DEUTSCHES ÄRZTEBLATT
KURZBERICHT
Zwei-Klassen- Rentenrecht?
Im Oktober 1984 erreichte Bun- desarbeitsminister Dr. Norbert Blüm die Zustimmung der Bun- desregierung zu seinem Modell für die Neuregelung der Hinter- bliebenenversorgung. Jetzt be- faßt sich der Deutsche Bundestag mit dem Gesetzentwurf auf der Basis des Modells der „Hinterblie- benenrente mit Einkommensan- rechnung" bzw. des sog. Anrech- nungs-Modells. Dieser Ansatz be- deutet, daß in Zukunft nur noch der eine ungekürzte Hinterbliebe- nenrente aus der gesetzlichen Rentenversicherung erhält, des- sen Erwerbs- oder Erwerbsersatz- einkommen einen Freibetrag von 900 DM monatlich nicht über- steigt. Beträge über dem Freibe- trag müssen sich die Betroffenen zu 40 Prozent auf die Hinterblie- benenrente der Rentenversiche- rung anrechnen lassen. Zu dem sog. Erwerbsersatzeinkommen sollen nach den Vorschlägen des Gesetzentwurfes auch die Renten der berufsständischen Versor- gungswerke gehören.
Das „Anrechnungs-Modell", des- sen Auswirkungen für die Betrof- fenen schwer zu durchschauen sind, wird von Rentenexperten, Wissenschaftlern, aber auch von der Bonner Opposition stark kriti- siert. Die Kritik konzentriert sich dabei im wesentlichen auf einen Verstoß gegen das Versiche-
rungsprinzip und den Grundsatz der beitragsbezogenen Rente, den das Blümsche Modell bedeu- ten würde. Der Vorsitzende der Arbeitsgemeinschaft berufsstän- discher Versorgungseinrichtun- gen (ABV), Dr. med. Klaus Dehler, Internist aus Nürnberg, zu diesem Vorschlag befragt erklärte: Die Neuregelung führt zu einem Zwei- Klassen-Rentenrecht.
Insbesondere die weiblichen Mit- glieder unserer Versorgungswer- ke, deren Ehemänner in der ge- setzlichen Rentenversicherung versichert sind, werden in Zukunft
nur eine gekürzte oder gar keine Witwenrente mehr erhalten.
Von der Neuregelung betroffen sind alle diejenigen Angehörigen eines berufsständischen Versor- gungswerkes, deren Ehepartner aufgrund eigener Erwerbstätig- keit oder der Zahlung freiwilliger Beiträge in der gesetzlichen Ren- tenversicherung versichert sind.
Das „Anrechnungs-Modell" be- wirkt, daß dieser Personenkreis in der Regel keine Hinterbliebenen- rente nach ihrem Ehepartner er- halten werden.
Von der Neuregelung nicht be- troffen sind zunächst einmal alle diejenigen, die im Zeitpunkt des Inkrafttretens des Gesetzes (vor- aussichtlich 1. Januar 1986), be- reits eine Hinterbliebenenrente beziehen. Nicht betroffen ist der- jenige, der zum Beispiel eine Wit- wenrente aus der gesetzlichen Rentenversicherung und eine Wit- wenrente aus einem berufsständi- schen Versorgungswerk bezieht, ebenso wie derjenige, der eine Witwen- oder Witwerrente aus ei- nem berufsständischen Versor- gungswerk zusätzlich zu einer ei- genen Rente der gesetzlichen Rentenversicherung erhält.
Anschlag auf
das gegliederte System
Die SPD lehnt den Vorschlag der Bundesregierung für die Hinter- bliebenenrentenreform rundweg ab. Sie verbindet überdies ihre Vorschläge für die Reform der Hinterbliebenenversorgung mit solchen zur Strukturreform der Al- terssicherungssysteme. Die For- derung nach einer Abschaffung des Befreiungsrechts für ange- stellte Freiberufler von einer an- sonsten bestehenden Versiche- rungspflicht in der Rentenversi- cherung bei Mitgliedschaft im be- rufsständischen Versorgungs- werk ist dabei die bedeutendste für die berufständige Versorgung.
Der ABV-Vorsitzende, Dr. Dehler, kommentierte den SPD-Vorstoß als „Anschlag auf das gegliederte
System der Altersvorsorge", der zudem erheblichen verfassungs- rechtlichen Bedenken begegne.
Ein solcher Wegfall einer seit Jah- ren bestehenden Befreiungsmög- lichkeit sei mit der Rechtsord- nung nicht vereinbar.
Für die Neuregelung der Hinter- bliebenenrenten hält die SPD an dem ursprünglich von allen Bun- destagsparteien befürworteten
„Teilhabe-Modell' fest. Aber auch dieses Modell hat einen erheb- lichen Pferdefuß, sieht es doch vor, daß sich die Teilhabe auch auf die Leistungen der berufsstän- dischen Versorgung erstrecken soll. Materiell besteht deshalb kein Unterschied zwischen den Vorstellungen der Opposition und der Bundesregierung.
Da innerhalb der berufsständi- schen Versorgung Männer und Frauen seit Jahren gleichbehan- delt werden, Handlungsbedarf aufgrund des Urteils des Bundes- verfassungsgerichtes von 1975, das die Ursache für die gesamte Reformdiskussion darstellt, also nicht besteht, haben deren Ver- treter immer wieder auf eine Lö- sung hingewiesen, die rentenver- sicherungsintern verwirklicht wer- den könnte. Die dabei entstehen- den Mehrkosten können durch Minderanpassung der Renten von 0,1 Prozent pro Jahr in den näch- sten zwanzig Jahren aufgebracht werden. Ein solches Verfahren entspräche zwar mehr dem auch von Minister Blüm immer wieder als besonders schützenswert be- zeichneten gegliederten System der Altersversorgung, findet bei ihm aber sicher auch wegen der politisch gegenwärtig schon schwer durchzustehenden gerin- gen Höhe der Rentenanpassung kein Gehör. Sein Argument, wer selbst gut versorgt sei, brauche nicht noch eine Hinterbliebenen- rente von seinem Ehegatten, mag zwar in der sozialpolitischen Dis- kussion gut ankommen, nur die Betroffenen haben dafür Beiträge bezahlt; und das sollte beachtet werden. Michael Jung, Köln 18 (18) Heft 1/2 vom 4. Januar 1985 82. Jahrgang Ausgabe A