GADIS PANTAI*
Von Martina Heinschice, Hamburg
Seit Mitte 1987 liegt Pramoedya Ananta Toers Roman Gadis Pantai
(,,Das Küstenmädchen") in Buchform vor. Er ist 1962 bereits als Fortset¬
zungsroman in der indonesischen Tageszeitung Bintang Timur (Stern des
Ostens) erschienen.' Damit stammt der Roman aus der Schaffensphase zwi¬
schen 1957 und 1965, in der der Autor vornehmlich mit historischen Studien
und Stellungnahmen zu den kulturpolitischen Auseinandersetzungen wäh¬
rend der Gelenkten Demokratie hervorgetreten ist ^ im August 1988 ist Ga¬
dis Pantai — wie bislang alle anderen Werke Pramoedya Ananta Toers —
durch die Zensur verboten worden.
Zur Einordnung des Romans in das Oeuvre ist vorausschickend zu erläu¬
tern, daß der Autor Mitte der 50er Jahre sein Gesellschaftsbild und seine Li¬
teraturkonzeption grundlegend revidiert hat. Angesichts von Machtstreben,
Korruption und Ignoranz gegenüber der Unterschicht in den Kreisen der po¬
litischen Elite beurteilt er die nationale Revolution nicht mehr als einen radi¬
kalen Einschnitt in der indonesischen Geschichte. Er hält nun die vorkolo¬
niale und koloniale Wirtschafts- und Gesellschaftsstruktur für noch nicht
überwunden: Es bestehe weiterhin ein grundlegender gesellschaftlicher Wi¬
derspruch zwischen den ländlichen Produzenten und den städtischen Konsu¬
menten des nationalen Reichtums. Angesichts dieser Situation müsse auch
der Schriftsteller politisch bewußt Position beziehen und die Emanzipation
der Bauernschaft fördern.' In der Folge ist Pramoedya A. Toer für den
* Leicht geänderte Fassung des auf dem XXIV. Deutschen Orientalisten¬
tag in Köln 1988 gehaltenen Referats.
' Die Buchpublikation des Verlags Hasta Mitra enthält kleinere Verände¬
rungen im Detail. Da mein Beitrag nicht auf eine vollständige Interpreta¬
tion des Romans abzielt, sondern sich mit dessen Gesamtanlage im Kon¬
text einer kultur- und sozialpolitischen Neuorientierung des Autors be¬
faßt, bleiben diese unberücksichtigt. Im Text eingefügte Seitenangaben beziehen sich auf die Buchausgabe.
2 An fiktionalen Werken hat Pramoedya A. Toer in jenen Jahren neben
einigen Kurzgeschichten und Gefängnisberichten allein die Romane Se¬
kali Peristiwa di Banten Selatan (,, Einmal in Süd-Banten", 1959) und Gadis Pantai veröffentlicht. In biographischen Notizen für Sävitri Sche¬
rer führt er dazu aus, er habe bis 1965 eine Schreibpause einlegen und sei¬
ne Zeit für historische Studien zur indonesischen Nationalbewegung und den Anfängen der modernen indonesischen Literatur nutzen wollen. Vgl.
Scherer: From Culture to Politics, S. 23.
' Vgl. Pramoedya A. Toer: Tendensi kerakyatan.
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Übergang zur Gelenkten Demokratie eingetreten und hat während der ersten
Hälfte der 60er Jahre die linksnationalistische Politik Sukarnos mitgetragen.
Gleichzeitig setzte er sich — z. T. in Zusammenarbeit mit dem Institut für
Volkskultur (Lembaga Kebudayaan Rakyat) — für die Durchsetzung einer
„volksorientierten" (kerakyatan) Kunstproduktion ein, in deren Mittel¬
punkt nicht die individuellen Erfahrungen und Sorgen eines Künstlers aus
der verarmten städtischen Intelligenz stehen sollten, sondern die Lebensbe¬
dingungen und Hoffnungen der breiten Masse der Bevölkerung, d. h. ihr
Schrei und Streben nach einem materiell und kulturell erfüllten, menschen¬
würdigen Leben. Pramoedya A. Toer schreibt in seinen Aufsätzen aus jenen
Jahren der volksorientierten Literatur zwei Funktionen zu: Sie ist ein Me¬
dium, mit dessen Hilfe die Lage der Masse der Bevölkerung dargestellt und
Anklage gegen Ausbeutung und Unterdrückung erhoben werden kann,
gleichzeitig aber auch ein Mittel zur Aufklärung der Unterschicht und damit
zur Steigerung von Selbstachtung und Kampfkraft der Volksbewegung. Da¬
bei ist er sich des sozialen und kulturellen Abstandes zwischen den Schrift¬
stellern, die in der Regel der städtischen Mittelschicht entstammen, und den
Angehörigen der breiten Masse der Bevölkerung durchaus bewußt. Er pro¬
pagiert Studien- und Arbeitsaufenthalte von Schriftstellern auf dem Land:
Im unmittelbaren Kontakt mit dem Volk sollten sie dessen Lebensbedingun¬
gen, Hoffnungen, Kämpfe und Ziele kennenlernen.'* Des weiteren beschäf¬
tigt er sich Mitte der 50er Jahre in seinen Aufsätzen erstmals mit traditionel¬
len literarischen Formen und der volkstümlichen Überlieferung.^ Wesentlich
geprägt wurde sein Bild einer politisch engagierten Literatur neben der Be¬
gegnung mit Werken des soziahstischen Realismus durch seine Neu-Ent-
deckung der frühen indonesischen Literatur in Umgangsmalaiisch. Diese po¬
puläre Literatur aus den ersten Dekaden dieses Jahrhunderts, die er mit dem
Begriff ,, prä-indonesisch" charakterisierte und die er aufgrund ihrer großen Bandbreite teils der Trivialliteratur, teils der Dichtung im engeren Sinne zu-
" Er kritisiert eine rein pittoreske Darstellung des Volkslebens und jede volkstümelnde Identifikation mit den ,, kleinen Leuten" und warnt vor einer idealisierenden oder auch nur sentimentalen Darstellung des Lebens
der breiten Masse. Nur durch die bewußte Auseinandersetzung mit Ge¬
sellschaft und Politik könnten diese Gefahren vermieden werden. Vgl.
Pramoedya A. Toer: Tendensi kerakyatan.
' Er erzählt Volkserzählungen und Mythen aus der einheimischen histori¬
schen Tradition nach (Calon Arang, 1954; Babad Tanah Jawa. In: Star
Weekly 1956) und beschäftigt sich mit den Charakteristika und der
Funktion tradUioneller literarischer Gattungen (vgl. z. B. in: Mimbar In¬
donesia X/39—X/43, 29. 9.-27. 10. 1956; Republik 8./29. 7. 1959).
Beides ist auch als ein Versuch zu sehen, die volksnahe Literatur für sich aufzuarbeiten, um als moderner Schriftsteller eine literarische Öffent¬
lichkeit außerhalb der intellektuellen Elite Jakartas ansprechen zu kön¬
nen.
ordnete, beeindruckte ihn durch ihren vielfach sozialkritischen, z. T. offen
antikolonialen und agitatorischen Charakter. Seiner Ansicht nach sollte eine
postkoloniale volksorientierte Literatur diese revolutionäre Tradition inner¬
halb der indonesischen Literatur aufarbeiten und fortsetzen.*
Sävitri P. Scherer hat in ihrer Dissertation gezeigt, daß der Roman
Gadis Pantai Ideen transportiert, die mit dem politischen Bekenntnis Pra¬
moedya A. Toers während der 60er Jahre übereinstimmen. Ihrer Beobach¬
tung nach geht der Roman über die damals verbreitete progressive Kritik an
der Verachtung und Gefühllosigkeit des Adels (priyayi) gegenüber dem ge¬
meinen Volk (wong cililc) hinaus, indem eine latente Feindschaft und Ge¬
waltbereitschaft zwischen Adel und Volk dargestellt werden. Sie wertet dies
als einen revolutionären Bruch mit dem /7n>ö>'/-Denken, insbesondere mit
dem traditionellen javanischen Harmonie-Ideal. Sie deutet dabei den Roman
auch als Ausdruck der gesellschaftlichen Spannungen im Indonesien der 60er
Jahre, die der Autor frühzeitig registriert habe und die 1964 mit den einseiti¬
gen Landnahme-Aktionen der Bauernschaft zur Verwirklichung der Landre¬
form virulent geworden seien.^
Hiervon ausgehend soll im folgenden gezeigt werden, daß die ,, Volks¬
orientierung" in diesem Roman nicht nur eine Frage der intendierten Ideen
ist. Der Autor versucht mit dem Roman Rezeptionsgewohnheiten und sozio¬
kulturelle Deutungsmuster anzusprechen, die er bei einer breiteren literari¬
schen Öffentlichkeit vermutet.* Die von ihm eingesetzten Romantechniken
entstammen dabei einerseits der europäischen Tradition aufklärerisch-
reahstischen Erzählens mit einer deutlichen Psychologisierung der Protago¬
nisten, sowie andererseits dem handlungsorientierten Unterhaltungsroman.
Themen und Motive erscheinen durch die politische Analyse der sozialen
Wirklichkeit, aber auch durch Rückbezüge auf die frühe indonesische Unter¬
haltungsliteratur sowie durch Anspielungen auf Volkserzählungen und My¬
then bestimmt.
Als historischer Roman schildert Gadis Pantai anhand fiktiver Gestalten
die sozialen Verhältnisse in der javanischen Gesellschaft um die Jahrhundert¬
wende. Dabei fordert der Autor das populäre Geschichtsbild im gegenwärti¬
gen Indonesien insofern heraus, als er nicht von einem Gegensatz zwischen
den europäischen Kolonialherren einerseits und den unterdrückten Einheimi¬
schen andererseits ausgeht, sondern in den Mittelpunkt seines Romans den
' Vgl. Pramoedya A. Toer: Realisme Sosialis. Einen Teil des von ihm wie¬
derentdeckten Materials enthält sein Band Tempo Doeloe.
' Vgl. Scherer: From Culture to Politics S. VIII, S. 248 ff.
* Da der Roman 1962 als Fortsetzungsroman veröffentlicht wurde, konnte Pramoedya A. Toer mit einer Leserschaft rechnen, die über die kleine li¬
terarische Öffentlichkeit um die führenden Literaturzeitschriften und Feuilletons der 50er Jahre hinausging.
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gesellschaftlichen Widerspruch zwischen dem mit der Kolonialmacht paktie¬
renden javanischen Adel und dem gemeinen Volk steht. Heldin des Romans
ist eine junge Frau aus dem Volk, d. h. aus der Schicht, die der Autor mit
dem Roman primär ansprechen will. Es werden ihre drei Ehejahre als Ne¬
benfrau eines javanischen Adligen beschrieben. Im Alter von 14 Jahren
kommt die Heldin, das schönste Kind aus einem armen Fischerdorf an Javas
Nordküste, in den Haushalt eines ,, frommen", dem orthodoxen Islam zuge¬
neigten Adligen, der als Beamter der Kolonialregierung in der Distriktstadt Rembang lebt.
Mit der Konstruktion der Heldin als Nebenfrau eines Adligen greift der
Autor eine in der prä-indonesischen Unterhaltungsliteratur weitverbreitete
Figur auf, nämlich die der Konkubine (nyai) eines weißen Kolonialisten. Die
Heldin, die mit dem Titel Mas Nganten als halb-anerkannte Ehefrau (selir) in
dem städtischen Adelshaushalt lebt, unterscheidet sich in ihrem sozialen Sta¬
tus nicht von der nyai: Beide sind letztlich Konkubinen und damit vollkom¬
men von ihren Ehemännern abhängig, die sie jederzeit — mit oder auch ohne
ihre Kinder — des Hauses verweisen können, ohne daß die Frauen in der La¬
ge wären, einen Anspruch auf Kompensation oder auch auf ihre Kinder gel¬
tend zu machen.' Als Konkubinen sind sie ferner weitgehend auf die soziale
Rolle der Liebhaberin, Haushälterin und ggf. Mutter reduziert — und dies
mehr als jede andere gutsituierte Ehefrau, da sie von den sozialen Kontakten
des Ehegatten vollkommen ausgeschlossen sind. Folglich ist in der prä¬
indonesischen Unterhaltungsliteratur die Figur der nyai vielfach Anlaß für
,,Sex-and-Crime"-Geschichten. In den mehr sozialkritischen Geschichten
werden hingegen die sozialen und politischen Aspekte der Rolle der nyai stär¬
ker akzentuiert.'" An letztere knüpft Pramoedya A. Toer bei der Behandlung
seines Stoffes an. Ibm dient die Ehe zwischen den beiden sozial ungleichen
Partnern dazu, das gesellschaftliche Verhältnis zwischen dem Adel und dem
' Tirtoadhisoerjo hat ungefähr im historischen Handlungszeitraum von
Gadis Pantai in seinem Roman Busono auf die identische soziale Stellung der Konkubine eines Europäers und der Nebenfrau eines einheimischen Adligen hingewisen. Weiter erklärt der Protagonist dieses Romans einer nyai, daß ihr zukünftiges Kind in seiner rechtlichen und sozialen Stellung
— bei Anerkennung durch den Vater — dem Vater angeglichen wird, so
daß es eine gute schulische Ausbildung erhalten kann. Vgl. Pramoedya A. Toer: Sang Pemula S. 386 f.
Im Roman Gadis Pantai erklärt sich die Heldin bereit, ihre Ansprüche
auf ihr Kind aufzugeben, um diesem dadurch eine höhere soziale Stel¬
lung und eine gute Ausbildung zu ermöglichen (S. 181 f.). Ihre emotio¬
nale Bindung an das Kind sowie die Kälte und Herzlosigkeit ihres Herrn drängen sie am Schluß der Romanhandlung jedoch zu dem erfolglosen Versuch, das Kind bei sich zu behalten (S. 184 f.).
"* Vgl. Watson: Some preliminary remarks; Sykorsky: Some additional
remarks; Pramoedya A. Toer: Sang Pemula S. 293 ff.
gemeinen Volle zu illustrieren. Als Folge der sozialen Ungleichheit erscheint
dabei die Reduzierung der Frau zum Objekt. So begibt sich der adlige Bräuti¬
gam nicht persönlich zur vertraglichen Eheschließung ins Dorf: Das Mäd¬
chen wird nur mit dem Schwert (kris) des Bräutigams verehelicht. Weiter
empfängt der feudale Herr bei der Übergabe der Braut im Adelshaushalt
nicht seinen Schwiegervater, sondern verhandelt einzig mit dem Dorfvorste¬
her."
Bei der literarischen Gestahung der ersten beiden Teile des Romans, die
den Wechsel der Protagonistin ins adlige Milieu und ihre ersten zwei Ehejah¬
re beschreiben, orientiert sich der Autor vornehmlich an der realistischen Er¬
zählliteratur des 19. Jahrhunderts. Er fixiert den ungenannt bleibenden
Schauplatz der Erzählung durch eine detail-realistische Beschreibung des In¬
terieurs des feudalen Haushalts und der dort geltenden Verhaltensnormen.
Die Identifikation des Lesers, die durch die gleiche soziale Herkunft von
Heldin und Adressaten vorbereitet ist, wird durch die Erzählperspektive und
die Psychologisierung einzig der Heldin verstärkt. So berichtet der auktoriale
Erzähler überwiegend aus der Perspektive der Heldin, und allein deren psy¬
chologische Entwicklung wird offengelegt. Die Heldin, die nur widerstre¬
bend auf Geheiß ihrer Eltern im Haushalt ihres höhergestellten Gatten
bleibt, wird sich sehr schnell ihrer unsicheren sozialen Situation in Abhängig¬
keit von ihrem Gatten bewußt. Die Fremdheit der Heldin in ihrer neuen Le¬
benswelt, ihre Unkenntnis des feudalen Milieus und der dort geltenden Ver¬
haltensnormen, aber auch ihre Unfähigkeit, ihre Bedürfnisse und Träume in
dieser neuen Welt zu erfüllen, ermöglichen die kritische Reflexion der höfi¬
schen Kultur. Damit ist für den Autor die Aufsteigerin aus der Unterschicht
— ähnlich wie in der aufklärerisch-satirischen und sozialen Literatur Euro¬
pas — ein Instrument zur Kritik an Lebensweise und Verhaltensnormen des
Adels auf der Basis der mutmaßlich gemeinsamen Wertvorstellungen von
Heldin und Adressatenkreis. So wiid den direkten zwischenmenschlichen Be¬
ziehungen im Dorf die Isolation und Angst des Individuums in der Befehls¬
hierarchie des städtischen Adelshaushalts gegenübergestellt; die rauhe Herz-
" Von seinem aufklärerischen Standpunkt aus hatte bereits im 19. Jahr¬
hundert Abdullah bin Abdul Munshi das Eheverhalten der malaiischen Könige und Prinzen kritisiert und sich insbesondere gegen die Praxis der
adligen Herren gewandt, sich bei ihren häufigen Eheschließungen mit
Dorfmädchen durch ihren kris vertreten zu lassen. Vgl. Abdullah bin
Abdul Kadir Munshi: Hikayat Abdullah. Bd. II, S. 374. Diese Parallele ist nicht zufällig: Für Pramoedya A. Toer ist Abdullah bin Abdul Kadir Munshi der erste Vertreter eines aufklärerischen Denkens im indonesi¬
schen Raum. Vgl. Pramoedya A. Toer: Sastra Indonesia; ders.: Realisme Sosialis S. 40.
Für den javanischen Kulturbereich sind solche Eheschließungen belegt in Palmier: Social Status and Power S. 54.
550 Martina Heinschice
Hchkeit, Liebe und Opferbereitschaft, die die Heldin aus ihrer Familie und
dem Dorf kannte, stehen im Gegensatz zu einer WeU voll distanzierter Höf¬
lichkeit und Kälte, in der der differenzierte Ehrenkodex nicht der Achtung
von Gerechtigkeit und der Würde des Individuums dient, sondern allein der
äußerlichen Wahrung von Ansehen, Macht und Besitzstand des Adels; die
relative Gleichberechtigung zwischen den Geschlechtern im Dorf, wo Mann
und Frau sich die Arbeit teilen, bildet den Kontrast zum Dasein der Protago¬
nistin als Besitz und Dienerin ihres Mannes.'^ Dabei stellt der Autor, vermit¬
telt über seine Heldin, die Zweiteilung der Gesellschaft in befehlende Herren und arbeitendes Volk sowie die traditionelle Herrschaftslegitimation infrage.
Die Heldin kann nicht verstehen, warum körperliche Kraft und Leistungsfä¬
higkeit, die den Reichtum der Natur zum Wohl der Menschen nutzbar ma¬
chen, mit sozialer, politischer und wirtschaftlicher Ohnmacht verknüpft
sind. Auch der Verweis auf das Schattenspiel (wayang) mit seinen feingliedri¬
gen Helden oder auf die göttliche Vorbestimmung können für sie dieses Pa¬
radox nicht lösen.
Der Gegensatz zwischen Adel und gemeinem Volk wird im Roman bis
zum offenen Konflikt zugespitzt. Nach ersten Auseinandersetzungen mit
Verwandten ihres Ehegatten erhält die Protagonistin eine junge Frau aus
dem niederen Beamtenadel zur Zofe. Diese, Mardinah mit Namen, versucht
ihre Abstammung und ihre städtische Erziehung gegen ihre schulisch nicht
gebildete Herrin auszuspielen. Nach einer kurzen Verunsicherung weiß die
Heldin aber ihre soziale Position gegen die Herausforderin einzusetzen. Der
Konflikt zwischen den beiden Frauen ist damit aber noch nicht beendet,
denn die Zofe hat nicht nur persönliche Vorbehalte gegen ihren Dienst bei
einer Herrin aus dem gemeinen Volk. Vielmehr ist sie von einer Familie aus
dem Geburtsadel in der Nachbarstadt Demak gedungen, um das Küstenmäd¬
chen aus dem Haushak ihres Gatten zu eliminieren, damit der Weg frei wird
für dessen standesgemäße Hochzeit mit der Tochter der Adelsfamilie aus De¬
mak." Mardinah, die ihre /7n>ß>'/-Herkunft stets unterstreicht, erscheint so¬
mit als Handlangerin des Geburtsadels (bendoro).
Nachdem die psychologischen und sozio-kulturellen Aspekte des Konflikts
entfaltet sind, befaßt sich der dritte Teil des Romans mit einer ersten Kon-
'2 Die Beschränkung der Frau auf den Haushalt haben gebildete priyayi- Töchter zu Beginn dieses Jahrhunderts vielfach krkisiert, wobei sie — ähnlich wie dies im Roman geschieht — ihre Position mit der von ihnen aber idealisierten freieren Position der Bauernfrauen verglichen haben.
Vgl. Pramoedya A. Toer: Sang Pemula S. 77 f.
" Damit wird die Rolle der Heldin im Haushalt ihres Herrn aufgewertet, der nach dem feudalen Sittenkodex von den Angehörigen seiner Schicht eigentlich als ledig angesehen wurde (vgl. S. 85, 168). Zum Verhältnis
von Nebenfrauen und Hauptfrau vgl. auch Palmier: Social Status and
Power S. 50 ff.
fliktlösung, wobei die Angehörigen der Unterschicht ihre Belange selbst in
die Hand nehmen. Bei der literarischen Gestaltung dieses Teils, der den
Adressaten auch Möglichkeiten eigenen Handelns veranschaulichen soll,
setzt der Autor spannungsvermittelnde Elemente der Unterhaltungsliteratur
ein. Das Komplott gegen die Heldin wird deuthch bei einem Besuch in ihrem
Heimatdorf, bei dem sie von Mardinah begleitet wird. Nach einem herzli¬
chen Empfang durch das ganze Dorf erkennen die Dorfbewohner die Gefahr
für die Heldin. Um das Mordkomplott zu verhindern, simulieren sie schlie߬
lich einen Piratenangriff, bei dem sie Mardinahs bewaffnete Begleiter beseiti¬
gen können. Die Protagonistin verdankt ihre Rettung damit nicht, wie im
herkömmlichen Unterhaltungsroman, einem einzelnen Helden, der aus Lie¬
be oder Edelmut handeh, sondern den gemeinsamen Aktionen der Dorfbe¬
wohner.
In diesen Abschnitten einer Abenteuer- und Kriminalgeschichte, die der Autor
mit Sicherheit auch aufgrund vermuteter Lesererwartungen eingefügt hat, rea¬
lisiert er fiktional die Idee eines sohdarischen Handelns von Dorfbewohnern.
Die Entschiedenheit, mit der der Vater der Heldin im Kontext der solidari¬
schen Dorfgemeinschaft handelt, steht dabei in einem deutlichen Gegensatz
zu dessen Verwirrung und Angst bei der Übergabe seiner Tochter im Haus
des adligen Herrn. Der Roman illustriert so, zu welcher Größe und zu wel¬
chen Fähigkeiten Individuen in einer solidarischen Gemeinschaft heranwach¬
sen können, und vermittelt eine Vorahnung von der Fähigkeit der Masse der
Bevölkerung, als solidarisch handelndes Subjekt die Geschichte zu gestalten.
Pramoedya A. Toer hat hier — wie dies auch andernorts in den 60er Jahren
geschehen ist — sozialrevolutionäres Gedankengut mit der traditionellen in¬
donesischen Vorstellung von Zusammenarbeit und gegenseitiger Hilfelei¬
stung (gotong royong) verbunden. Als Strafe für Mardinah beschließt die
Dorfgemeinschaft deren Zwangsverehelichung mit dem Troubadour und
Nichtsnutz des Dorfes. In ihrer verzweifelten Lage akzeptiert sie das Urteil.
Mardinah, die sich als Zofe trotz ihrer besseren Herkunft bereits in der mate¬
riellen Lebenssituation des gemeinen Volkes befand, fügt sich und gibt lang¬
sam ihr kulturelles Vorurteil gegenüber der Unterschicht auf. Damit besteht
am Ende des dritten Teils der grundsätzliche Widerspruch zwischen Adel
und Volk aber noch fort, und es wurde allein das solidarische Handeln der
Unterschicht als ein möglicher Weg zur Konfliktlösung vermittelt.
Im vierten Teil des Romans liegt der Schwerpunkt wieder auf der Darstel¬
lung der psychologischen Entwicklung der Heldin. Zurück in ihrem städti¬
schen Haushalt, erfüllt sie mit wachsender innerer Distanz ihre Pflichten ge¬
genüber ihrem Gatten und Herrn, für den auch sie mittlerweile den Reiz des
Neuen verloren hat. In ihrer Einsamkeit wünscht sie sich ein Kind, das ihrem
Leben einen Inhalt geben könnte. Die bald darauf einsetzende Schwanger¬
schaft verändert jedoch nichts an der Beziehung zwischen den Eheleuten. Als
die Protagonistin schließlich ,,nur" eine Tochter gebiert, nimmt ihr Gatte
552 Martina Heinschke
das Kind kaum zur Kenntnis. Drei Monate später tritt das Unvermeidliche
ein, das die Heldin hat ahnen können, bis dahin aber doch in seiner letzten
Konsequenz stets verdrängt hat: Ihr Vater wird von ihrem Herrn in die Stadt
gerufen, nicht, um sein Enkelkind zu sehen, sondern um seine Tochter als ge¬
schiedene Frau wieder zu sich zu nehmen, während das Kind im Besitz des
Mannes bleibt. Die junge Frau, die sich von ihrer Tochter nicht trennen will,
wird gewaltsam aus dem Haus gejagt.
Mit diesem Ausgang der Ehe stellt Pramoedya A. Toer die soziale Wirk¬
lichkeit zahlloser Nebenfrauen des Adels dem auch javanischen Märchen
vom einfachen Mädchen, das Königin wird, gegenüber. Der Ehemann, der
seine Frau nicht als Mensch wahrnimmt, verkörpert dabei nicht nur die kul¬
turelle Arroganz des Adels. Der Autor stellt vielmehr die Adelsherrschaft
insgesamt infrage. In der traditionellen Literatur Indonesiens wird das Ver¬
hältnis Herrscher — Volk häufig als Beziehung eines Mannes zu seiner Frau
dargestellt, wobei die Frau das Reich, Land und Volk, verkörpert. Das Ge¬
lingen der Ehe ist dabei Symbol für eine gerechte Herrschaft: Als Vermittler
zwischen der kosmischen und irdischen Ordnung sorgt der Herrscher für
einen blühenden Staat, zeigt Respekt und Wohlwollen gegenüber seinen Un¬
tertanen und schützt diese vor äußeren und inneren Feinden, während das
Volk dem Herrscher vollkommene Loyalität entgegenbringt.'" Daß die Ehe
im vorliegenden Fall gescheitert ist, beweist neben der Verstoßung der Heldin
aus dem Adelshaushalt auch ihr Name: Der sprechende Eigenname Gadis
Pantai (,, Küstenjungfrau") unterstreicht, daß die Heldin unverändert aus
dieser unfreiwilligen Ehe hervorgeht, d. h. aus ihr keinen materiellen oder
ideellen Nutzen ziehen kann. Die Betonung ihrer Jungfräulichkeit verweist
ferner auf die Erneuerungsfähigkeit und damit letztlich Unsterblichkeit des
Volkes. Illegitim ist dem Roman zufolge die Adelsherrschaft deshalb, weil
der Adel das Volk nicht respektiert und auch seine Schutzfunktion ihm ge¬
genüber nicht wahrnimmt. Er verteidigt das Volk nicht gegen die Kolonial¬
macht, sondern paktiert mit dieser und setzt damit das Volk Ausplünderung
und Unterdrückung aus (S. 59). Daher erscheint im Roman die Emanzipa-
Vgl. hierzu Muzaffar: Protector? S. 3 ff. sowie Jordaan/Josselin de
Jong: Sickness as a Melapor, die für den javanischen Kulturkreis auch auf die Gestalt der Nyai Lara Kidul (Göttin des südlichen Ozeans) ver¬
weisen. Charakteristisch für die javanische Herrschaftskonzeption ist die
Vorstellung der Komplementarität und gegenseitigen Abhängigkeit von
Herrscher und Volk; vgl. MoERTONO: State and Statecraft in Old Java,
der auch Aufgaben und notwendige Charakterqualitäten eines idealen
Herrschers beschreibt. Es gehörte stets aber auch zum ganz realen
Machtkalkül kleiner und großer Herrscher, sich mittels Eheschließungen mit Frauen aus dem Volk der Loyalität der Dörfer zu versichern, aus de¬
nen diese Frauen stammten. Vgl. Palmier: Social Status and Power
S. 56.
tion der Bauernschaft als notwendige Voraussetzung für nationale Unabhän- gigiceit und Entwicklung.'^
Die Protagonistin hat im Verlauf der Romanhandlung einige Schritte auf
diesem Weg zurückgelegt. Aufgrund ihrer Herkunft aus einem armen Fi¬
scherdorf, das wegen seiner geographischen Abgelegenheit nur wenig durch
die Kultur der Herrschenden (Schattenspiel, Religion) berührt war, sowie
sensibilisiert durch ihre eigenen Erfahrungen in der feudalen Lebenswelt,
kann sie intuitiv die lange Geschichte des Leidens und des Widerstands des
gemeinen Volks gegen feudale und koloniale Unterdrückung erfassen.'* Sie
kehrt daher nach ihrer Scheidung nicht in ihr Dorf zurück, wo die Menschen
in der Not zwar zu ihr standen, im Grunde aber die soziale Ungleichheit noch
akzeptieren. Sie will in der Kleinstadt Blora ein eigenes Leben beginnen. Der
geschilderte Lebensabschnitt der Protagonistin etidet so mit einem Hinweis
auf die Geburtsstadt des Autors, der laut Vorrede die fiktive Gestalt der Hel¬
din in Erinnerung an seine ihm weitgehend unbekannte Großmutter geschaf¬
fen hat. Mit dem angedeuteten Weg in die Stadt spannt Pramoedya A. Toer
den Bogen zu dem sozialen Milieu, in dem wenige Jahre später die nationale
Bewegung sich als neue politische Kraft herausbildete. Diese Entwicklung
beabsichtigte er in zwei folgenden Romanbänden darzustellen. Es ist bedau¬
erlich, daß diese Werke im Zuge der Verfolgung des Autors seit 1965 verlo¬
rengegangen sind.
BIBLIOGRAPHIE
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Mataram Period, I6th—I9th Century. Ithaca, New York 1968.
'5 Im Roman wird der Ausspruch eines Befehlshabers (penewu) zu seinem
Untergebenen zur Zeit des Diponegoro-Aufstandes (1825—1850) zitiert:
,,Du dienst diesem Land, das Dir Reis und Wasser spendet. Aber die Kö¬
nige, Prinzen und Provinzadligen haben diese heilige Erde den Nieder¬
ländern verkauft. Du kämpfst jetzt gegen sie, und eine Generation allein
kann diesen Kampf nicht gewinnen. Erst wenn aber Könige, Prinzen und
Provinzadlige besiegt sind, wirst Du den Niederländern gegenüberstehen, und wer weiß, in wieviel Generationen. Aber diese Arbeit muß begonnen werden." (S. 80 f.). Indem der Roman auf die Stärkung des Selbstbe¬
wußtseins der Unterschicht abzielt, wird deutlich, daß für den Autor die¬
ser Emanzipationsprozeß mit dem Erlangen der nationalen Unabhängig¬
keit noch nicht beendet war.
Im Roman ist diese Geschichte über Erzählungen von Nebenfiguren prä¬
sent.
554 Martina Heinschice
Muzaffar, Chandra: Protector? An anatysis of the concept and practice of
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Palmier, Leslie H.: Social Status and Power in Java. London 1960.
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Ein Beitrag zur buginesisch-malaiischen Geschichtsschreibung in West-Kalimantan
Von Fritz Schulze, Köln
In der klassischen malaiischen Literatur nimmt die Geschichtsschreibung einen breiten Raum ein, wobei ,, breit" auch durchaus im geographischen
Sinne des Wortes zu verstehen ist. Malaiische Chroniken berichten über die
Reiche von Aceh und Pattani im Westen ebenso wie jene auf den Molukken
im Osten. Was die Anzahl der Quellen angeht, so sind klare Schwerpunkte
zu erkennen: Ost-Sumatra und der Riau-Lingga-Archipel. Demgegenüber
hat die malaiische Geschichtsschreibung auf Kalimantan/Borneo einen be¬
scheideneren Umfang, wobei die von Banjermasin durch die größere Anzahl
der erhaltenen Texte eine gewisse Ausnahme darstellt. Die Edition der
Banjermasin-Chronik war auch Gegenstand der bisher umfangreichsten Ar¬
beit zur Kalimantan-Historiographie, und zwar jene von Ras verfaßte
(1968); um die gleiche Zeit publizierte Sweeny eine TransUteration der
Brunei-Chronik (1968); die Chronik von Kutai war bereits früher von Mees
und Kern herausgegeben und kommentiert worden (Mees 1935; Kern
1956). Wer sich für die Geschichtsschreibung des Westteils der Insel, der ehe¬
maligen Westerafdeeling von Borneo, interessiert, muß, wenn man von je
einem Aufsatz des Verfassers und von Kratz zur Silsilah Raja-Raja Sambas
absieht (Schulze 1987; Kratz 1980), bereits das Schrifttum des letzten
Jahrhunderts heranziehen. Netscher edierte 1852 die Sambas-Chronik und
1855 die Chronik von Pontianak, womit die wichtigsten Arbeiten bereits ge¬
nannt sind. Erwähnt werden muß noch Willer, seinerzeit Resident der Nie¬
derländer in Pontianak, der die einheimische Überheferung des Herrscher¬
hauses von Pontianak durch umfangreiches Material aus hoUändischen
Quellen ergänzte (1855—57).
Das Hikayat Upu Daeng Menambun, wie es uns heute in einem Exemplar
in der Universitätsbibliothek Leiden vorliegt, war den Europäern zu jener
Zeit unbekannt und hat auch bis heute in der Wissenschaft nicht die ihm ge¬
bührende Aufmerksamkeit gefunden.
Das Hikayat Upu Daeng Menambun ist ein Text, der keineswegs isoliert
steht, sondern eingebunden ist in eine ganze Gruppe von malaiischen Ge¬
schichtswerken, wobei die Berührungspunkte nicht nur bei Texten aus West-
Kalimantan liegen. Betroffen ist darüber hinaus die Geschichtsschreibung des Riau-Lingga-Archipels.
Das Hikayat Upu Daeng Menambun liegt uns, wie bereits erwähnt, in
einem Exemplar vor, wird in der Universitätsbibliothek Leiden unter der Sig¬
natur Cod. Or. 1754 verwahrt und ist im Handschriften-Katalog von JUYN¬
BOLL (1899) auf S. 244 (und nicht, wie im Inhaltsverzeichnis angegeben, auf