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Archiv "Lausitzer Gesellschaft für Psychosoziale Medizin: Widerstand und Anpassung nach der Wende: Thema für Patienten und Therapeuten" (09.10.1992)

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DEUTSCHES

ÄRZTEBLATT UNGSBERICHT

Wenn Gesellschaften regelmä- ßig tagen, dann versuchen sie häufig, durch jährlich neue, ab- wechslungsreiche Themen Zu- hörer anzulocken. Daß sich auch hinter Schnörkellosem, ja sogar hinter schnöden Wiederholun- gen Interessantes verbergen kann, bewies die diesjährige Ta- gung der Lausitzer Gesellschaft für Psychosoziale Medizin in Cottbus. Sie stand im Grund un- ter dem selben Thema wie im vergangenen Jahr: „Psychoso- ziale Medizin — Widerstand und Anpassung".

D

r. Roger Kirchner, Ärzte- kammerpräsident in Bran- denburg, hatte seinem Ein- gangsvortrag den Titel „Das Men- schenbild in der Psychotherapie" ge- geben — eigentlich ein wochenend- füllendes Thema, wie er einräumte.

Er schränkte es selbst ein und schil- derte im Grunde einen Teil seines persönlichen Menschenbildes, sein Erleben und seine Einschätzung des Wandels in der ehemaligen DDR seit der Wende.

In den vergangenen drei Jahren habe sich vieles ereignet, was sich auf die Lebensaufgaben und den -sinn der Menschen dort ausgewirkt habe. In den neuen Bundesländern seien die Beziehungen der Men- schen nun eher durch Haben als durch Sein charakterisiert. Hinter professioneller Freundlichkeit sei nur noch selten teilnehmende Zu- wendung zu erkennen. Verkürzt und karikiert, aber letzten Endes zutref- fend sehe er die Menschen charakte- risiert durch Entfremdung, in deren Folge der Einzelne „den Mitmen- schen insoweit aus dem Auge ver- liert, als er ihm in einer Verbrau- chergemeinschaft nicht weiter nütz- lich ist".

Auch als psychotherapeutisch tätiger Arzt habe er seine Arbeit nun an wirtschaftlichen Kriterien auszu- richten und das Kassenarztrecht zu beachten. Die Patienten — „soweit sie noch arbeiten dürfen" — könnten

Widerstand

und Anpassung nach

der Wende:

Thema für

Patienten und Therapeuten

nicht länger mehrmals in der Woche kommen; auch stationäre Aufenthal- te seien schwerer zu ermöglichen.

Gruppentherapien wie früher (häu- fig eine Kombination aus mehrwö- chigem stationären Aufenthalt und ambulanter Fortsetzung der Thera- pie) ließen sich kaum noch durchhal- ten

und

seien nicht mehr „in". Auch in Ostdeutschland vollziehe sich eine Wende zur Einzeltherapie, die er ähnlich bereits im letzten Jahrzehnt in Westdeutschland beobachtet ha- be. Denkbar sei, daß durch die Zu- nahme entfremdungsfördernder ge- sellschaftlicher Bedingungen intensi- ve mitmenschliche Nähe nur noch schwer möglich sei.

Westliche Kollegen fragten im- mer wieder nach den Einflüssen des totalitären Regimes auf seine Arbeit.

Nach Kirchners Darstellung war ver- trauensvolle therapeutische Arbeit in der DDR jedoch möglich, mehr noch: Er selbst habe nie Vorschrif- ten vom Ministerium für Staatssi- cherheit gemacht bekommen . „Ich konnte in der DDR Psychotherapie freier gestalten als jetzt. Die Psy- chotherapie-Richtlinien engen mich mehr ein als das Ministerium für Staatssicherheit."

Kirchner erntete neben viel Zu- stimmung durchaus auch Wider- spruch im einzelnen: Dr. K. Höhfeld, kassenärztlich tätiger Psychothera- peut aus West-Berlin, teilte den Ein- druck nicht, die Gruppentherapie

schwände. Allerdings beurteilte er ihre Möglichkeiten auch nicht ganz so rosig wie Kirchner: Die von ihm beschworene gegenseitige Anteil- nahme in einer Gruppe sei beispiels- weise nicht von Anfang an da; sie stelle sich unter Umständen auch gar nicht ein.

Eine Therapeutin aus Ost- deutschland fragte, warum man denn der Gruppentherapie so pauschal nachtrauere? Einige Patienten hät- ten mit dieser „verordneten" Form nicht viel anfangen können, deshalb:

„Ist es denn so schlimm, daß da ein Stückchen verlorengeht?"

Weitere erlebte Unterschied- lichkeiten wurden thematisiert: So berichtete eine Teilnehmerin, sie könne die Beobachtung Kirchners nicht teilen, das (sogenannte) Pa- tientengut habe sich nicht verändert, wenngleich andere Fragen im Vor- dergrund stünden. Ihrer Erfahrung nach verändere sich die Patientenkli- entel. Derzeit kämen viele regressiv strukturierte Menschen, die in re- pressiven Elternbeziehungen und eben in einem repressiven Staat ge- lebt hätten. Für diese sei Einzelthe- rapie zur Zeit durchaus das Richtige.

Damit wurde eine Frage ange- sprochen, die sich durch die ganze Veranstaltung zog: Kommen nun dieselben Patienten wie früher in der DDR oder andere? Haben sich die Probleme und die Erkrankungsfor- men geändert, nicht aber die Gruppe der Patienten? Verursachen die Fol- gen des enormen Umbruchs in der ehemaligen DDR psychische oder psychosomatische Erkrankungen — oder wird nur Verborgenes, längst Vorhandenes aktiviert?

Reflexion: „Luxus"

Mit solchen Fragen setzte sich Dr. Christoph Seidler, Berlin, aus- einander. 1988 habe er im „Spiegel"

gelesen, daß ehemaligen DDR-Bür- gern in der Bundesrepublik zwei Karrieren prophezeit würden: Näm- lich daß überdurchschnittlich viele DDR-Flüchtlinge in das Obdachlo- senmilieu geraten

würden, und daß

andere, von Ehrgeiz zerfressen, aus- schließlich an ihrer Karriere schmie- den würden. Nun habe er „stromlini-

Lausitzer Gesellschaft für Psychosoziale Medizin

Dt. Ärztebl. 89, Heft 41, 9. Oktober 1992 (23) A1-3299

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enförmig überangepaßte" Patienten aus West- und Ostberlin.

Seidler skizzierte darüber hinaus Etappen der Veränderung: Zu Zei- ten der Wende, im Quartal 1/90, ha- be es so viele Patienten gegeben wie nie zuvor. Es sei eine deutliche Auf- bruch- und Diskussionsstimmung spürbar gewesen. Danach seien eine Zeitlang immer weniger Patienten gekommen Da dies auch in ande- ren medizinischen Versorgungsbe- reichen der Fall war, erkläre er sich dieses Phänomen heute so: Der Mensch sei biologisch auf Notzeiten eingestellt; in diesen sei er dann mit der Bewältigung der täglichen An- forderungen voll und ganz beschäf- tigt. Eine Reflexion und Reaktion darauf finde erst später statt, wenn für solchen „Luxus" Zeit bleibe.

Auffällig sei, daß sowohl Thera- peuten als auch Patienten die jünge- re Vergangenheit ausblendeten, daß sie sich Versäumnissen und Ver- wicklungen zu DDR-Zeiten nicht stellen könnten. Allerdings warnte er vor „moralisierenden Psychologen und Psychotherapeuten" in ganz Deutschland: „Merkwürdigerweise sind all die Mahner durch Gnaden aller Art angeblich um jede Ver- wicklung während unserer babyloni- schen Gefangenschaft herumgekom- men."

Sein Kollege, Diplom-Psycholo- ge Kienert, Klettwitz, berichtete von Veränderungen bei den Patienten.

Auffallend sei, daß die Gruppe der Lehrer deutlich zurückgegangen sei, die früher einen erheblichen Teil der Patienten ausgemacht hätten. Die Arbeitslosigkeit aktiviert nach seiner Einschätzung länger bestehende Probleme. Beispiele: Ein Patient hat über 15 Jahre lang ein Verhältnis mit einer Kollegin, das durch die Entlas- sung endet; eine Patientin stellt durch die Arbeitslosigkeit fest, die Arbeitsroutine habe sie in einer Scheinwelt leben lassen. Vor der Wende hätten berufliche Konflikte dominiert, nun seien Partnerschafts- und Abhängigkeitsprobleme ein Thema.

Die jüngere Vergangenheit und die damit zusammenhängenden Ver- strickungen würden nicht themati- siert; so daß man sich als Therapeut schon fragen müsse, ob man derglei-

chen vielleicht fördern solle. Warum Menschen, die mit dem System ver- strickt waren, nun nicht zur Therapie erscheinen, dafür hat er eine eigene Erklärung: „Sie kommen nicht, weil sie nicht abgestürzt sind."

Widerstand: Hoher Wert Ob und wieweit die jüngere Ver- gangenheit Einfluß auf das seelische Wohlbefinden eines Menschen hat und welche Rolle dabei Widerstand und Anpassung spielen, war das Thema von Dr. Gerhard Reister, Düsseldorf, von der Klinik für Psy- chotherapie und Psychosomatik. In einer repräsentativen Untersuchung wurden 600 Bundesbürger über mehrere Jahre in halbstandardisier- ten, psychoanalytisch orientierten Interviews von erfahrenen Psycholo- gen nach ihrem seelischen Befinden befragt. Nach Reister bestätigte sich die frühkindliche bzw. kindliche Prä- gung der seelischen Gesundheit. In- teressant war, daß sich Ereignisse im vorangegangenen Zeitraum bei „Ge- sunden" bzw. „leicht Beeinträchtig- ten" nicht auswirkten. Verkürzt kön- ne man also sagen, daß die Basis see- lischer Gesundheit in einer befriedi- genden frühen Kindheit liege.

Unklar blieb, ob man Schlüsse aus dieser Untersuchung auf die Be- völkerung in Ostdeutschland über- tragen kann. Reister ließ dies offen, zog jedoch in seinem Vortrag die Verbindung zum Tagungsthema.

Zur seelischen Gesundheit seien of- fenbar individuelle Abwehrkräfte und Flexibilität erforderlich, also Widerstand und Anpassung. Die mo- ralische Dimension der beiden Be- griffe erschwere jedoch eine solche Bewertung. Reiser verdeutlichte das am „Fall Stolpe": Widerstand habe in unserer Gesellschaft offenbar ei- nen hohen Wert, Anpassung werde weniger gern gesehen.

Mit Anpassung und Widerstand innerhalb der eigenen Arbeit befaß- ten sich ebenfalls einige Referenten.

So berichtete Dr. F. Schiefer, Klett- witz, er habe nach der Wende drei Phasen durchlebt: Verunsicherung

— kritische Selbstreflexion — Neu- orientierung. Am Anfang habe zum Beispiel die Angst gestanden, ob die

eigene Ausbildung anerkannt würde.

In der zweiten Phase hätten ihn Fra- gen beschäftigt wie „Hat der Kollek- tivismus die Individualität eingegra- ben?" — schließlich sei überwiegend Gruppentherapie eingesetzt worden.

Oder die Frage, ob man Patienten benutzt bzw. manipuliert habe, bei- spielsweise damit, daß man ihnen in der Gruppe etwas abverlangt habe, was man selbst als Therapeut gegen- über dem Staat nicht vertrat.

Viel Applaus erhielt Dr. Paul Franke für seinen Vortrag „Ist das Voneinanderlernen eine Einbahn- straße? " Darin schilderte er im we- sentlichen, wie er die Zeit der Wen- de und der Wiedervereinigung erleb- te, ausgehend von einer Fahrt zu ei- ner gemeinsamen Tagung von ost- und westdeutschen Ärzten in Nie- dersachsen. Sein bitteres Resümee:

Ziel sei gewesen, westdeutsche Strukturen und westdeutsches Den- ken so schnell und so radikal wie möglich auf die Ostdeutschen zu übertragen. Er habe das Gefühl, die ersten frei gewählten Vorstände hät- ten ihren Ärztebund für ein paar Vorstandsplätze im Westen verkauft.

Franke kritisierte den missiona- rischen Eifer vieler „Wessis" und ih- re, „Bei uns ist alles besser"-Haltung.

Deutlich wurde einem (als „Wessi") jedoch, daß es neben der westdeut- schen zuweilen eine ostdeutsche Ar- roganz gibt: So berichtete Franke vom Besuch eines Fortbildungskon- gresses in Westdeutschland: „Was dort als sogenannte Selbsterfah- rungsgruppe oder als thematisch zentrierte Gruppe abgelaufen ist, ließ manchen von uns zweifeln, ob dort vom Trainer je eine Ausbildung absolviert wurde. Oder darf da je- der?"

Trotzdem: Angesichts der Er- fahrungen, daß westdeutsche Ärzte und Arztinnen kaum zu Fortbil- dungskursen nach Ostdeutschland fahren und sich gestandene Thera- peuten aus der ehemaligen DDR an- hören müssen, „daß dort Psychothe- rapie betrieben wurde, ohne daß man Freud liest" — angesichts solcher Erfahrungen wird das Thema „Wi- derstand und Anpassung" noch lan- ge spannend bleiben — für ost- wie westdeutsche Psychotherapeuten.

Sabine Dauth/Dr. Gerhard di Pol A1-3300 (24) Dt. Ärztebl. 89, Heft 41, 9. Oktober 1992

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