenkonto: Johanniter-Unfall-Hilfe Darm- stadt, Stichwort „Kinderhilfe Afghanistan“, Spar- kasse Darmstadt, BLZ 508 501 50, Konto:
590 444. Weitere Auskünfte erteilt Jo Kanders, Telefon: 0 42 22/94 53 13.
In den Krankenzimmern des Indira-Gandhi-Hospitals in Kabul herrscht drangvolle Enge.