• Keine Ergebnisse gefunden

Archiv "Die Berliner Künstler-Gruppe ,Kulmer Straße 20 a'" (20.11.1985)

N/A
N/A
Protected

Academic year: 2022

Aktie "Archiv "Die Berliner Künstler-Gruppe ,Kulmer Straße 20 a'" (20.11.1985)"

Copied!
3
0
0

Wird geladen.... (Jetzt Volltext ansehen)

Volltext

(1)

DEUTSCHES ÄRZTEBLATT

Kulturmagazin

Peter Gorsen

Die Berliner Künstler-Gruppe ,Kulmer Straße 20 a'

Gemeinsamer Nenner: Überwindung des Solitarismus

Vor der Fassade eines alten Fabrikgebäudes im Hinterhof, vor ihren Werkstatt- und Atelieretagen: Wolfgang Petrick, Heike Ruschmeyer, Betti- na Niedt, Michael Schulze, Irene Fehling (Thomas Lange ist abwesend)

Künstler- und Werkstatt-Gemein- schaften sind aus der Geschichte bekannt. In den mittelalterlichen Bauhütten waren die Arbeiten an den großen Kathedralen des 13.

bis 15. Jahrhunderts kollektiv or- ganisiert. Die beteiligten Meister und Gesellen unterstanden einer von den Zünften unabhängigen Hüttenordnung, die den Ablauf und die Vielzahl der künstleri- schen Einzelleistungen regelte und vor allem ihre Integration zu einem Gesamtkunstwerk wie der Kathedrale garantierte. Die Hütten- ordnungen wurden schließlich von den genossenschaftlich orga- nisierten Interessengemeinschaf- ten der Zünfte und Gilden abge- löst, die ihrerseits später neuen Organisationsformen bis hin zu den modernen Handwerkskam- mern, Gewerkschaften, Arbeitge- ber- und Unternehmerverbänden Platz machten.

Im Verlauf dieses durch technolo- gische und sozioökonomische Veränderungen mitbedingten Entwicklungsprozesses kam es an der Schwelle vom 15. zum 16.

Jahrhundert zu einer Trennung von Kunst und Handwerk und in ihrem Gefolge erstmals auch zu der neuzeitlichen Emanzipation des Kunsthandwerkers zum „au- tonomen" Künstlerindividuum, das für einen freien, anonymen Markt und von ihm abhängig pro- duziert. „Der bildende Künstler wird individuell Schaffender und Lebender, er will selbstwertiger Einzelgänger, Solitär sein. Seine Existenzform ist diejenige eines innengeleiteten, die Kunst über alles stellenden und um ihretwil- len nahezu jede Mißhelligkeit in Kauf nehmenden Solitarismus"

(Hans Peter Thurn).

Alle neuzeitlichen Künstler-Grup- pierungen, welche besondere Or- ganisationsform immer (z. B. als Ausgabe A 82. Jahrgang Heft 47 vom 20. November 1985 (75) 3551

(2)

DEUTSCHES ÄRZTEBLATT

Künstlergruppen

Eine historische Künstlergruppe: Mitglieder der „Berliner Sezession" bei der Bildjurierung. In der Mitte (mit Hut) Lovis Corinth, rechts Charlotte Berend-Corinth. Das Foto stammt aus dem Jahre 1905

Malschule, Künstlerkolonie, Ver- ein, Akademie) sie sich gegeben haben, konvergieren in dem Ver- such, die verschiedenen sozialen, ökonomischen und möglicherwei- se auch künstlerischen Nachteile dieser „solitären", einzelgängeri- schen Existenzform zu kompen- sieren. Die Inflation von Künstler- Gruppen im 19. und 20. Jahrhun- dert zeigt indirekt, daß der eigen- verantwortlich gestaltende und wirtschaftende Künstler seine ur- sprüngliche Freiheit und Unab- hängigkeit zu gesellschaftlicher Vereinzelung und Isolierung ent- fremdet, als einen sozio-kulturel- len Nachteil, erfährt. Ein Teil der Künstler, die auf Opposition, auf individuelle Abgrenzung vom nor- mativen „Prozeß der Zivilisation"

(Norbert Elias) nicht verzichten wollen, sucht dieses Defizit durch Zusammenschlüsse und Bündnis- se mit Gleichgesinnten auszuglei- chen. So entstanden auch die be- kannten Interessens- und Gesin- nungsgemeinschaften expressio- nistischer Künstler wie „Brücke"

und „Blauer Reiter", die (wie vor- her schon einige Jugendstil-Se- zessionen) sich in der gemeinsa- men Ablehnung der Industriege- sellschaft und ihrer urbanen Äs- thetik des Häßlichen gegenseitig bestärkten, während Künstlerver-

bände wie „Bauhaus" und „Werk- bund" mit entgegengesetzter Blickrichtung Kunst und industri- elle Produktion zu versöhnen suchten.

Die einzelnen Motive und Absich- ten, warum sich Künstler zu Grup- pen zusammenschließen, können in einer sich pluralistisch formie- renden Gesellschaft sehr ver- schieden und miteinander unver- einbar sein, wohingegen die Überwindung des Solitarismus das übergeordnete Ziel und der kleinste gemeinsame Nenner der modernen Künstlergemeinschaf- ten ist.

West-Berlin hat sich in den letz- ten Jahren und Jahrzehnten im- mer wieder als ein Schmelztie- gel von Ideologien und Denkmo- den der Akademiker- und Jugendkultur erwiesen. In kei- ner mitteleuropäischen Stadt sind so viele Ateliergemein- schaften und Selbsthilfegalerien von Künstlern entstanden und weiter im Entstehen. Die „Aus- stellungsgemeinschaft Großgör- schen 35" (1964-67) war eine der bekanntesten und wirksam- sten Einrichtungen, die sich konsequenterweise auflöste, als sie ihre Sprungbrettfunktion für

den zwischen Akademie, Ausbil- dungszeit und Berufsleben ste- henden beginnenden Künstler erfüllt hatte. Die unter dem Stil- etikett „Kritischer Realismus"

bekannt gewordenen Grün- dungsmitglieder Ulrich Baehr, Hans-Jürgen Diehl, Wolfgang Petrick und Peter Sorge waren für ihr Fortkommen auf eine weitere Gemeinschaftsbildung nicht mehr angewiesen.

Eine nicht weniger vitale Grup- pierung von Künstlern, die ihr Studium an der Hochschule der Künste in Berlin abgeschlossen und ins Berufsleben gestartet sind, ist die Ateliergemeinschaft

„Kulmer Straße 20 a". Sie exi- stiert seit Februar 1978 in einer ausrangierten Fabrikanlage der Gründerzeit in zwei angemiete- ten Etagen des (dritten) Hinter- hofes.

Hier arbeiteten anfangs zehn Kunststudenten, vier Frauen und sechs Männer, um der Raumnot und den restriktiven Arbeitsbedingungen an der Hochschule zu entkommen.

Nachdem 1979 zwei Künstler die Gemeinschaft verlassen hatten und zu den frei gewordenen Ateliers weitere Räumlichkeiten

3552 (76) Heft 47 vom 20. November 1985 82. Jahrgang Ausgabe A

(3)

DEUTSCHES ÄRZTEBLATT

Künstlergruppen

Nach 1900: Eine Gruppe von Malwei- bern bei der Freiluft- malerei im Dachauer Moos - Der Barken- hoff Heinrich Vogelers um 1900, Zentrum der Worpsweder Künstler- gemeinde, idyllischer Kontrast zu „Gefühl und Härte" der mo- dernen Berliner Szene

Fotos: Werner Zellien, Ber- lin, Archiv für Kunst und Ge- schichte, Berlin (2), Worps- weder Verlag, 2804 Lilienthal

hinzugemietet werden konnten, wurde für die Dauer von drei Jahren außerdem eine Selbsthil- fegalerie eingerichtet, die nicht nur zur Ausstellung der Arbeiten der Gruppe diente, sondern auch „externe" Künstler-Anfän- ger, mit deren Arbeit man sym- pathisierte, zu Gastausstellun- gen einlud. Ein eigens geführtes

„Gästebuch" gibt darüber Aus- kunft. Die heutige Gruppe setzt sich nur mehr aus sechs Künst- lern, drei Frauen und drei Män- nern, zusammen. Sie kann in vieler Hinsicht exemplarisch als eine Folge des Künstler-Solita-

rismus und seiner angestrebten Überwindung durch ein koope- rativ und solidarisch funktionie- rendes Künstlerkollektiv ange- sehen werden.

Dieses „Kollektiv" von Künst- lern bildet eine Gemeinschaft, die auf die pragmatische Bemei- sterung des Arbeitsalltags be- schränkt ist, also in erster Linie auf den Genuß eines eigenen Ateliers und einer von vielen

Köpfen und Händen eingerich- teten Werkstätte, deren Instru- mente prinzipiell allen verfügbar sind. Darüber hinaus gibt es zwi- schen den Gruppenangehöri- gen viele weltanschauliche, gei- stige, emotionale Verbindungs- linien, ohne daß man sich der Mitwirkung dieses komplexen Beziehungsnetzes bei der Ar- beit bewußt ist oder sich dar- über im einzelnen Rechenschaft zu geben einen Anlaß sähe.

Eine wesentliche, nicht zuletzt menschliche Voraussetzung für diese über rein formale Kollegiali- tät hinausgehende Zusammenar- beit ist die bemerkenswerte Tat- sache, daß die ausschließlich von ehemaligen Schülern der „Mal- klasse" von Professor Wolfgang Petrick an der Hochschule der Künste in Berlin begründete Gruppe ihren einstigen Lehrer in die neue Gemeinschaft „berufen"

und integriert hat. Damit wurden weniger Unsicherheit, Stützungs- bedürftigkeit und Anhänglichkeit der Künstler-Anfänger an das alte

Lehrer-Schüler-Verhältnis bekun- det als vielmehr der Entschluß, ei- nen als wertvoll erfahrenen Ar- beitszusammenhang über die zeitlich, räumlich und organisato- risch begrenzte Institution der Kunstakademie hinaus fortzuset- zen. Die Vorteile einer solchen Verbindung liegen auch auf sei- ten des ehemaligen Lehrers, der nicht nur in den Genuß eines drin- gend benötigten funktionalen,

„wirtschaftlicheren" Großateliers kommt, sondern durch den Kon- takt mit einer neuen Künstlerge- neration über eine zusätzliche In- spirationsquelle verfügt. Der von der Pädagogik immer wieder ge- forderte lernende anstatt dozie- rende, zu Doktrinarismus und Al- ters-Solitarismus neigende Lehrer ist hier Wirklichkeit geworden.

Gerade die Künstlergemeinschaft der Kulmer Straße ist ein lehrrei- ches Beispiel dafür, daß man sich die Einflußsphäre einer kreativ ar- beitenden Gruppe soziologischer Abstraktionen zuliebe nicht als ei- nen autonomen, geschlossenen Regelkreis vorstellen darf, der ge- gen kulturelle und künstlerische Anregungen von draußen total ab- gedichtet wäre.

Die in der Kulmer Straße seßhaft gewordenen Künstler und Künst- lerinnen - Irene Fehling, Thomas Lange, Bettina Niedt, Heike Ruschmeyer, Michael Schulze und Wolfgang Petrick - bilden kei- ne Lebens-, sondern eine locker assoziierte Arbeitsgemeinschaft, deren „Mitglieder", abgesehen von gelegentlichen Festen und geselligen Zusammenkünften, auf einen vom Arbeitsplatz getrenn- ten privaten, familialen Lebensbe- reich Wert legen. Von der Utopie einer Versöhnung von Kunst und Leben, die so manche vom Ge- samtkunstwerkdenken des Ju- gendstils geprägte Künstlerge- meinschaft der Jahrhundertwen- de beseligt hat, ist in dieser Grup- pe nichts zu finden.

• Wird fortgesetzt (Die Künstler und ihre Werke werden einzeln vorgestellt).

3554 (78) Heft 47 vom 20. November 1985 82. Jahrgang Ausgabe A

Referenzen

ÄHNLICHE DOKUMENTE

Buchstaben erarbeitet haben oder Schüler der vierten Klasse sich im Deutschunterricht mit einem Gedicht oder einer Geschichte beschäftigen … die malerische Verbindung der Schrift

[r]

Luisas Schnecke hat auf dem Weg eine Pause eingelegt und kommt 3 Stunden nach Tims Schnecke endlich im Ziel an. Wie lange braucht Marias Schnecke für

„Smart Meters“, die den Stromverbrauch in Abhängigkeit zur Stromerzeugung steuern können. Der DGB stellt fest, dass die bisherigen Bemühungen nicht ausreichend waren, um den

Die institutionalisierte Vermittlung der .harten Fakten“ durch eine oder durch alle drei interpretatorische Ebenen hindurch macht, wie gesagt, die damit gewonnenen

Nach Aussage Andrea Poerschkes sind solche Denkansätze an sich nicht neu: „Wer einmal in die Denkmal-Topografie der Stadt Kronberg schaut, wird dort auch einige Flachdachdenkmä-

Nach einem erfüllten Leben entschlief nach kurzer, schwerer Krank- heit mein lieber Mann, unser guter Vater, Schwiegervater, Großvater und Bruder.

begnügen, sondern die Geschichte ehrlich auf- gearbeitet wissen will. Das heißt: die Jugend will die Geschichte nüchterner betrachten. Wenn nun in Lüneburg ein Professor, gebeten