von Geenot L. Windfuhb, Ann Arbor
Der** Samanidendichter Xosravani ist so gut wie unbekannt. Eth£
stellte erstmals zusammen, was er an Material erhalten fand^ und nahe¬
zu alle weiteren Erwähnungen des Dichters scheinen sich auf Eth^ zu
beziehen^. Safa, der offensichtlich auch aus anderen, ungenannten Quel¬
len schöpft, nahm ihn in seinen Gaenj e soxaen auf und widmete ihm
ein Kurzkapitel in seiner Literaturgeschichte*.
Eth:^ und Safa zitieren beide als erstes — und wohl bestes — ein
Gedicht des Dichters, das schon allein der Tatsache seiner Erhaltung
wegen als herausragendes Zeugnis früher persischer Lyrik betrachtet
werden muß. Es scheint die ,, vollkommene Solidität und Kunst"* dieses
Meisters der „formativen" Epoche^ wohl zu belegen.
* Ich habe Geobge G. Camebon, Kenneth A. Lutheb, James Stewabt-
Robinson und Walteb Andbews für wertvolle Vorschläge imd Hilfe zu
danken.
*♦ Die Transkription folgt der gegenwärtig in Amerika weithin aner¬
kannten Weise, die auf der heutigen Standardaussprache beruht. Somit ist
auch das Gedicht umschrieben wie in der Universität Tehran gehört. Jeder
Kenner wird leicht die zugrundehegenden persischen Buclistaben rekon¬
struieren können. Für die folgende Analyse ist die Orthographie unwesentlich.
' Hebmann Ethä, Fünf Lieder Khusraväm's und Abü NoQr Oilänt'a,
Sitzungsberichte der Bayerischen Akademie der Wissensehaften, phil.-hist.
Klasse (München 1873) pp. 654—59, wo der volle Name des Dichters lautet:
Aebu Taher Taebib b. Mohaemmaed Xosraevani.
* Gemeint sind westliche Zitierungen, z.B. Edward G. Bbowne, A Literary
History of Persia, vol. I (reprint Cambridge 1956), p. 466. Daß der
Dichter nicht allgemein als bedeutend angesehen wird, zeigt die Tatsache,
daß er fehlt bei Jan Rypka, Iranische Literaturgeschichte (Leipzig 1959).
Zu Erwähnungen des Dichters in persischen Werken siehe A. Xaeyyampub,
Faerhaeng e Soxaenvaeran (Tabriz 1340) p. 191.
* ZAEBiH:OLLAHSAErA,öa6nje(S'oa;oen,vol.I(2ndod.Teliranl339)pp. 18—9,
sowie Tarix e Aedaebiyat daer Iran, vol. I (3rd ed. Tehran 1338) p. 398.
Nach Saja (so umschreibt er sich selbst) ist im Namen des Dichters Taebib
durch Taeyyeb zu ersetzen. Er nimmt an, daß der Dichter vor dem Ende
der zweiten Hälfte des 4. Jhts. gelebt habe (= 10. Jht.).
* So die Wiedergabe ETHi;s von kämet e saen'aet vae maetanaet, loc. cit.
" vgl. Alessandro Bausani, „Ghazal. II. In Persian Literature" The
Encyclopedia of Islam (New Edition. Volumen II, Fasciculus 39) pp. 1033 36.
Dieser Hinweis impliziert die Vermutung, daß es sich bei dem Gedicht
um ein Ghazel handelt; es ist aber nicht ausgeschlossen, daß es das Ende
einer Qaside ist, siehe Eth6, loc. cit. Anm. 2.
16 ZDMQ 119/2
230 Gebnot L. Windfuhe
Daher der folgende Versuch, anhand dieses Gedichts den Gründen für
das traditionelle Urteil über Xosravanis künstlerische Fertigkeit nach¬
zugehen. Da ohne Zweifel die Einbeziehung zuvieler Strukturebenen im
ersten Ansatz eher verwirren als erhellen würde*, beschränkt sich die
Analyse auf ein Detail der Gedichtstruktur, und zwar die Verteilung von
auffäUig wiederholten Wörtern über das Gedicht. Sicher ist die Wieder¬
holung an sich schon eine Technik zum Ausdruck und zur Hervorhebung
von Motiven. Das allein aber ist nicht notwendig ein Zeichen von großer
Könnerschaft. Vielmehr ist zu vermuten, daß es die Wahl wie auch die
besondere Verteilung der wiederholten Motivwörter in diesem Gedicht
ist, die Xosravanis ,, vollkommene Solidität und Kunst" ausweisen
können'.
Vorbemerkung: Die Überlieferung des Gedichts ist nicht eindeutig;
Safas Version weist zwei Zeilen auf (ohne Angabe der Quellen), die der
im Botxane (die Grundlage für Ethes Version) fehlen; und umgekehrt.
Der Wortlaut der den beiden Versionen gemeinsamen Zeilen ist jedoeh bis
auf eine Ausnahme (dazu später) gleich. Einige Abweichungen in anderen
MSS gibt Ethe in seinen Fußnoten*.
Dieser Umstand verhindert jedoch keineswegs eine kompositions¬
technische Untersuchung des Gedichts in seiner überlieferten Form. Im
Gegenteil, es ist nicht ausgeschlossen, daß eine derartige Analyse zu text¬
kritischen Aussagen führen kann, was weiter unten ausführlicher erörtert
werden soll.
Unter diesen Voraussetzungen wird die Version des Botxane (nach
Ethe) einschließlich der beiden zusätzlichen Zeilen bei Safa als Arbeits¬
grundlage genommen, ohne damit textkritische Schlüsse bereits in diesem
Stadium der Untersuchung zu implizieren. Das Gedicht lautet wie folgt
(E = Ethe, S = Safa, G = gemeinsame Zeilenzählung) :
8 Den Fehler einer verfrühten Einbeziehung verschiedener Strukturebenen
begingen Aethub J. Abbebey, Oriental Pearls at Random Strung BSOAS
11 (1943—46) pp.699 —712 wie auch Geobge M. Wickens, The Persian
Conception of Artistic Unity in Poetry and its Implications in Other Fields
BSOAS 14 (1952) pp. 239—-43 und An Analysis of Primary and Secondary
Significations in the Third ghazal of Häfiz BSOAS 14 (1953) pp. 627—38.
Diese anerkennenswerten strukturanalytischen Versuche sind aUgemein
gründlich mißverstanden worden, wie sehr deutlich zu erkennen bei Mary
Boyce, A Novel Interpretation of Hafiz BSOAS 16 (1953) pp. 279—88. Die
vorliegende Untersuchung kann daher auch als Versuch angesehen werden,
Analysen 'hoher' Strukturebenen eine feste Basis zu schaffen.
' Zur Kunstfertigkeit und damit Technik vgl. die Beobachtungen bei
Jan Rypka, op. cit. pp. 105—6.
' Ethö führt seine Quellen einzeln an, loc. cit., Safa jedoch nicht; eine
Fußnote läßt vermuten, daß zumindest eine Quelle Aufi ist, wieder aber ist
nicht gesagt, welche Ausgabe.
GES
11 — maekon piS aez in daer joda'i deraeng
ke aez qaem be janaem resid azraeng
2 2 1 faeqan zan deraengaet be hengam e solh
faeqan zan setabaet be hengam e jaeng
3 3 2 deraengaem be rahaet haeme zan Mab
Setabaem be mordaen haeme zan deraeng
4 4 3 naebvdaest vaeslfeSq e to bi haejr hic
be yekdigaer aendaer zaedaestaend caeng
5 5 4 naehaengist hejran o dueryast eSq
be daerya bovaed javdane naehaeng
6 6 - benalaem be e&q aendaer o nist ar
begeryaem be haejr aendaer o nist naeng
1-5 roxaet did nctetvanaem aez ab e caeSm
soxaen goft naetvanaem aez baes qaeraeng
8-6 rox e tost xorSid o xorsid xak
laeb e tost yaqut o yaqut saeng
9 9 9 nae cun xosraevani nae cun to bota
bot o baerhaemaen did moskuy o gaeng
(Der Querstrich in 4 soll andeuten, daß Safa statt vcksI das Wort eSq
hat.)
Eth6 übersetzt das Gedicht sehr fein. Die beiden zusätzhchen Zeilen
7 und 8 sind von mir mehr prosaisch übertragen :
1 Daß du Einhalt tust der Trennung, o das mag erst dann geschehn,
Wenn aus Kummer meine Seele nah ist gänzlichem Vergehn !
2 Bin ich friedlich still gesonnen, klag' ich über dein Verweilen,
Über dein Enteilen klag' ich, drängt mich's Fehde zu bestehn,
3 Und doch läßt in Ruh mich weilen nur dein schleuniges Enteilen,
Und nur dein Verweilen macht mich schnell dem Tod entgegengehn.
4 Ja, der Trennung konnte niemals deine Liebesgluth entrathen,
Immer sah man eng umschlungen Hand in Hand die beiden stehn.
5 Gleicht dem Crocodil doch Trennung, gleicht doch ganz dem Meer
die Liebe,
Und mit Crocodilen reichlich ist ja stets das Meer versehn !
6 Weckt mir drum die Liebe Seufzer, nun, so ist das keine Schande,
Bringt zum Weinen mich die Trennung, nun — auch das ist kein
Vergehn !
7 Kann ich dein Gesicht nicht sehen bei den Tränen in den Augen,
Karm ich auch nicht mit dir reden bei dem Übermaß an Tränen.
16»
232 Geengt L. Windführ
8 Dein Gesicht, das ist die Sonne, und die Sonne, die ist Staub,
Hyacinth ist deine Lippe, und der Hyacinth ist Stein.
9 Denn nicht Götzen noch Brahmanen hat gleich dir und Khusraväni
Jemals noch ein Tempel, Liebchen, je ein heil'ger Ort gesehen.
Analyse
Die folgende Analyse geht von der Beobachtung aus, daß in diesem
Gredicht eine Reihe von Wörtern in auffälliger Weise wiederholt werden,
die deshalb wohl als Motivwörter gelten können. Als Motivwörter gelten
hier nur solche, die in mindestens zwei Zeilen auftreten (also nicht Wör¬
ter, die nur innerhalb derselben Zeile wiederholt werden). Die Unter¬
suchung dieser Wörter hat das Ziel, ihre Verteilung über das Gedicht
hin aufzuzeigen und ihre Beziehung zueinander wie zum übrigen Gredicht
festzustehen*.
Das Gedicht enthält fünf derart definierte Motivwörter, die in den
folgenden Halbzeilen erscheinen :
la 2a 3a 3b 2b 3a 3b 4a 5a 6b
4 a (bei Safa) 5a
6a 7a 8a
Im folgenden werden nur die deutschen Übersetzungen der Wörter
genannt.
" Zu Beobachtungen der Technilt der Wortwiederholungen in der per¬
sischen Poesie siehe Feiedeich V. Büchnee, Stilfiguren in der panegyrischen
Poesie der Perser. Tabyln wa tafsir und Veruxindtes Acta OrientaUa 2 (1924)
pp. 250—61; imd Gebnot L. Windfuhe, Die Struktur eines Robai ZDMG
118, 1 (1968) pp. 75-78.
deraeng 'Bleiben'
Setab '(Ent-)eilen*
^i*" I 'Trennung' hejran J
eSq 'Liebe'
rox 'Gesicht'
Entsprechend den meist wiederholten Motivwörtern, also wohl Leit-
wörtem, gliedern sich die Zeilen in drei Gruppen:
Gruppe 1 : Zeile 1—3 'Bleiben'
Gruppe 2 : Zeile 4—6 'Trenntmg'
Gruppe 3 : Zeile 7—8 'Gesicht'
Die beiden ersten Gruppen sind in sich auf gleiche Weise weiter tmter-
ghedert ; avif je eine Zeile mit dem Leitwort folgen zwei Zeilen mit dem
Leitwort und dem entsprechenden zweiten Motivwort. Die dritte Gruppe
ist demgegenüber ungegliedert:
Gruppe 1: Zeile 1 'Bleiben'
Zeüe 2—3 'Bleiben' — 'Enteilen'
Gruppe 2 : Zeile 4 'Trennung'
Zeile 5—6 'Trennung' — 'Liebe'
Gruppe 3 : Zeile 7—8 'Gesicht'
Akzeptiert man allerdings in Zeile 4 Safas Variante eSq 'Liebe', würden
die drei Zeilen 4, 5, 6 die gleiche Paarung aufweisen.
Die strukturelle Beziehung der Motivwörter innerhalb der einzelnen
Zeile ist wie folgt: sowohl in Zeile 2 wie in 6 erscheinen beide Motiv¬
wörter der jeweiligen Gruppe als vertikales Oppositionspaar, und
zwar beidemal in der Mitte der Zeilen (vertikale Opposition symbolisiert
durch ^ ):
2 a 'Bleiben' t 2b 'Enteilen' 6 a 'Liebe'
^ 6 b 'Trennung'
Dagegen erscheinen die jeweiligen Motivwörter als horizontales
Oppositionspaar am Anfang und Ende der Halbzeilen (symbolisiert
^):
3 a 'Bleiben' 'Enteilen'
3 b 'Enteilen' -o- 'Bleiben' 4 a 'Liebe' ■«->-'Trennung' 5a 'Trennung' -<->• 'Liebe'
Das Paar in 4a ist gegeben, wenn Safas 'Liebe' akzeptiert wird.
Das einzige Motivwort der dritten Gruppe hingegen erscheint vertikal
wiederh oit über die beiden Zeilen verteilt, also nicht innerhalb derselben
Zeüe, wie die anderen Paare :
7 a 'Gesicht' I 8 a 'Gesicht'
234 Geengt L. Windfuhb
In sehr auffälliger Weise sind die beiden Motivwörter in Zeile 3 verteilt,
und zwar so, daß sie horizontal wie vertikal gleich vierfach op¬
positionell gepaart sind, so daß in der Diagonalen dasselbe Wort
wiederholt wird^":
3a 'Bleiben' -<> 'Enteilen' tX^
3b 'Enteilen' -<> 'Bleiben'
Die gleiche gekreuzte Konstellation wird in Zeüe 4 a und 5 a von
den Motivwörtem der zweiten Gruppe gebüdet, wenn das Wort vaesl
'Vereinigung' entweder als motivisches Äquivalent zu 'Liebe' angesehen
wird oder wenn anstatt dessen das Wort 'Liebe' selbst eingesetzt wird, so
wie es Safa hat. Diese Konstellation überschreitet die Zeüengrenze :
4a 'Vereinigung/Liebe" <> 'Trennung' aV/x
^ /\ ''
5a 'Trennung' < > 'Liebe'
Die gleiche Figur ist auch enthalten innerhalb von Zeüe 5, wo sie von
den Wiederholungen derjenigen Wörter gebildet wird, die expressis verbis
mit den Motivwörtern gleichgesetzt werden :
5 a naehaengist hejran o daeryast eSq
'ein Krokodü ist Treimung, und ein Meer die Liebe'. Die Figur ist:
5a Krokodil <> Meer ty^^
5b Meer -<> Krokodil
Somit finden sich in den beiden ersten Gruppen, Zeüe 1—6, drei
'innere' gekreuzte Viererkonstellationen in Zeile 3,4,5 und zwei vertikale
Oppositionen in Zeüe 2 und 6, die den inneren Kern sozusagen um¬
rahmen. Zeüe 1 ist demnach struktureU abgesondert. In dieser Zeüe
findet sich eine horizontale Opposition, und zwar nicht der Motiv¬
wörter der zugehörigen ersten Gruppe, sondern eine Opposition der Leit¬
wörter der beiden ersten Gruppen : deraeng 'Bleiben' ist das Leitwort der
ersten Gruppe; das diesem vorausgehende Wort joda'i 'Trennung' aber ist
das Leitwort der zweiten Gruppe in seinem persischen Wortlaut ; also :
la 'Trennung' -t> 'Bleiben'
Auch in der dritten Gruppe erkennt man eine ähnliche Viererkonstella¬
tion von zwei Wörtern, wovon allerdings nur eines mit dem zugehörigen
Motivwort gleichgesetzt ist :
8a rox e tost xorSid 'dein Gesicht ist die Sonne'.
Diese Figur ist offensichtlich eine Kombination der Techniken raeddol
'aejz 'ada saedr, d.i. die Wiederholung desselben Wortes am Anfang imd
Ende einer Zeile, und qetarol baeHreyn, d. i. Wiederholung des letzten Wortes der ersten HalbzeUe als erstes Wort der zweiten Halbzeile, sowie inhaltlich von taezadd 'Opposition'.
Das zweite Wort dieser Konstellation aber steht in keinem direkten
Zusammenhang zum Motivwort 'Gesicht' :
8b laeb e tost yaqut 'deine Lippe ist Hyazinth'.
Die Figur ist also : 8a 'Sonne' — 'Sonne'
xy^x
8 b 'Hyazinth'*—^ Hyazinth'
Von den Konstellationen in Zeile 3, 4, 5 weicht diese damit in zwei
Punkten ab:
1. nur ein Wort wird mit dem Motivwort gleichgesetzt;
2. die Diagonalen bezeichnennichtEntsprechungen.sondern Oppositionen.
Schließlich ist Zeile 9 von den Zeilen 1—8 isoliert, da sie kein Motiv¬
wort enthält ; sie konstituiert damit eine eigene, vierte Gruppe in diesem
Gedicht. Diese Zeile hat eine deutlich erkennbare diagonale Wieder¬
holung des Wortes 6o«'Idol': 9a 'IdoP
/ 9 b 'Idol'
Die "Überschau ergibt demnach das folgende Strukturbild (einfache
Linien = Wiederholung; gepfeilte Linien = Oppositionen; die Anord¬
nung der behandelten Wörter entspricht der ungefähren Position inner¬
halb der Halbzeilen) :
la Ib 2a
2b 3a
3 b 4a 4b 5a
5b 6a
6b
'Trennung' <-v 'Bleiben'
'Bleiben' X 'EnteUen'
'Bleiben' .<> 'Enteilen'
iXi
'Enteilen' <-> 'Bleiben'
'Vereinigung/Liebe' -<->- 'Trennung'
X X
'Trennung' .<->■ 'Liebe' 'Krokodil' ■h-> 'Meer'
xS<ix
'Meer' ^ %V 'Krokodil'
'Liebe' X 'Trennung'
W
I
OQ
7a 7b 8a
8b
'Gesicht'
I
'Gesicht' 'Sonne'^—^ 'Sonne'
VA X
'Hyacinth' *^ 'Hyacinth'
^ a d-
9a
9b
'Idol' / 'Idol'
^
236 Gernot L. Windfuhr
('Liebe' in 4a bei Safa.)
Die häufigste Konstellation ist die Viererkonstellation in 3, 4, 5, die
wie folgt charakterisiert ist : Opposition in der Horizontalen, Opposition in der Vertikalen, Gleichheit in der Diagonalen.
Wie jeweilige 'Halbteüe' einer so definierten Konstellation erscheinen
die Paarungen in Zeile 2 und 6, wie auch in Zeüe 1 und in Zeile 9. (Die
rekonstruierbaren Teile werden im folgenden zur Verdeutlichung durch
symbolische Linien angedeutet.)
Die vertikalen Paare in Zeile 2 und 6 erscheinen wie die vertikalen Teile
einer Viererkonstellation:
2 a 'Bleiben' -c-y
t
2 b 'Enteilen' 'W' 6 a 'Liebe' ■<->
X 6 b 'Trennung'V>
Die horizontale Opposition in Zeile 1 erscheint wie der horizontale
Teil einer Viererkonstellation :
1 a jTrennung' f->- 'Bleiben'
$ X ^
Ib o
Die diagonale Konstellation in 9 erscheint wie der diagonale Teil einer
Viererkonstellation :
9 a -(->,'Idor
^ X ^
9 b 'Idol'
Die Paare und Teilpaare in den ZeUen 1, 2, 3, 4, 5, 6, 9 sind also ofifen-
sichtlich alle nach derselben Grundkonzeption komponiert. Die Kom¬
position der Zeilen 7 und 8 dagegen weicht deutlich von diesem Muster
ab: 1. die vertikale Wiederholung des Motivwortes 'Gesicht' in den bei¬
den Zeilen hat keine strukturelle Entsprechung im Gedicht ; 2. die Vierer¬
gruppe in 8a und 8b weicht von dem Muster der übrigen Zeilen ab;
nicht die diagonalen Wörter sind gleich, sondern die horizontalen. Auch
dafür findet sich keine Entsprechung im Gedicht :
7 a 'Gesicht'
7b 1-
8a 'Gesicht' 'Sonne' „ — y 'Sonne'
^Vt
8b 'Hyazinth''^—^ 'Hyazinth'
Vergleich
Für die Analyse wurden beide Versionen des Gedichts zu einer Folge
von neun Zeilen vereint. Dies erleichterte einen strukturellen Gesamt¬
überblick, implizierte aber in keiner Weise irgendwelche textkritischen
Aussagen. Es ist jetzt an der Zeit, beide Versionen gesondert zu be¬
trachten.
Wie wiederholt erwähnt, weicht das Kompositionsmuster der Motiv¬
wörter in den Zeilen 7 und 8 von den anderen Zeilen ab. Diese beiden
Zeilen sind von Safa gegeben. Folglich enthält die Version von Eth6
keinen Bruch des Musters. Die Gesamtstruktur dieser Version läßt sich
anschaulich anhand der Paanmgssymbole aufzeigen (Zeilenzählung nach
dem hypothetischen neun-Zeilen-Gedicht) :
1
2 X
3
<-y
4
*s
5
■<->•/
*x
6 +
Y
9 /
Diese Version weist eine nahezu vollkommene Symmetrie der Paa¬
rungsmuster auf: mit der Achse in Zeile 4 und den symmetrischen Ent¬
sprechungen in Zeile 3 und 5 (beide mit Viererkonstellation) sowie in
Zeile 2 und 6 (beide mit vertikaler Opposition). Die Zeilen 1 und 9
schließlich enthalten verschiedene Paarungen; doch erscheinen auch diese
beiden im sonst symmetrischen Zusammenhang dieser Version als sym¬
metrische Entsprechungen, da beide jeweils Halbteile einer Viererkon¬
stellation enthalten.
Demgegenüber ist die Version von Safa deutUch verschieden struk¬
turiert, wie das folgende Schema zeigt :
2 I
3
-<->
238 Gernot L. Windfuhb
4
5
7
8 8
'X*
'X^
/
Diese Version ist also nicht symmetrisch; die beiden Zeilen 7 und 8
stehen einen klaren Bruch des Musters dar und stehen zu keiner anderen
Zeile in struktureller Beziehung. Eine strukturelle Beziehung, wenn
auch keine symmetrische, besteht allerdings zwischen den Zeilen 2 und
9 (beide mit einem Halbteil der Viererkonstellation) und zwischen den
Zeilen 3, 4, 5. Genau diese Zeilen sind identisch mit ZeUen bei Eth6.
Die Strukturanalyse ermöglicht den folgenden Versuch, ihre Ergebnisse
einer Textliritik nutzbar zu machen :
Beide Versionen haben fünf Zeilen gemeinsam. Von den abweichenden
Zeilen sind die Zeilen 7 und 8 nur bei Safa gegeben, die Zeilen 1 imd
6 aber nicht. Wenn auch Zeile 6 bei Safa fehlt, so scheint sie doch nach
Eth6 auch von anderen QueUen belegt und kann demnach als wahr¬
scheinhch ursprünghch gelten. Also sind am besten bestätigt die Zeilen
2, 3, 4, 5, 6, 9, während die Zeilen 1 und 7—8 zweifelhaft bleiben.
Der Zweifel an der Echtheit der Zeilen 7 und 8 wird verstärkt durch
die Beobachtung, daß sie aufgrund ihres Musters im Gedichtzusammen¬
hang einen Bruch darsteUen. Dies ist nicht, wie oben gezeigt, der Fall
bei ZeUe 1. Dieser Tatbestand erlaubt die folgenden Rückschlüsse auf die
Echtheit dieser drei Zeilen :
Wenn die drei ZeUen 1,7,8 nachträgliche Ergänzungen sind, dann hat
der 'Verbesserer' in Zeile 1 das Grundmuster der Motivwörter wohl er¬
kannt, nicht aber der 'Verbesserer', der die ZeUen 7 und 8 hinzufügte
und gleichzeitig Zeüe 6 ausließ (wohl deswegen, weil der Inhalt dieser
ZeUe, das Wehklagen, ebenfalls durch ZeUe 7 wiederholt und somit
schheßhch ersetzt wird; vgl. die Übersetzung oben). Es muß hier aber
betont werden, daß ohne Kenntnis von Safas QueUen jeder Schluß vor¬
läufig bleiben muß.
Mangelnde Belege, Struktur ab weichung und Inhalt können somit mit
Vorbehalt als kumulative Evidenz für die Unechtheit der ZeUen 7 und 8
Textkritik
gewertet werden. Zeile 1 dagegen ist lediglich zweifelhaft aufgrund man¬
gelnder Belegung ; strukturmäßig wie inhaltlich aber ist sie ein integraler
Teil des Gedichts : in ihr werden die beiden Leitwörter der beiden ersten
Gruppen (die augenscheinlich echten Zeilen 1—6) horizontal gegenüber¬
gestellt. Folglich ist es nicht unmöghch, daß diese Zeile des Botxane tat¬
sächlich zum ursprünglichen Gedicht gehört, aber von der übrigen Über¬
Ueferung ausgelassen wurde. Diese Vermutung gewinnt an Wahrschein¬
hchkeit, wenn man annimmt, daß dieses Gedicht nur ein Teil, wohl das
Ende, einer längeren Qaside ist. Das Botxane würde also eine Zeile mehr
überliefern als die anderen Quellen^. Allerdings, so wie das Gedicht im
Botxane lautet, kann es nur als Ghazel aufgefaßt werden: die nur hier
überlieferte Zeüe 1 hat Reim der beiden Halbzeilen und ist somit formal
die für ein Ghazel obligate maetlae'-, die Eröifnungszeüe. Damit wäre die
Möglichkeit, im Gedicht das Ende einer Qaside zu sehen, ausgeschlossen.
Dafür aber erscheint das Vorhandensein einer Eröifnungszeüe ein starkes
formales Argument für ihre Echtheit, zusätzlich zu den genannten in¬
haltlichen und strukturmäßigen Argumenten. Wer trotzdem der Über¬
lieferung höheres Giewicht beimißt und diese Zeile als unecht ablehnt,
muß zugestehen, daß der 'Verbesserer', der sie hinzufügte, die gleiche
Perfektion der Technik hatte wie der Autor selbst. Mangelnde Über¬
lieferung steht also gegen starke formale und inhaltliche Evidenz, und
umgekehrt.
Nachbemerkung: Auf eine Erörterung der thematischen Struktur
und ihres Zusammenhanges mit der formalen Struktur wurde bewußt
verzichtet. Nur andeutungsweise soll darauf eingegangen werden. Bereits
die Beobachtung der Bedeutung der Motivwörter und ihrer Äquivalente
sowie deren Verteilung läßt eine kongruente thematische Grundstruktur
ahnen, die, ausgehend von der doppeldeutigen Antithese^^ in Zeüe 1:
„Trennung" — ,, Bleiben", über die Entwicklungs- und Verwicklungs¬
stufen der aufgezeigten ViererkonsteUationen schließlich endet in der
„Synthese" dieser beiden streitbaren Liebenden in Zeile 7: ,,Idol=
Buddha (-statue)" — ,, Brahmane"; die Antithese erscheint, nicht be¬
endet, sondern als thematischer Nukleus aufgehoben und zusammen¬
gefaßt im symmetrischen Mittelpunkt des Gedichts, in Zeüe 4, mit dem
humor voUen Symbol caeng ,, Haken (zur Führung eines Elefanten),
Klammer".
Die vorausgegangene Analyse hatte das Ziel, den Gründen für die tradi¬
tionelle Hochschätzung von Xosravanis Korhpositionstechnik nach¬
zugehen. Bereits die Ergebnisse dieser allein auf die VerteUung der Motiv¬
wörter beschränkten Untersuchung macht wahrscheinhch, daß unter
vgl. Ethä, loc. cit. Fußnote 8.
240 Gebnot L. Windfuhb, Wortmuster bei Xosravani
Icamel e saen'aet vae maetanaet mehr zu verstehen ist als ein oberflächliches
Urteil. Ethes Ubersetzung „vollkommene Solidität und Kunst" besagt an
sich gar nichts. Vielmehr scheinen mit den persischen Termini Struktur¬
muster gemeint zu sein, wie die gezeigten, d. h. Muster, die über die
einzelne Zeile hinaus das ganze Gedicht erfassen. Einzelkomponenten
dieser Muster wie horizontale, vertikale, oder diagonale Paarung sind
seit je aus den einheimischen Poetiken bekannt. Es scheint mir ein wich¬
tiges Ergebnis dieser Untersuchung zu sein, daß die Funktion solcher
bekannten Einzeltechniken nicht in der Isolierung der dazu meistens
zitierten EinzelzeUe, sondem im Zusammenhang des Gedichts erfaßt
werden kann und muß. Die Einzeltechniken erscheinen gleichsam wie
ein poetisches Alphabet, erst das Zusammenspiel der Techniken macht
das Wort und den Satz, d. h. die Zeile und das Gedicht, und scheidet
damit den poetischen Stümper vom Meister. Die sorgfältige Untersuchung
von Gredichtstrukturen kann also durchaus auch heute noch neue Er¬
kermtnisse über die Kirnst der klassischen Dichter bringen.
Als weiteres Ergebnis dieser Analyse sehe ich die Möglichkeit, ähnliche
Strukturuntersuchungen für die Textkritik nutzbar zu machen, als
gedicht-inhärentes Kriterium zusätzlich zu den bisher ausschließlich
geltenden äußeren Kriterien der Textüberlieferangl*.
1* Eine gewiegte Anwendung der Strukturanalyse auf die Textltritik gibt
Geobge E. Duckwobth, Structural Pattems and Proportions in Vergil's
Aeneid. A Study in Mathematical Com/position (Ann Arbor 1962).
Eminescu et rindianisme romantique
i HP Par Abion Rostt, Paris
i
La g6n6alogie et la vie de MraAiL Eminescu (1850—1889) ont 6t6
! sujet k controverse et ont aliment6 la legende. En verite, on a attribuö
' au plus grand po^te roumain les origines les plus diverses; le lieu et la
date de sa naissance restent toujours incertains; les circonstances et le
moment de sa mort sont encore sujet ä discussion*. L'histoire intel-
lectuelle de <d'attriste contemplateur de l'Hj^örion», presente eile aussi
des incertitudes, auxquelles se heurte l'exögfese 6minescienne^. Dans cet
ordre d'idees, qu'il nous soit permis de rouvrir le «dossier indien» du
po6te, dont les pieces seront reconsidörees cette fois-ci k la lumiere de
l'humanisme oriental et en tant que contribution ä I'histoire du pr6-
indianisme roumain'.
La recherche des sourees, qui a 6te toujours un sujet de pr6düection
des critiques, a suscitö de vives reactions de la part de certains sp6ciahstes.
C'est ainsi que G. CIlinescu a condamn6 les exag6rations qui ont fait
passer le poöte roumain le plus cultiv6 pour un «monstre d'6rudition*».
De meme, l'auteur d'une these röcente critique Tabus dont se sont
rendus coupables les «sourciers» passionn^s: «Eminescu est devenu un
Lonau roumain, un Heine, un Leopardi, un Schopenhauer, un Lamar¬
tine, et meme un Horace ou un Properce, sinon un Gottfried Keller
ou un Gaetano Cerri roumain ... Cette invitation k une moderation
1 G. CÄLINESCU, Viafalui Mihai Eminescu, Bucure^ti, 1964, p. 8, 37,42, 340.
* G. GÄiiiNESOU, Cultura lui M. Eminescu, Studii §i cercetäri de istorie
literarS, fi folclor, V (1956), 1—2, p. 244 (citö ci-dessous par le sigle SCILF).
' Sur le rapprochement de l'Inde de l'horizon culturel roumain, voir nos
articles: India in Rumanian culture, The Indo-Asian culture, january 1961,
p. 276—291; Sur les traces du Transylvain Martin Honigherger, midecin et
voyageur en Inde, Janus, L (1962), 3, p. 198—225; Constantin Georgian: le
Imdateur de Vindianisme roumain, ZDMG, 116 (1966), 1, p. 97—117. La
präsente etude s'ajoute ainsi comme ime nouvelle contribution h I'histoire
des influences de l'Inde dans la culture roumaine. Nous espörons achever
cette enquete par un dernier artiele relatif aux indianistes roumains con¬
temporains.
Nous remercions le professeur Rosa Del Conte (Rome) et la Bibliothöque
centrale universitaire «M. Eminescu» (Jassy) des informations et des doeuments communiques.
« G. CÄLiNEScu, op. cit., SCILF, V (1956), 1—2, p. 243—244.
^ A. Gtjillermou, La genese int&rieure des poesies d'Eminescu, Paris, 1963,
I P- 8.