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Archiv "Wie viele Menschen sind eigentlich neurotisch?" (20.03.1985)

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EDITORIAL

I

mmer wieder hört man, un- gefähr 30 Prozent der Men- schen seien neurotisch; 20 Millionen Mal jährlich werde in der Bundesrepublik die Dia- gnose Neurose gestellt; in der Allgemeinpraxis betrage der Anteil neurotischer Patienten sogar 50 Prozent oder noch mehr. Und sogar: letztlich sei jeder Mensch neurotisch.

Solche pauschalen Äußerun- gen sind unbrauchbar, da ih- nen nur Meinungen oder be- stenfalls Schätzungen zugrun- de liegen. Zur Epidemiologie der Neurosen gab es nämlich bis vor kurzem nur sehr unge- naue Angaben, die von Autor zu Autor stark differierten. So findet man in Veröffentlichun- gen zwischen 1950 und 1980 zur Häufigkeit von Neurosen in Europa und in Nordamerika Zahlenangaben zwischen 0,28 Prozent und 53,5 Prozent.

Man kann gewiß nicht davon ausgehen, daß das Vorkom- men so unterschiedlich ist.

Eher muß unterschiedliches diagnostisches und statisti- sches Vorgehen vermutet wer- den.

Deshalb soll hier zunächst de- finiert werden, was mit „Neu- rose" gemeint ist. „Als Neuro- se bezeichnet man eine Grup- pe von seelisch bedingten Krankheiten chronischen Ver- laufs, die sich in bestimmten Symptomen — Angst, Zwang, traurige Verstimmung, hysteri- sche Anwandlung —, oder in bestimmten Eigenschaften — Hemmungen, Selbstunsicher- heit, emotionale Labilität, in- nere Konflikthaftigkeit — äu- ßern" (1). Diese Definition

zeigt, daß man Neurosen sehr wohl begrifflich klar fassen kann. Es wird aber auch deut- lich, wie schwer es ist, im Ein- zelfall Grenzen zu ziehen und bei epidemiologischen Unter- suchungen die notwendige Fallidentifikation vorzuneh- men. Einzelheiten hierzu fin- det der interessierte Leser in neueren Büchern (3, 5).

Häufigkeit

In jüngerer Zeit hat die psych- iatrische Epidemiologie we- sentliche Fortschritte erzielt, obwohl die methodischen Schwierigkeiten gerade in die- sem medizinischen Fachge- biet besonders groß waren.

Besser gesagt: Gerade weil psychiatrische Epidemiologie so schwierig ist, mußten be- sonders große methodologi- sche Anstrengungen unter- nommen werden. Die Ergeb- nisse blieben infolgedessen nicht aus. Wir brauchen heute nicht mehr auf ältere und aus- ländische Erhebungen zurück- zugreifen, sondern können aufgrund von zwei in der Bun- desrepublik durchgeführten Feldstudien recht verläßliche Angaben über das Vorkom- men von Neurosen machen.

In drei unterschiedlich struktu- rierten Gemeinden des Land- kreises Traunstein führten Dil- ling und Weyerer (2, 6) eine Feldstudie durch, um die Prä- valenz (Gesamtzahl vorhande- ner Krankheiten) von Neuro- sen zu bestimmen. Sie unter- suchten eine zufällig gezoge- ne Stichprobe von 1536 Be- wohnern (über 15 Jahre alt)

auf psychische Störungen und deren Schweregrad hin. Sie fanden 24,0 Prozent neuroti- sche Störungen (einschließ- lich der verwandten psychoso- matischen und Persönlich- keitsstörungen); nach Abzug leichterer und nicht behandel- barer Fälle ergab sich eine Prävalenz von 12,0 Prozent Neurosen in der Allgemeinbe- völkerung. Das waren fast zwei Drittel aller behandlungs- bedürftigen psychischen Krankheitsbilder (18,6 Pro- zent). Die Ergebnisse der psychiatrischen Untersucher stimmten recht genau mit den ebenfalls ausgezählten Dia- gnosen der behandelnden Ärzte dieser Patienten über- ein. Das ist eine bemerkens- werte Bestätigung.

Auch in Mannheim wurde eine Felduntersuchung durchge- führt. Schepank und Mitarbei- ter (4) fanden unter 600 Er- wachsenen der Allgemeinbe- völkerung 25 Prozent mit defi- nierbaren neurotischen und psychosomatischen Störungen (wiederum von einem be- stimmten Schweregrad an).

Das ist eine etwas höhere Ra- te als in der bayrischen Unter- suchung, allerdings waren Klassifikation, Schweregradu- ierung und Fallidentifikation in den Untersuchungen nicht dieselben. Für Neurosen im engsten Sinne betrug die Prä- valenz in Mannheim 7,0 Pro- zent.

Neurosen gehören demnach zu den häufigsten Gesund- heitsstörungen des Menschen, auch wenn sie nicht so weit verbreitet sind wie früher ge- schätzt wurde. Sie sind, wie beide Untersuchungen ge- zeigt haben, bei Frauen häufi- ger als bei Männern, in den unteren Sozialschichten häufi- ger als in den oberen.

Abgrenzung

Wir wissen also nun Verläß- liches über die Prävalenz die-

Wie viele Menschen

sind eigentlich neurotisch?

Rainer Tölle

844 (82) Heft 12 vom 20. März 1985 82. Jahrgang Ausgabe A

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EDITORIAL ser Krankheiten. Aber damit

sind natürlich nicht alle Fra- gen der Abgrenzung beant- wortet. Auch wenn es mit ei- ner praktikablen Fallidentifika- tion gelingt, brauchbare epi- demiologische Daten zu ge- winnen, fällt es unter klini- schen Bedingungen doch schwer, Neurosen zu definie- ren. Sie sind nicht nur gegen- über anderen psychischen Krankheiten schwer abzugren- zen, sondern noch schwerer gegenüber dem psychisch Ge- sundsein.

Offensichtlich sind die Gren- zen zwischen neurotisch und gesund unscharf. Das soll hier mit Blick auf die Persönlich- keiten, die Konflikte und de- ren Bewältigung sowie auf die neurotischen Beschwerden (Symptomatik) erklärt werden.

Persönlichkeit der Betroffenen

Es gibt bestimmte neurotische Persönlichkeitsstrukturen, die auch Charakterneurosen ge- nannt werden. Sie lassen sich recht genau beschreiben. Bei- spiele sind anankastische, de- pressive oder sensitive Struk- turen der Persönlichkeit. Es handelt sich dabei jeweils um besonders stark und auffal- lend ausgeprägte Einstellun- gen und Verhaltensweisen wie Überordentlichkeit, Pessimis- mus oder Selbstunsicherheit.

Derartige Persönlichkeitsmale weisen natürlich auch Gesun- de auf, nur eben in schwäche- rer Ausprägung: Ordnungs- sinn, Mangel an Zuversicht oder Sichinfragestellen. Für jedes neurotische Merkmal läßt sich nachweisen, daß es eine breite Skala mit fließen- den Übergängen gibt von den leichten bis zu den ausge- prägten Formen, von den in das Gesamterleben gut inte- grierten Eigenschaften bis zu extremer Dominanz eines sol- chen Merkmales, welches das Leben des Betroffenen und

seiner Beziehungspersonen schwer beeinträchtigt. Letzte- res nennt man neurotisch. Der Unterschied gegenüber „ge- sunden" Persönlichkeitsstruk- turen ist jeweils gradueller Art.

Konfliktreaktionen und Neurose

Konflikte müssen nicht zu ei- ner Neurose führen, sie gehö- ren zum normalen Leben. Nur unter bestimmten Bedingun- gen führen sie zu Neurosen.

Entscheidend kommt es dabei auf die Art und Weise der Konfliktverarbeitung an: Es gibt Modi, die man normal oder gesund nennt, z. B. Aus- tragen und Lösen eines Kon- fliktes, Akzeptieren und Aus- halten einer unlösbaren Kon- fliktsituation, bewußter Ver- zicht auf das eine oder das andere der widerstrebenden Bedürfnisse, weiterhin auch Verschiebung und Sublima- tion. Wenn eine derartige Konfliktverarbeitung nicht ge- lingt, können gegen die uner- trägliche Konfliktspannung zum Schutz des Ich andere Abwehrmaßnahmen einge- setzt werden wie Verleugnen, Verdrängen, Verkehren ins Gegenteil, Projektion usw. Das sind kompromißhafte, über- wiegend mißlingende Bewälti- gungsversuche, in deren Fol- ge neurotische Störungen auf- treten: psychische Symptome und körperliche Beschwerden, Verhaltens- und Persönlich- keitsstörungen. Auch hier gibt es in fließenden Übergängen alle graduellen Abstufungen bezüglich der Art und Schwe- regrade der Konflikte, der Mo- di der Bewältigung bzw. Ab- wehr und des Gelingens bzw.

Mißlingens der Konfliktverar- beitung.

Zur Symptomatik der Neurosen

Auf der einen Seite stehen die deutlich ausgeprägten und un-

schwer zu diagnostizier.enden neurotischen Störungen wie Zwangsverhalten und Phobie, Herabgestimmtsein und hypo- chondrische Einstellungen, nagende Selbstzweifel und Kommunikationsunfähigkeit.

Die andere Seite kann aber nicht so beschrieben werden, als ob diese Merkmale absolut fehlen würden. Denn welchem gesunden Menschen wären Züge der Übergenauigkeit und Ängstlichkeit, Verstimmung und Gesundheitssorgen, Unsi- cherheiten und Hemmungen ganz fremd? Bis zu einem ge- wissen Grade und in den ent- sprechenden Lebenssituatio- nen gehören diese Reaktions- weisen zum Erleben des Ge- sunden. Da es sich sozusagen um Verdünnungsformen jener neurotischen Merkmale han- delt, muß man auch hier, also im Hinblick auf die Beschwer- den feststellen, daß es einen fließenden Übergang zwi- schen gesund und neurotisch gibt. Am deutlichsten wird das im Hinblick auf die funktionel- len vegetativen Beschwerden, die jeder Mensch in irgendei- ner Form kennt. Meist bleiben sie wenig beachtet und unbe- handelt; von Gesunden wer- den sie verkraftet. In Krisensi- tuationen und insbesondere in psychoneurotischen Entwick- lungen können sie so ver- stärkt werden und sich so be- einträchtigend auswirken, daß dieser Mensch als krank, näm- lich als neurotisch krank ange- sehen werden muß.

Diese Überlegungen sollen an einem Alltagsbeispiel verdeut- licht werden: Examensangst ist weit verbreitet und ubiqui- tär. Ausprägungsgrad und Fol- gen sind bekanntlich sehr un- terschiedlich. Vielfach entste- hen vor Prüfungen Gefühle der Angst und Spannung, nicht selten mit funktionellen Störungen wie Magenschmer- zen und Appetitlosigkeit, kör- perlich empfundenes Unruhe- gefühl, Schlafstörungen und so weiter. Die meisten Prü-

Ausgabe A 82. Jahrgang Heft 12 vom 20. März 1985 (85) 845

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DEUTSCHES ÄRZTEBLATT

EDITORIAL

fungskandidaten stehen das durch, begeben sich zur Prü- fung, und die Leistung wird durch die genannten Störun- gen nicht oder nur wenig be- einträchtigt. Angst und psy- chovegetative Störungen kön- nen aber auch so stark wer- den, daß der Betroffene nicht in der Lage ist, zur Prüfung zu erscheinen oder daß er in der Prüfung versagt. Wenn man in diesen Fällen der Lebensge- schichte nachgeht, findet man regelmäßig eine neurotische Entwicklung.

Hier muß man also von Angst als einem neurotischen Sym- ptom sprechen, das sich in der Examenssituation aktuali- siert. Im erstgeschilderten Fall würde man gewiß nicht eine krankhafte Reaktion anneh- men. Aber ist nicht auch das, was sich in Angst, Spannung und funktionellen Störungen äußert, im Prinzip das gleiche, was in stärkerer Ausprägung die Neurose ausmacht?

Jedenfalls gibt es zwischen den beschriebenen Reaktions- formen alle denkbaren Über- gänge. Es gelingt nicht, eine Grenze zu bestimmen, an der die gesunde Reaktion endet und die neurotische beginnt.

(Es ist eine weitere Form der Examensangst denkbar, näm- lich die Angst dessen, der die Prüfung nicht oder nur unzu- reichend vorbereitet hat. Hier kann man natürlich nicht von neurotischer Angst sprechen, es handelt sich um Realangst.) Was hier über das Verhältnis von neurotisch bzw. nicht- neurotisch — gesund ausge- führt wurde, entspricht im ein- zelnen dem, was in der ge- samten Medizin über das Ver- hältnis von krank und gesund, normal und anormal zu sagen ist. Ob es sich um manche

Herzrhythmusstörungen, Kopf- schmerzen oder Myalgien handelt: es fällt schwer, eine scharfe Grenze zu ziehen zwi- schen dem, was noch als ge- sund bzw. schon als krank zu bezeichnen ist. Niemand wür- de hieraus folgern, daß Herz- rhythmusstörungen keine Krankheiten seien. Ebensowe- nig kann man den Neurosen den Krankheitscharakter mit der Begründung absprechen, diese Störungen seien nicht scharf vom Gesunden abzu- grenzen.

Folgerungen

Da wir nun einigermaßen ge- nau wissen, wie häufig neuro- tische und psychosomatische Krankheiten vorkommen, kann die ärztliche Versorgung in Zukunft verläßlicher geplant werden. Da sich die meisten dieser Kranken zuerst an den Hausarzt wenden, sollte die Lehre von den neurotischen und psychosomatischen Krankheiten im Medizinstudi- um und in der Weiterbildung akzentuiert werden.

Aus den diagnostischen Über- legungen ist für den Umgang mit dem einzelnen Patienten in der Sprechstunde zu fol- gern. Neurose oder neurotisch bilden in dieser lapidaren For- mulierung noch keine Diagno- se. Es kommt darauf an, im einzelnen zu erfassen, welche Persönlichkeitsmerkmale do- minieren und ob sie den Grad einer Persönlichkeitsstörung aufweisen, welcher Art Kon- flikte und deren Bewältigungs- versuche (Abwehrmaßnah- men) sind, wann und wie stark funktionelle Beschwerden und andere neurotische Symptome auftreten, welchen Stellenwert sie für den Betroffenen und seine Umwelt aufweisen. Die-

se Überlegungen führen zu ei- ner genaueren Diagnose und zu einer gerechteren Beurtei- lung des Patienten (anstelle der zuweilen diskriminierend klingenden Bezeichnung

„Neurotiker") und zu einer dif- ferenzierten Therapieindika- tion: ärztliches Gespräch oder Überweisung zum Speziali- sten, ambulante oder (selten) stationäre Behandlung, sowie die Wahl des Psychotherapie- verfahrens.

Nicht jeder Patient, der den Arzt mit psychischen oder ve- getativ-funktionellen Be- schwerden aufsucht, ist neu- rotisch und bedarf einer auf- wendigen Psychotherapie. Je- der Mensch aber kann in eine

Lebenskrise geraten, aus Kon- flikten schwer herausfinden, dabei psychosomatisch rea- gieren — und angemessene ärztliche Hilfe in der Sprech- stunde beanspruchen, auch im Sinne einer Prävention bei Noch-Nicht-Neurose.

Literatur

(1) Bräutigam, W.: Reaktion, Neurose, abnorme Persönlichkeit. 4. Aufl. Stutt- gart, Thieme 1978 — (2) Dilling, H.; Weye- rer, S.; Castel, R.: Psychische Erkrankun- gen in der Bevölkerung. Stuttgart, Enke 1984 — (3) Mester, H.; Tölle, R. (Hsgb.):

Neurosen. Berlin/Heidelberg/New York, Springer 1981 — (4) Schepank, H. et al:

Das Mannheimer Kohortenprojekt — die Prävalenz psychogener Erkrankungen in der Stadt. Z. Psychosom. med. 30 (1984) 43-61 — (5) Tölle, R. (Hsgb): Seelische Krankheiten und psychosomatische Stö- rungen. München/Wien/Baltimore, Urban und Schwarzenberg 1982 — (6) Weyerer, S.; Dilling, H.: Prävalenz und Behandlung psychischer Erkrankungen in der Allge- meinbevölkerung. Nervenarzt 55 (1984) 30-42

Professor Dr. med.

Rainer Tölle Direktor der

Klinik für Psychiatrie der Universität

Albert-Schweitzer-Straße 11 4400 Münster

846 (86) Heft 12 vom 20. März 1985 82. Jahrgang Ausgabe A

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