OSMANISCHEN ItATASTERBÜCHERN
Von Nejat Göyünq, Ankara
Tür 'Abdin ist vom geograpliischen Gesichtspunkt der Name einer in der
Südost-Türkei gelegenen Hochebene, die sich von der Nähe von Mardin im
Westen bis nach Cizre im Osten erstreckt. Die östliche und nördliche Begren¬
zung stellt der Tigris dar. Die von Mardin über Nusaybin nach Cizre geführte alte, heute fast verlassene Straße bildet die Südgrenze dieses Gebietes. Dieses
Land hat eine West-Ost-Ausdehnung von ca. 200 km und eine Nord-Süd-
Ausdehnung von ca. 150 km.
Mardin ist zwar die bedeutendste Stadt des Tür 'Abdin, aber die Haupt¬
stadt dieses Gebietes ist Midyat, welche heute als ein Kreis (kam) in der
Provinz von Mardin liegt. Die weiteren bekannten Städte des Tür 'Abdin
sind Hisn-i Keyfa {Hasankeyf), Nusaybin und Cizre.
In einer syrischen Quelle aus der Mitte des 4. Jahrhunderts wird der Name
Tür 'Abdin zum ersten Mal bezeugt. Er bedeutet der Berg der Knechte.
Dieses Gebiet war aber schon den Assyrern bekannt und hieß Kaschiari-
Gebirge. Abgesehen davon hatten sie für die Mitte dieses Plateaus den
Namen Nirbu gebraucht, sowie Izala, für die Gegend von Mardin'.
Tür 'Abdin hat eine große Bedeutung für das Christentum, weil diese
Religion sich dort von Edessa (Urfa) aus sehr früh verbreitet hat. Dieses
Gebiet spielt auch eine sehr wichtige Rolle in der Geschichte des morgeniän¬
dischen christlichen Mönchstum. Es ist bekannt, daß das erste Kloster im
südhchen Teil des Tür 'Abdin im 4. Jahrhundert gegründet wurde, und in
den späteren Zeiten entstanden im Tür 'Abdin zahheiche Klöster, die im
Mittelalter die Zahl 80 erreichten.
Unsere Kenntnisse stützen sich auf die arabischen und syrischen Quellen
für das Mittelalter über den Tür 'Abdin. In den arabischen Quellen ist jedoch
häufig nur von den Randstädten dieses Gebietes, wie Mardin, Hisn-i Keyfa,
Nusaybin und Cizre die Rede, dagegen vom eigentlichen und inneren Tür
'Abdin verhältnismäßig selten. In der Neuen Zeit schließen sich daran die
Berichte der europäischen Reisenden, darunter ist Carsten Niebuhb* der
erste (1766). Während seiner Reise von Musul nach Diyarbekir berührte er
den Tür 'Abdin an seinem Südrand und schrieb in seiner Reisebeschreibung
1 M. Streck, Tür 'Abdin, EI, IV, S. 942-3.
2 Reisebeschreibungen nach Arabien und anderen umliegenden Ländern, Ko¬
penhagen, 1778, II, S. 387-8.
Tur 'Abdin. im 16. Jh. nach den osmanischen Katasterbüchem 143
neben seinen eigenen Beobachtungen auch die Berichte auf, welche er hier
über den für 'Abdin gehört hatte. Seinem Weg folgten viele andere, wie
Buckingham* (1816) und Southgate* (1838) im nächsten Jahrhundert.
Diesmal wurde aber auch der innere Teil des Landes von Badqee* (1842,
1844 und 1850), Sandreczki« (1850), Taylor' (1861-63), Socin* (1870),
Sachau' (1880), Pognon'" (1891 und 1905) und anderen besucht. Im ersten
Jahrzehnt dieses Jahrhunderts sind die alten Klöster des Tür 'Abdin von
Gertrude Bell" untersucht worden. In seiner hervorragenden und reich¬
haltigen Arbeit benutzte Paul Krüger'* syrische Quellen neben den euro¬
päischen. Zur Zeit beschäftigt sich eifrig Dr. Helga Anschütz'*, deren
Schriften zum Teil in den letzten Jahren schon erschienen sind, mit dem Tür
'Abdin. Die Arbeiten von Jules Leroy'*, Hellmut Ritter'* und Arthur
Vööbus'*, sowie Otto Jastrow" hat man hier auch zu erwähnen.
* Travels in Mesopotamia, London, 1827, I, S. 339.
* Narrative of a Tour through Armenia, Koordistan, Persia and Mesopotamia, London, 1840, II, S. 268.
* The Nestorians and their rituals, London, 1852, I, S. 45-58, 63-9.
° Reise nach Mosul und durch Kurdistan nach Urumia, Stuttgart, 1857, I, S.
267-307.
' Travels in Kurdistan, in JRGS, XXXV, 1865, S. 21-58.
8 Zur Geographie des Tür 'Abdin, in ZDMG, XXXV, 1881, S. 237-69.
" Reise in Syrien und Mesopotamien, Leipzig, 1883.
'" Inscriptions sCmitiques, Paris, 1907.
" The churches and monastries of the Tur Abdin, in M. v. Berchem und
StrzyoowskiI, Amida, Heidelberg, 1911, S. 224-62.
'* Das syrisch-monophysitische Mönchtum im Tür-'Ab(h)din, von seinen An¬
fängen bis zur Mitte des 12. Jahrhunderts, in Orientalia Christiana Periodica, Roma, 1938, IV, S. 5-46.
" Eine Reise zu den syrischen Christen am Rande des Taurus in der südöst¬
lichen Türkei. - Beobachtungen zur Religionsgeographie, Religion und Volks¬
kunde, in Kyrios, Berlin, 1967, VII, S. 41-51; idem, Die heutige Situation der
westsyrischen Christen (Jakobiten) im Tur 'Abdin im Südosten der Türkei, in
Ostkirchliche Studien, Wüizburg, 1967, III, S. 150-99; idem. Zur Gegenwarts¬
lage der syrischen Christen im Tur 'Abdin, im Hakkarigebiet und im Iran, in
XVII. Deutscher Orientalistentag, Vorträge, hrgb. von V. Voigt, ZDMG, Supple¬
menta I, Wiesbaden, 1969. S. 483-510.
'* Moines ot monasteres du Proche-Orient. Paris, 1957; idem, Les manuscrits syriaques ä peintures, consorvCs dans les bibliotheques d'Europe et d'Orient,
Paris, 1964; idem, Recherches archeologiques sur les Eglises du Tür 'Abdin, in
CRAI, 1967, S. 324-33; idem, L'Etat prösent des monuments chretiens du sud-est de la Turquie (Tür 'Abdin et environs), in Academie des Inscriptions et Belies Lettres, comptes rendus des seances de l'annee 1908 (Novembre-DEcembre), Paris, 1909, S. 478-93.
'5 Türöyö, die Volkssprache der syrischen Christen des Tür 'Abdin, Wiesbaden, 1967-71.
" History of asceticism in the Syrian Orient, a contribution to the history of
culture in the Near East, Louvain, 1958-60; idem. History of the School of
Nisibis, Louvain, 1965.
Die osmanisch-türkisclien Katasterbücher (Tapu-Tahrir Defterleri), die in
der zentralen osmanischen Finanzverwaltung geführt wurden und aus dem
16. Jahrhundert stammen, bieten uns hinsichtlich der Verwaltungs-, Sozial-
und Wirtschaftsgeschichte, sowie der Siedlungsgeographie'* dieses Landes
zahlreiche Angaben; sie berichten uns auch von den damaligen Zuständen
einiger Klöster. Deshalb ist die Benutzung dieser Katasterbücher neben den
oben zitierten Quellen dringend nötig, um eine vollständigere Arbeit über
den Tür 'Abdin zu bekommen als die früheren Arbeiten. Aus diesem Grund
will ich im Folgenden kurz von dem Inhalt dieser Bücher reden.
Am Anfang des 16. Jahrhunderts war der Tür 'Abdin erst unter der
Oberhoheit der Aq Qoyunlu-Türkmenen. Als Schah Ismä'il im Frühjahr
1507 an der Ostgrenze des Osmanischen Reiches erschien, ging die Herr¬
schaft dieses Gebietes in die Hand der Safawiden. Zwei Jahre später nach der
Feldschlacht von Öaldiran (1514) zwischen den Osmanen und Safawiden
verursachte die Eroberung und ständige Besetzung von Mardin, sowie Hisn-i
Keyfa und Savur, die Ausbreitung der osmamschen Herrschaft auf den Tür
'Abdin.
Der im September 1515 gegründete Beylerbeyilik von Diyarbekir enthielt
ein großes Landstück von Arapgir und Kigi in Ost-Anatolien bis zu Musul in
Mesopotamien. Der Tür 'Abdin war auch in seinem Bereich. Da das älteste
Kataster buch über den Beylerbeyilik von Diyarbekir aus dem Jahr 1518
stammt, können wir annehmen, daß die erste Landeszählung (tahrir) in
diesem Gebiet kurz nach der Eroberung des ganzen Landes stattfand. Zwar
sind die vorderen und hinteren Teile dieses Buches nicht vorhanden, doch es
enthält für ims wertvollen Angaben. Der Abschnitt jedes Sancak beginnt mit
den Provinz-Gesetzen, von denen viele Gesetze von Ömee Lutfi Barkan"
veröffentlicht und von Walther Hinz*" in vorbildlicher Weise bearbeitet
worden sind, dann nimmt den Hauptanteil die Aufzählung der Siedlungen
ein, also der Städte, Dörfer und periodische Wohnplätze (mezra'a), und ihrer
steuerpflichtigen, sowie steuerfreien Einwohner. Die weiteren vier Kataster-
" Laut- und Formenlehre des neuaramäisehen Dialekts von Midin im Tür
'Abdin, Bamberg, 1967; idem. Die arabischen Dialekte des Vilayets Mardin
(Südosttürkei), in XVII. Deutscher Orientalistentag, Vorträge, ZDMG, Supple¬
menta I, 683-88; idem, Arabische Textproben aus Mardin und Äzax, in ZDMG,
119 (1969), 29-59.
W. D. HÜTTEBOTH, Ländliche Siedlungen im südlichen Irmeranatolien in
den letzten vierhundert Jahren, Göttingen 1968.
Osmanli devrinde Akkoyunlu hükümdan Uzun Ilasan Beye ait kanunlar, in
Tarih Vesikalan Dergisi, Istanbul, 1941, 1, S. 91-106, 184-197; idem, XV ve XVI inci asirlarda Osmanli imparatorlugunda zirai ekoiiominin hukuki ve malJ esas- lan, 1. Band: Kanunlar, Istanbul, 1943, S. 145-53, 155-60, 165-71.
*" Das Steuerwe-sen Ostanatoliens im 15. und 16. Jahrhundert, in ZDMG, 1950, C, S. 177-201.
Tur 'Abdin im 16. Jh. nach den osmanischen Katasterbüchem 145
bücher über den Beylerbeyilik von Diyarbekir stammen aus den Jahren
1526,1540,1564 und aus der Zeit Sehms II. (1566-74). Das Katasterbuch von
1526 ist ein knapp zusammenfassendes Buch {i^viäl dejteri), dagegen sind die
anderen ausführlich (mufassal defter). Die drei ersten Bücher wurden im
Kanzleiarchiv (Basvekdlet Arsivi) in Istanbul aufbewahrt*', im Gegensatz zu
den zwei letzten, die im T^chiv des Grundbuch- und Katasteramts (Tapu ve
Kadastro Genel Müdürlü^ü Arsivi) in Ankara lagern**.
Nach den oben genannten Büchern war der westliche Teil des Tür 'Abdin
dem Bereich des Sancaks von Mardin eingegliedert, dagegen gehörte die
Mitte dieses Landes zum Sancak von Hisn-i Keyfa. Cizre, die südöstlichste
Ecke des Tür 'Abdin hatte eine besondere Form der Verwaltung, nämhch die
,,hükümet", die über den Beylerbeyilik von Diyarbekir abhängig vom Osma¬
nischen Reich war. Aus diesem Grund kamen die Fürsten von Cizre im 16.
Jahrhundert zwar immer aus derselben Familie, wurden aber von der osma¬
nischen Kanzlei (Divän) eingesetzt, ebenfalls auch abgesetzt. Das Fürsten¬
tum von Cizre stand unter dem Schutz des Osmanischen Reiches. Die
Fürsten von Cizre besaßen innere Autonomie; deshalb wm'de hier das Le¬
henssystem des Reiches nicht ausgeübt, und nicht einmal die Landeszählung wurde durchgeführt. Das ist schade für die Geschichtswissenschaft.
Damals trug ein Nähiye von Hisn-i Keyfa den Namen ,, Tür", zudem 1526
nur 16 Dörfer als Krongüter (häss) in der Umgebung von Midyat gehörten.
Das bedeutet, daß der in der historischen Geographie bekannte Ausdruck
„Tür" sich noch auf das Kernland dieses Gebietes bezogen hatte. 14 dieser
16 Dörfer waren rein christhch, ein Dorf Kefrbürän (heute: Kerburan) war
christlich-muslimisch besiedelt, wie heute. In zwei Dörfern waren Einwohner aus dem Stamm „Mahallemi"^^ ansässig. Die Zahl der steuerpflichtigen
Christen in diesen Dörfern wurde mit 1165 angegeben, darunter 873 verhei¬
ratete und 292 ledige Christen, dagegen nur 45 muslimische Familien und
19 ledige Muslims. Außerdem lebte im Tür ein nomadischer Stamm, der aus
28 Familien bestand. Sie waren auch Muslims. Weizen, Gerste, Weintrauben
und Honig bildeten die hauptsächlichen landwirtschaftlichen Produktionen
dieses Gebietes. Davon wurde gesetzmäßig ein Siebtel als Ertragssteuer
erhoben. Als „ispera^e" wurde 25 ak§e für jeden christlichen Mann festgelegt.
Obwohl selbst die Stadt von Hisn-i Keyfa, die im 5. Jahrhundert einen
Bischofssitz besaß, mit vier Freitags- und dreißig kleinen Moscheen und elf
Derwischklöstern (zäviye) wie eine muslimische Stadt aussah, waren die
Christen in der Mehrheit, im Vergleich : 519 muslimische Familien gegenüber
21 Bajvekälet Argivi, Istanbul, Tapu Defteri, Nr. 64, 200, 998.
22 Tapu ve Kadastro Genel Müdürlügü, Ankara, Kuyüd-i Kadime, Tapu Def¬
teri, Nr. 97, 117.
*' Vgl. Hans-Jübgen Sasse, Linguistische Analyse des arabischen Dialekts
der Mhallamiye in der Provinz Mardin (Südosttürkei). 1971.
H Or.-Tag 1973
787 christlichen, sowie 178 ledige Muslime gegenüber 258 ledigen Christen.
Dort war auch ein jüdisches Stadtviertel mit 20 Famihen und 4 ledigen Per¬
sonen. In unseren Büchern werden die Juden unter der Überschrift ,,arämi-
ne" in der Summe angegeben. Der Begriff „arämine" bedeutet Nichtmusli-
me, wie Syrer, Armenier und Juden.
Die Bevölkerung des Sancaks von Hisn-i Keyfa war überwiegend christ¬
lich. So standen 2732 muslimische Familien und 737 ledige Mushms, 3512
christlichen Familien und 933 ledigen Christen gegenüber, davon 20 jüdische Famüien und 4 ledige Juden.
Wie oben gesagt, gehörte der westliche Teil des Tür 'Abdin zum Bereich
des Sancaks von Mardin, der in vier Kreise gegliedert worden war, nämlich
Mardin, Nusaybin, Savur und Berriyecik. Die christlichen Einwohner bilde¬
ten in der Stadt von Mardin, die damals die zweitgrößte Stadt hinter Amid in
der ganzen Südost-Türkei war, die Mehrzahl, 1140 Famihen und 399 Ledige
gegen 753 muslimische Familien und 344 Ledige. In einem Stadtviertel von
Mardin lebten auch 131 jüdische Familien und 103 ledige Juden. In der
ganzen Provinz (Sancak) Mardin waren die Christen aber in der Minderheit :
3047 Familien und 1180 Ledige gegen 10985 muslimische Familien und 2053
Ledige.
In den Katasterbüchem aus den Jahren 1518, 1540 und 1564 wird weder
über den „Nähiye-i Tür" noch über den Sancak von Hisn-i Keyfa berichtet.
Das Material, das diese drei Katasterbücher über den Sancak von Mardin
bieten, wurde im türkischen Bueh „XVI.yüzyilda Mardin Saiicagi (Sancak
von Mardin im 16. Jahrhundert)**" aufgearbeitet. Deshalb soll hier nieht
näher darauf eingegangen werden.
Im Katasterbuch aus der Zeit Selims II. finden wir wieder reichliche
Angaben über den ,,Nähiye-i Tür", die unsere Kenntnisse etwas verbessem dürften. Unter dem Titel ,, Nähiye-i Tür" sind diesmal 45 Dörfer, als alte und
neue Krongüter und große und kleine Lehen (ze'ämet und timär), 10 periodi¬
sche Wohnplätze, 4 Bauernhöfe (ciftlik), 4 Stämme (gemä'at) und 6 Kirchen
eingetragen worden. 16 Dörfer waren rein christlich und eins gemischt besie¬
delt. Es gab im Tür 1888 christhche Familien und 863 ledige Christen.
Dagegen lebten in 28 muslimischen Dörfern 829 Familien und 192 ledige
Personen. In 10 Dörfern davon war der Stamm Känki ansässig. Drei andere
Stämme waren nomadisch : der Stamm Saqäqi bestand aus 14 Oymäq oder
999 Familien und 68 Ledigen, der Stamm Öälki oder Öälki^^ mit 9 Oymäq
(289 Familien und 68 Ledigen) und der Stamm AM, der ungefähr (ber vech-i
tahmin) aus 400 Familien bestand. Wenn wir die Zahl der muslimischen
** Nejat GöYijNg, XVI. yüzyilda Mardin Sancagi, Istanbul, 1969.
25 Mehmet Emin Bozabslan (^bbef Han, gerefname, Kürt Tarihi, Istanbul,
1971, S. 177) liest „Öüki".
Tur 'Abdin im 16. Jh. nach den osmanischen Katasterbüchem 147
BevöUterung im „Nähiye-i Tür" ausrechnen wollen, kommen wir auf eine
Summe von 2517 Familien und 328 Ledigen. Damit waren sie den Christen
gegenüber in der Mehrheit.
Die dicht bevölkerten und reichen Siedlungen unter den christlichen
waren Midyäd (heute: Midyat), Zäz, Bäti, Ardnäs (heute: Arnas), Habäb^^,
'Aynwerd, Saläh^'' und EnhiP^. Vergleichen wir die Angaben beider Bücher,
so begegnen wir der Tatsache, daß der Bevölkerungszuwachs sowie die
Erhöhung der Einkünfte (häsil) sich innerhalb von fünfzig Jahren um 100%
steigerten.
Die muslimischen Dörfer waren meistens klein, wie es auch in der gleichen
Zeit im Sancak von Mardin zu beobachten ist. In drei Ortschaften, nämlich
Midyäd, Habäb und Alkin, das größte muslimische Dorf im Tür (136 Fami¬
lien und 27 ledige Personen) finden wir Färberei-Betriebe (böyä-häne), die
uns auf das Vorhandensein der Textihndustrie als ein Nebenerwerbszweig
neben der Landwirtschaft hinweist, wie es auch in den christhchen Dörfern
im Sancak von Mardin der Fall ist.
In unseren Katasterbüchern werden folgende Kirchen oder Klöster im
„Tür" genannt:
Das Kreuz-Kloster (Kilise-i Deyrü's-salib) bei Zäz^^. Es mußte 1526 als
pauschale und jährliche Steuer 1800 ak9e bezahlen, aber fünfzig Jahre später
schon 3000 ak9e. Sie bestanden aus dem Zehnten (öir, eigentlich aber ein
26 Dieses Dorf ist heute eine Ruine.
2' Außer diesem christlichen Dorf Saläh trug noch ein Dorf den Namen Saläh
im 16. Jahrhundort im Tür. Die Einwohner dieses Dorfes waren Muslims (vgl.
Tapu Defteri, Nr. 998, S. 252 und Tapu Defteri, Nr. 97, S. 145-6).
28 Tapu Deftori, Nr. 97, S. 141- -56 und Tapu Defteri, Nr. 998, S. 253:
Dörfer Zeit Familien Ledige Einkünfte
Midyäd in 1526 167 53 24983 ak^e.
in dor Zeit Selims II. 205 149 42440 ak5e.
Zäz in 1526 85 22 11785 ak5e.
in der Zeit Selims II. 219 100 31466 akfo,
Bäti in der Zeit Selims II. 149 100 11605 ak^e.
Ardnäs in 1526 85 43 10590 akfe.
in der Zeit Selims II. 188 50 20960 akQO,
Habäb in 1526 81 29 9292 akfo.
in der Zeit Selims II. 165 48 27115 akqe.
'Aynwerd in 1526 46 25 7277 ak^e,
in dor Zeit Selims II. 136 29 17740 ak9e,
Saläh in 1526 72 28 10121 ak^e.
in der Zeit Selims II. 109 96 18143 ak^e.
Enhil in 1526 68 21 10008 ak^e.
in der Zeit Selims II. 108 24 20239 akge.
2^ Tapu ve Kadastro Genel Müdürlügü Ar§ivi, Ankara, Kuyud-i Kadime, Tapu
Defteri, Nr. 97, S. 149b; Ba^vekälet Ar§ivi, Istanbul, Tapu Deftori, Nr. 998, S.
258; Paul Kbügeb, a.a.O., S. 34-5.
Siebtel) von der Getreide-, Trauben- und Honigproduktion und aus der Prie¬
sterbesteuerung [marhasiyye).
Die Earche bei Saläh unter Ya'qüb Batrak^. Ihre Steuer war im Jahr 1526
nur 900 ak9e, später 1200 ak5e.
Das Sem'ün Kloster (Deyr-i Sem'ünf^, dessen Standort nicht angegeben
ist, entrichtete in der Zeit Selims II. eine Steuer von 900 ak^e. 1526 wird es noch nicht erwähnt.
Die Abraham Kirche [Kilise-i Ibrähimiyye) bei Midyäd^^. Sie wird auch
nur in der Zeit Selims II. aufgeführt. Ihre Steuer betrug 1000 ak9e.
Das Müsä Kloster (Kilise-i Deyr-i Müsä) bei Zäz^^, ebenfalls 1526 nicht
erwähnt, hatte eine jährliche Steuerlast von 400 ak9e.
Das Mdki Kloster (Deyr-i Melki) bei Habäb^* war in der Zeit Selims II. mit
800 ak9e belastet.
Unter den Christen waren sehr alte, bhnde oder hinkende Personen steuer¬
frei. In dieser Hinsicht wurde kein Unterschied zu den Muslims gemacht.
Man kann aus den Katasterbüchem noch viel mehr Einzelheiten über den
„Tür" herauslesen, aber es war hier nur die Absicht, Ihnen von der Wichtig¬
keit dieser noch unerschlossenen Quellen zu berichten, und in dem Lichte
dieser Bücher kmz den „Tür" zu beschreiben.
Zum Schluß muß hinzugefügt werden, daß ein Teil des Fürstentums von
Cizre noch in demselben Zeitalter auch den Namen „Tür" getragen hatte,
nach dem Serej-näme^^ und nach einer Urkunde aus einem Divän Buch*«.
Wir können aber nicht viel darüber erfahren. Trotzdem können wir anneh¬
men, daß der „Tür" sich im 16. Jahrhundert von der Umgebung von Midyat
bis ins Fürstentum von Cizre hinein erstreckte.
s» Tapu Defteri, Nr. 97, S. 151a; Tapu Defteri, Nr. 998, S. 258; P. Kbügeb, a.a.O., S. 26.
" Tapu Defteri, Nr. 998, S. 258.
ä2 Tapu Defteri, Nr. 97, S. 143a; P. Kbügeb, a.a.O., 8-9.
3ä Tapu Defteri, Nr. 97, S. 149b.
3* Tapu Defteri, Nr. 97, S. 157b; P. Kbügeb, a.a.O., 28-9.
35 Sebef Han b. Semseddin Bidlisi, Kitäb-i Seref-näme, hrgb. von Voliami- nof-Zebnof, Petersbourg, 1860, I, S. 117.
Ba§vekälet Arjivi, Istanbul, Kepeci tasnifi, Divan Defteri, Nr. 77, S. 20.
RELIGIÖSES RECHT UND GRAMMATIK
IM KLASSISCHEN ISLAM
Von Ulrich Haarmann, Freiburg
I.
Gott hat seinem Propheten den Koran, so lehrt uns der Koran selbst, als
Diktat in klarer arabischer Sprache geoffenbart. Die sprachliche und stilisti¬
sche Einzigartigkeit des heiligen Buches wird zu einem zentralen Dogma
islamischer Theologie, ist sie doch nach allgemeiner Lehre das Kriterium für
das Prophetentum Muhammads, der Beweis des göttlichen Ursprungs seiner
Botschaft und damit das Prophetenwunder [mu'giza), das ihn die Reihe
vorislamischer Propheten krönen und abschließen läßt. Keiner der Zweifler
an der Wahrheit der Botschaft des Islam, den Muhammad aufforderte
(tahaddi), etwas dem Koran Ebenbürtiges zu schaffen, ,,auch nur eine Sure
gleicher Art beizubringen" (II 23)', vermochte dies zu tun. Die Sprache des
heiligen Buches wird zum Glauhwürdigkeitsbeweis seines Inhalts*.
Vor dem Hintergrund dieses Dogmas gewinnt der Aufstieg der arabischen
Nationalgrammatik im frühen zweiten Jahrhundert der Higra besonderes
Gewicht, war es doch ihr erstes, wenn auch nicht einziges* Anliegen, Wege zu
finden, wie man den Koran unversehrt in seiner vollkommenen sprachlichen
Form den nichtarabischen, aber auch nicht wenigen, meist städtischen*
Neophyten arabischer Muttersprache verständlich machen konnte. Dem¬
gegenüber wurde die inhaltliche Auswertung des heiligen Textes, vor allem
der 5-600 sogenannten äyät Sar'iya^, zu einer Domäne der schon im 2. Jahr-
1 Vgl. auch Koran XVII 88 und LII 34.
* S. Peter Antes, Prophetenwunder in der Aä'ariya bis al-öazäli (Algazel),
Islamkimdhche Untersuchungen Bd. 2, Freiburg 1970, S. 27.
* Daß wir uns vor einer ausschließlichen Herleitung der Nationalgrammatik ,,als eines Mittels zur Interpretation und rechten Lesung der heiligen Schriften des Islam" hüten müssen, hat L. Kopp, „Religious Influences on Medioval Arabie Phüology", SI 5 (1956), S. 34, hervorgehoben. - Der religiösen Wertigkeit, der ,Heiligkeit' der arabischen Sprache hat Ibn Öinni (st. 392/1002) in seinem Kitäb al-ha§ä'is (3 Bde, Kairo 1371/1952-1376/1956) oin gesondertes Kapitel gewidmet:
Bäb fi-mä yu'minuhü 'üm al-'arabiya min al-i'tiqädät ad-dlniya, III, 246-55, bes.
245:8ff.
* über die Unterlegenheit der Städter, ahi al-madar, in der fa^äha, s.u.a. Ibn Öinni, IJa^ä'i? II 5ff.
5 J. Schacht in EI IV s.v. ti^.