EINE SCHIITISCHE KONTROVERSE ÜBER NAQL AL-ÖANA'IZ*
von Wemer Ende, Hamburg
In islamkundlichen Veröffentlichungen über das Glaubensleben der Zwölfer¬
schiiten, vor allem aber in (älteren) Reisebeschreibungen über Persien und den Irak
sowie in seuchenhygienischen Untersuchungen über den Mittleren Osten werden
häufig die schütischen Totentransporte erwähnt. Es handelt sich dabei um die
Überfühmng (z.T. aus großer Entfernung und in Form organisierter Karawanen)
zu den Begräbnisplätzen der Imame der Zwölferschia im Irak und in Iran. Von über¬
ragender Bedeutung sind in diesem Zusammenhang Nagaf und Karbalä. Der in der
sehiitischen theologisch-juristischen Literatur für diese Praxis verwendete arabische Ausdmck lautet naql al-^anä'iz oder naql al-mautä.
Die Beschreibungen, die nichtschiitische - europäische, aber auch orientalische (sunnitische) — Autoren hinsichtlich der Begleiterscheinungen jener Totentransporte
geben, sind z.T. schaudererregend (Verwesungsgeruch, Seuchengefahr, makabre
Folgen von Leichenschmuggel etc.). Es ist zu fragen, ob und in welchem Umfang
schütische Autoren des 20. Jahrhunderts diese Beschreibungen dem Inhalt nach
bestätigen und wie sie die geschüderten Begleiterscheinungen der Totentransporte gegebenenfalls beurteüen.
Die erste - und bis heute wohl maßgebende - innerschiitische Diskussion über
naql al-^anä'iz wurde im Jahre 1911 durch den irakischen zwölferschiitischen Ge¬
lehrten Hibataddin a5-Sahrastäni (1883/4-1967) ausgelöst. In seiner Schrift
Tahrim naql al^anä'iz , die zuerst in einer Zeitschrift und dann als Broschüre
erschien, forderte er die sehiitischen filamä' zum Verbot des naql al-^anä'iz auf,
da diese Praxis eine schädliche Neuerung (bidCa) im Islam darstelle, die Integrität
(hurma) des Toten aufs schwerste verletze und somit der Sariqa, die dem Schutz der
hurma des Toten die oberste Priorität einräume, eindeutig widerspreche.
Gegen Sahrastänis Thesen erhob sich heftiger Protest im sehiitischen Müieu des
Irak. Die wichtigste Gegenschrift stammt allerdings aus der Feder eines libanesi¬
schen Schiiten, des Theologen "Abd al-Husain Sarafaddin (1873-1958). Sie er¬
schien zuerst in der Zeitsehrift Al-<^Irßn (Saida) und danach u.d.T. Bugyat al-fä'iz
fi naql al-^anä'iz als Broschüre. Sarafaddin zieht die Existenz der makabren Be¬
gleiterscheinungen der Totentransporte in Zweifel, die Sahrastäni angeführt hatte.
Hauptsächlich geht es ihm aber darum zu beweisen, daß naql al-^anä'iz keineswegs eine Praxis spezieU der Schiiten sei, sondern auch bei Sunniten, Christen und Juden
vorkomme. In Wirklichkeit sei es so, daß die theologischen Autoritäten der Zwöl¬
ferschia hinsichtlich der Überfühmng von Toten stets differenzierter geurteilt
* Kurzfassung des Referats
XX. Deutscher Orientalistentag 1977 in Erlangen
218 Werner Ende
hätten und generell zurückhaltender gewesen seien als (zumindest in der Praxis)
jene anderen Gemeinschaften. Er sucht dies anhand von historischen Beispielen
zu belegen.
Die meisten der in Na|af und Karbalä residierenden führenden mu^tahids haben
sich in der Kontroverse von 1911 für ein (mehr oder weniger umfassendes) Verbot
des naql al-^anä'iz ausgesprochen. Sahrastäni zögerte nicht, ihre diesbezüglichen
Fetwas zu dmeken und zu verbreiten. Dennoch ist diese Praxis damals und in der
Folgezeit nicht zum Erliegen gekommen. So hat es auch später immer wieder ein¬
mal innerschiitische Kontroversen über die Totentransporte gegeben. Die kritisier¬
ten Begleiterscheinungen wirken heute allerdings durch moderne Verkehrsverbin¬
dungen, Quarantänemaßnahmen etc. erheblich gemildert bzw. sind gänzlich ver¬
sehwunden.
Daß die erste innerschiitische Kontroverse über naql al-^anä'iz gerade 1911 aus¬
brauch, ist vermutlich kein Zufall: Die osmanisch-türkische Regierung, Schirmherr der HeUigen Stätten der Schia im Irak, stand seit Jahren unter internationalem
Durck im Zusammenhang mit der von Seuchenhygienikern behaupteten Rolle der
Totentransporte bei der Verbreitung der Cholera. Das jungtürkisehe Regime (seit
1909) war bemüht, die daraus resultierende Einmischung europäischer Mächte in
die inneren Angelegenheiten des Osmanischen Reiches zu beseitigen. Im Hinblick
auf den Congres Sanitaire Intemational in Paris (7.11.1911-17.1.1912) mußte der
türkischen Regiemng daran gelegen sein, durch den Hinweis auf eingeleitete seu¬
chenhygienische Maßnahmen hinsichtlich der Totentransporte (wie auch der Pilger¬
fahrt nach Mekka etc.) die Kritik des Auslands zu entkräften. Zur psychologischen
Vorbereitung solcher Maßnahmen im sehiitischen Milieu des Irak mochte ein inner-
schütischer Reformversuch wünschenswert erscheinen. Historische, biographische
und andere DetaUs der Kontroverse von 1911 lassen die Vermutung zu, daß der
Vorstoß Sahrastänis und die ihn unterstützenden Fetwas eines Großteils der führen¬
den mu^ahids mit entsprechenden Wünschen der türkischen Behörden in einem
ursächlichen Zusammerüiang stehen.
DER SCHÖPFUNGSMYTHOS DER NU?AIRIER UND DIE
TRADITION DER ÖULAT*
von Heinz Halm, Tübingen
Der gnostische Schöpfungsmythos der Nusairier (CAlawiten), den der Renegat
Sulaimän Efendi al-Adani in seiner Bäküra Sulaimäniya (Beirut 1863 S. 59 f.) wie¬
dergibt, erzählt die Erschaffung der Lichtseelen durch CAIT b. Abi Tälib, ihren
Hochmut, der sie den Schöpfer ignorieren und - trotz mehrfacher Epiphanie -
immer wieder vergessen läßt, und den als Strafe über sie verhängten Abstieg durch
sieben nacheinander geschaffene Himmel hinab auf die Erde, wo sie von Körper zu
Körper wandern müssen, ehe sie die erlösende Rückkehr nach oben antreten kön¬
nen.
Diese Erzählung hat ihre Parallele und anscheinend auch ihr literarisches Vorbild in dem von den Nusairiern tradierten „Buch der Sieben und der Schatten", Kitäb al-haft wal-azilla (ed. 'M. Gälib, Beirut 1964; ed. *A. Tämir/Ign.-A. Khalifä, ^Beirut
1970), das angebliche Offenbarungen des Imams Ga^far as-Sädiq an seinen Gefolgs¬
mann al-Mufaddal b. CUmar al-GuCfi, einen bekannten kufischen gäli, enthält.
Auch das bei den Ismailiten des Pamir tradierte persische Umm al-kitäb (ed. W.
Ivanow, in: Der/s/am 23, 1936, 1-132; trad. P. Filippani-Ronconi, C/mm«'/-A:/'fäZ>,
Neapel 1966) enthält eine Kosmogonie, die nicht nur inhalthch, sondern auch in
ihrer Terminologie eng mit den beiden genannten Erzählungen verwandt ist.
Daneben finden sich einzelne Motive und Elemente dieser Schöpfungsgeschich¬
ten - vor allem die Vorstellung von den durch die sieben Himmel (oder ,, Vorhänge, Schleier", hi^äb, pl. huj^b) absteigenden „Schatten" (azilla) oder „Schemen"
(aSbäh) - die sowohl un Haft wal-azilla als auch im Umm al-kitäb belegt sind -
auch in Traditionen in den imämitischen Sammlungen (Käfi des Kullnl, R^äl des
KaSSi, Bihär al-anwär). Eine Analyse der Isnade dieser Traditionen mit Hilfe der
Ri^äl-^eike zeigt, daß wir es mit Traditionen der kufischen ^/är des 3./9. Jahr¬
hunderts zu tun haben. Als Autoritäten erscheinen in den Einzeltraditionen entwe¬
der der Imam Muhammad al-Bäqir und als Hörer der gäli Gäbir b. Yazid al-GuCfl
(so auch im Umm al kitäb) oder der Imam GaCfar as^ädiq und als Hörer al-Mufad-
dal b. CUmar al-GuCfl (so auch im Haft wal-azilla). Die Isnade laufen fast immer
über einen Schüler al-Mufaddals, den kufischen gäli Muhammad b. Sinän (gest.
220/835), einen Zeitgenossen der Imame GaCfar as-Sädiq, Müsä al-Käzim, CAli
ar-Ridä und Muhammad al-Gawäd. Im redaktionellen (nusairischen) Vorwort zum
Haft wal-azilla wird dieser Mann als der „Schatzhüter dieser Gnosis" (bäzin häjjä
* Ein ausführlicher Aufsatz mit dem Titel Das Buch der Schattet! - Die Mufaddal-Tradition der gulät und die Ursprünge des Nusairiertums wird demnächst in Der Islam erscheinen.
XX. Deutscher Orientalistentag 1977 in Erlangen