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r. Frank, können Sie ans Telefon kommen – auf Nukunonu ist je- mand vom Hai gebissen worden!“Die Stimme reißt mich aus dem Schlaf.
Morgens um fünf suche ich den Weg über den knirschenden Korallenboden von unserer Hütte zum Lomaloma Hos- pital. Maina, die Nachtschwester, leuch- tet mit der Taschenlampe, denn Strom gibt es erst ab neun Uhr morgens.
Ich bin der Inselarzt auf Atafu, dem nördlichsten der drei Tokelau-Atolle.
Sie bilden einen polynesischen Zwerg- staat mitten in der Südsee. Der Hai hat glücklicherweise nur oberflächlich den Fuß eines Fischers erwischt, sodass es sich um einen kleineren Notfall han- delt. Am Telefon lässt sich bis auf gute Wünsche und Tetanusempfehlung nicht viel machen. In Sachen Wundversor- gung sind die Schwestern der drei Kran- kenhäuser, die oft ohne Arzt auskom- men müssen, Experten. Größere Verlet- zungen sind hier schnell lebensbedroh- lich, denn ohne Wasserflugzeug- oder Hubschrauberverbindung ist Tokelau schwerer zu erreichen als die Antarktis.
Nur alle drei bis vier Wochen erreicht ein Versorgungsschiff nach dreitägiger Fahrt aus Samoa die Inseln.
Touristen, Autos, Straßen, Hunde oder Waffen gibt es hier nicht. Dafür Kokosnüsse, Brotfrucht und Fische in allen Farben und Größen. So abge- schnitten von der restlichen Welt, findet man auf Tokelau eine ursprüngliche po- lynesische Gesellschaft. Erst seit fünf Jahren verfügen die Atolle über Satelli-
tenverbindung und damit über Telefon und E-Mail. Wer auf Luxus verzichten kann, findet ein kleines Paradies vor.
Als Arzt vor Ort hat man bei nur 500 Bewohnern pro Atoll nicht viel zu tun.
Organisatorische Defizite führen dazu, dass ich per Telefon auch für die beiden anderen Atolle Nukunonu und Fakaofo
zuständig bin, obwohl die Finanzen für drei Ärzte vorhanden wären. Eigentlich bin ich Urologe in einer Art „Sabbatical“
und gönne mir den Gegenpol zur 70- Stunden-Woche als Oberarzt in der Kie- ler Universitätsklinik. Idealerweise wird auf Tokelau ein gynäkologischer Allge- meinarzt mit pädiatrischem Schwerpunkt und chirurgischer Erfahrung gebraucht.
Meine Vorbereitung bestand in viel Lek- türe und einem sechswöchigen Einsatz auf den Philippinen mit den „Ärzten für die Dritte Welt“.Auf Samoa erhielt ich in
dem beeindruckend modernen Medcen Hospital vom gynäkologischen Kollegen noch einen Kaiserschnitt-Crashkurs. Der erste Notfall auf Atafu ist eine vier Zenti- meter lange Gräte im Hals eines röcheln- den 150-Kilogramm-Polynesiers. Mit In- tubationszange, Laryngoskop und viel Respekt dafür, was hier ohne Narkosen und Wimpernzucken weggesteckt wird, kann das Corpus Delicti entfernt werden.
Als letzte neuseeländische Kolonie sind die 1 400 Tokelauer im Vergleich zu ihren unabhängigen Nachbarn finanziell gut gestellt. Die Ausstattung der „Klinik“
lässt dennoch zu wünschen übrig. Das Lomaloma-Hospital hat vier Schwe- stern, drei Schwesternhelferinnen, einen OP, viele verrostete Instrumente, zwei in der Regel leere Stationen, einen kaput- ten Autoclaven,aber dafür den schönsten Ausblick, den ein Krankenhaus haben kann. Angesichts von Palmen und Pa- payabäumen ärgert man sich etwas weni- ger, wenn man beim Anschalten des Computers einen Stromschlag bekommt.
Das Labor besteht aus Hb- und Gloco- meter, das nächste Röntgengerät steht auf dem Nachbaratoll, das aber auch nur mit dem Schiff aus Sa- moa alle drei Wochen erreicht werden kann und damit ungefähr so nützlich ist, als wä- re es am Südpol. Prin- zipiell können alle in Neuseeland vorräti- gen Medikamente bestellt werden, eine Inventur der Apo- theke gleicht aber ei- nem pharmazeuti- schen Museumsbe- such. Ernsthafte Dia- gnostik ist in Samoa begrenzt und sonst nur in Neuseeland möglich. Eine Über- weisung dorthin ist aber aufgrund der ho- hen Kosten nur in dringenden Fällen möglich. So wird es zum Ritual, dass mich der Laienprediger Olive montags kon- sultiert und über seine Arthrose klagt.
Seit drei Jahren ist er auf der Überwei- sungsliste, und immer wenn er beinahe nach Neuseeland zum Orthopäden darf, drängelt sich wieder ein Notfall vor.
Bei fünf bis zehn Patienten pro Tag bleibt viel Zeit für Patientengespräche – fast jeder hier spricht Englisch.Vor allem T H E M E N D E R Z E I T
Deutsches ÄrzteblattJg. 99Heft 31–325. August 2002 AA2099
Hodentorsion, polynesisch Fotos: Frank Küppers
Polynesien
Klinik unter Palmen
Ein halbes Jahr als Arzt auf einem Südseeatoll
bleibt Muße, um tief in das polynesische Leben einzutauchen. Und das wird der fremden Familie sehr einfach gemacht, unser vierjähriger Sohn spricht nach drei Monaten fließend Tokelauisch, und das Gefühl der Geborgenheit in dieser für- sorglichen Gemeinschaft ist für uns ein- zigartig. Wenn Wind, Wellen und Gezei- ten gute Thunfischfänge verheißen, zie- hen zwei Teams aus dem Dorf in den tra- ditionellen Outrigger-Kanus vor das Riff – der Doktor gehört dazu, das Kran- kenhaus wird geschlossen. Techni- siertes Angelgerät gibt es nicht, eine Leine wird auf ein Stück Schaum- stoff gewickelt,70 bis 100 Meter ver- senkt und wenn ein Thunfisch beißt, von Hand eingeholt. Das dauert, kostet Kraft und beschert mir schrecklichen Muskelkater.
Thunfisch ist das Hauptnah- rungsmittel, gefolgt von Brotfrucht, Kokosnuss, Taro, ab und zu Kürbis, Bananen und Papaya, und an Sonn- und Feiertagen fettes Schwein und sehr zähe Hühner. Obwohl die Iso- lation beste Voraussetzung für eine gesunde Ernährung wäre, gelangen per Boot vor allem Softdrinks, Zucker, Chips und Junkfood auf die Insel – Gemüse und Obst dagegen so gut wie nie. Besonders das min- derwertige Corned Beef, das in die- ser Fettstufe wohl nur im Südpazifik verkauft werden darf, ist bei den In- sulanern beliebt und beschert ihnen die entsprechenden Zivilisationskrank- heiten. Zusätzlich ist Gicht endemisch, sodass das tägliche Brot des Doktors aus Bluthochdruck und Gelenkbeschwerden besteht. Bis auf gelegentliches Dengue- fieber gibt es keine Tropenkrankheiten, Helminthosen haben es ebenfalls nicht bis auf die Insel geschafft. Generell ist es aber um die Gesundheit der Tokelauer nicht schlecht bestellt. Lediglich Diabe- tes scheint die Zukunft der drei Atolle mehr als der Treibhauseffekt zu bedro- hen. Auf Nachbarinseln, die schon länge- ren und intensiveren Kontakt mit der westlichen Welt haben, liegt die Inzidenz bei 40 Prozent der Bevölkerung. Die un-
sichere Bootverbindung und der toke- lauische Fatalismus erschweren die regel- mäßige Versorgung mit Insulin. Ein enor- mer Zuckerkonsum erledigt den Rest.
Diabetische Gangräne sind keine Selten- heit. Die Fähigkeit, den Zucker aus der Nahrung optimal auszuwerten, ist der Wissenschaft zufolge ein Evolutionsvor- sprung der Polynesier gewesen, als die Nahrungszufuhr unsicherer war. Jetzt hat er sich in das Gegenteil verwandelt.
Geld spielt im polynesischen „Inati- System“, einer Art Urkommunismus, ei- ne untergeordnete Rolle. Das Leben wird von Tradition, Kirche und dem Älte- stenrat bestimmt. Im Gegensatz zu ande- ren Inseln im Pazifik, auf denen sich Mis- sionare verschiedenster Kirchen die Gläubigen und vor allem die damit ver- bundene Kollekte abjagen, ist auf Atafu nur die protestantische Kirche zugelas- sen. Die Sonntage dort sind gewöhnungs- bedürftig. Neben zwei Gottesdiensten ist keine weitere Aktivität erlaubt. Musik, Schwimmen oder Spaziergänge sind ver-
boten. Bei so viel Kirche ist der eher prü- de Lebenswandel nicht verwunderlich.
Sexualerziehung wird kaum gelehrt.
Kontrazeptiva, die im Krankenhaus er- hältlich sind,werden wegen der mangeln- den Verschwiegenheit der Schwestern nicht genutzt. So erfahre ich ausgerech- net bei der Verhütungskampagne von der verheimlichten Schwangerschaft ei- ner 14-Jährigen. Trotz etlicher Abtrei- bungsversuche durch Kräuter und Freundinnen, die auf ihren Bauch gesprungen sind, befindet sich das Mädchen im sechsten bis siebten Monat. Wegen möglicher Kompli- kationen und vor allem, um den psychischen Druck zu mindern, wird das Mädchen in Neuseeland bei Verwandten gebären.
Als Arzt genießt man hohes An- sehen in der Gemeinschaft. Unser Haus liegt direkt an der türkisen Lagune, mit großer Veranda und ohne direkte Nachbarn, sodass ein wenig Privatsphäre besteht. Die ist komplett untypisch für das Leben auf dem kleinen Atoll.
Das Dorf erstreckt sich über ei- ne Länge von einem Kilometer, die hufeisenförmige Hauptinsel ist ge- rade einmal 150 Meter breit. Die Familien bewohnen große Ein- raumhäuser, in denen sich bis zu 20 Familienmitglieder zum Schlafen versammeln. Das Gemeinschaftsle- ben ist allgegenwärtig – positiv wie negativ. Probleme werden von den ande- ren aufgefangen, niemand ist einsam, und besonders alte Menschen genießen höch- sten Respekt. Andererseits ist in solch beengten Verhältnissen kaum Platz für Individualismus, was vor allem für die Ju- gendlichen, die mit Hollywood per Video groß geworden sind, ein Problem ist. Auf Samoa ist Selbstmord eine der wesentli- chen Todesursachen von Teenagern, auch auf Tokelau hat es einige Fälle gegeben.
Abgesehen davon, dass Prügel zu den be- liebtesten Erziehungsmethoden gehö- ren, ist das Atollleben für Kinder para- diesisch. Sie toben nach der Schule über die Insel, füttern die Schweine und plant- schen in der Lagune, bis es dunkel wird.
Weder von Straßenverkehr noch von Fremden droht ihnen Gefahr. Und die uns prophezeite Schädelfraktur durch herabfallende Kokosnüsse ist bisher nicht vorgekommen. Dr. med. Frank Küppers T H E M E N D E R Z E I T
Plätze frei im Paradies – Tokelau sucht Ärzte:In der Regel werden Verträge für sechs Monate verge- ben. Wer Familie mitbringt oder zu zweit ist, wird bevorzugt. Gehalt: 2 000 NZ-Dollar (circa 900 Euro). Die Unterkunft ist umsonst, das Leben vor Ort sehr billig. Die Anreise aus Neuseeland wird bezahlt. Tokelau ist malariafrei. Das deutsche Examen reicht. Anfragen an: peter.adam@xtra.co.nz und direktor.health@
clear.net.nz, Tokelau im Internet: www.tokelau.org.nz
In der Pause kommen die Schüler zum Ver- bandwechsel.
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A2100 Deutsches ÄrzteblattJg. 99Heft 31–325. August 2002